2023: Aber was ist schon deutsche Politik?

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Medien und die Wirklichkeit: Über das toxische Jahr des schlechten Benehmens, des Tugendterrors und des Endes der Illusionen. Was war noch mal mit Rammstein? Es gibt Hoffnung, meint unser Autor.

Warum lohnt es sich, morgen aufzustehen? Weil es morgen ein bisschen besser ist als heute.

Markus Lanz

They say I did something bad/ But why's it feel so good?
Most fun I ever had/ And I'd do it over and over and over again if I could
...They never see it comin'/ What I do next
This is how the world works.

Taylor Swift

Dass das gerade vergangene 2023 das Jahr des schlechten Benehmens und des Endes der Illusionen werden würde, konnte man schon in den ersten Stunden ahnen: Unerzogene Neuköllner Jungs machten da in der sogenannten deutschen Hauptstadt, was sie so machen, wenn sie nicht gerade beim Onkel Döner schnippeln oder von Mama zu Hause eingesperrt werden: Sch...!

Sie schossen mit Feuerwerkkörpern auf Feuerwehr, mit Böllern auf Polizisten, steckten einen Bus in Brand, und knallten auch sonst voll rein. Die Rot-Rot-Grüne Berliner Landesregierung stritt sich stattdessen um autofreie Straßen und verweigerte die Bekanntgabe der Namen festgenommener Tatverdächtiger – letzteres machte natürlich alle erst recht auf die Namen neugierig, inklusive der CDU-Rathausfraktion.

Im Ergebnis dieser desorientierten RRG-Politik gewann Kai Wegner die aufgrund von Wahlpannen wiederholte Wahl, und als dann auch noch die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey gegen die Parteimehrheit auf eine Wiederauflage von Rot-Rot-Grün verzichtete (wohl im irrigen Kalkül, demnächst eh ins Kabinett Scholz zu wechseln), war Wegner plötzlich zum Regierenden Bürgermeister gewählt.

Verwechslung mit der Wirklichkeit

Im Nukleus zeigte sich hier fast alles, was in der deutschen Politik 2023 noch so schieflaufen sollte. Aber was ist schon deutsche Politik?

Es fällt als Deutscher schwer, von Deutschland abzusehen. Aber genau das müssen wir tun. Wir dürfen nicht in die Falle gehen, dass wir die deutschen Probleme, die absurden "Reichsbürger" und die absurde Bild-Zeitung, "Habecks Heizhammer" und das AfD-("Agenda für Deutschland")Papier der Friedrich-Merz-CDU und den ganzen anderen Schwachsinn, der medial täglich auf uns einprasselt, dass wir dies mit der Wirklichkeit verwechseln.

Nicht mit der Wirklichkeit im eigenen Land. Aber erst recht nicht mit der Wirklichkeit in der Welt. Den Fehler machten 2023, machen momentan viele Europäer: Sie glauben, dass sie und ihre Werte irgendjemanden in der Welt interessieren würden.

Dabei gibt es schon viele Europäer, die sich nicht besonders für die sogenannten europäischen Werte interessieren.

Was war noch mal mit Rammstein?

Von vielem blieb nichts übrig. Christine Lambrecht böllerte sich gleich zu Neujahr aus dem Verteidigungsministerium. "Niemals geht man so ganz", drohte das Stabsmusikkorps zum Zapfenstreich. Dafür kam Boris Pistorius als kerniger Struck-Replikant mit erkennbarem Stallgeruch und Kanzlertauglichkeit.

Annalena Baerbock bekam den Orden "wider den tierischen Ernst" – offenbar wegen der Kriegserklärung an Russland, Belehrungen für China, Versprechern, die witziger sind als Dieter Nuhr ("360-Grad-Wende"), und feministischer Außenpolitik.

Was war noch mal mit Rammstein? Und wie wichtig wäre das alles, wenn es denn wahr gewesen wäre, im Verhältnis zu Krieg und Klima.

Tugendterror: In der Bahn sprechen einzelne Zugführer neuerdings das "Binnen-I", als ob die steigenden Zugverspätungen nicht schon schlimm genug wären. Bahnchef Lutz posierte im Bordbistro zum "Veganuary" mit fleischloser Currywurst.

Das neue 9-Euro-Ticket kostet 40 Euro zu viel. Der Vorstand kassiert Millionenboni, das gilt auch für die dortigen "Frauen in Führung". Förderung geht der Bahn vor Personenbeförderung.

Die "Hauptperson in der Welt"

Dass ausgerechnet Taylor Swift am Ende dieses Jahres als erste Künstlerin unter lauter Politikern und Massenmördern vom Time Magazine zur "Person of the Year" gekürt werden sollte, macht vor diesem Hintergrund tieferen Sinn.

Swift ist nicht nur im kapitalistischen Sinn höchst erfolgreich, sie repräsentiert zugleich die bessere Seite der Mehrheitsgesellschaft, und damit die Universalien, die vor und über aller Diversität stehen: Sie ist weiß, sie ist straight, kein bisschen queer – und trotzdem nett zu LGTBQ. Sie ist fleißig und verdient Respekt. Das Girl von Nebenan.

In einem düsteren Jahr, so Time-Chefredakteur Sam Jacobs, sei Swift eine "Quelle des Lichts": "Niemand sonst auf diesem Planeten kann so viele Menschen bewegen." Die Sängerin könne Grenzen überschreiten, sei ein Symbol für Veränderung und gebe Hoffnung auf Möglichkeiten des Friedens:

Swifts Errungenschaften als Künstlerin – kulturell, kritisch und kommerziell – sind so zahlreich, dass es fast nebensächlich erscheint, sie aufzuzählen. Als Popstar befindet sie sich in bester Gesellschaft mit Elvis Presley, Michael Jackson und Madonna; als Songwriterin wurde sie mit Bob Dylan, Paul McCartney und Joni Mitchell verglichen.

Als Geschäftsfrau hat sie ein Imperium aufgebaut, das nach manchen Schätzungen über eine Milliarde Dollar wert ist. Und als Berühmtheit - die schon allein deshalb, weil sie eine Frau ist, für alles kritisch beäugt wird, von der Frage, mit wem sie ausgeht, bis hin zu dem, was sie trägt - hat sie seit Langem ständige Aufmerksamkeit auf sich gezogen und weiß diese zu nutzen. ...

Aber dieses Jahr hat sich etwas verändert. Über ihre Bewegungen zu sprechen, fühlte sich an wie eine Diskussion über Politik oder das Wetter – eine Sprache, die so weit verbreitet ist, dass sie keinen Kontext braucht. Sie wurde zur Hauptperson in der Welt.

Sam Jacobs

Wo gehobelt wird, da fallen Späne

Der Ausdruck "tabula rasa" kommt aus der römischen Antike: Gemeint war damit die Wachstafel, auf der die Menschen mit dem Stylus Notizen machten; jener Stylus, von dem übrigens der "Stil", den man Künstlern immer schon zuschrieb, und neuerdings auch Politikern und Konsumgütern.

Dieser Stylus hatte zwei Enden: eine Spitze zum Schreiben und ein spatenförmiges anderes Ende, das zum Glätten der Wachsfläche da war, um diese wieder neu beschreibbar zu machen und die Spuren des Alten zu tilgen. Das Ergebnis war jene "tabula rasa".

Die tabula rasa scheint Bedrohung zu sein und wird heute oft so gebraucht; aber sie ist auch Hoffnung. Es ist die Hoffnung auf einen radikalen Neuanfang. Sie gehört immanent zur Moderne. Natürlich: Wo gehobelt wird, da fallen Späne.

Aber ohne das Hobeln und das Spänefallen wird man kein Möbelstück bauen können. Das Paris, das wir heute lieben, wäre nicht das Paris ohne den Baron Haussmann und ohne Napoleon III., ohne die tabula rasa, die ihren Bauten vorausging.

Die Welt kann auf zweierlei Weise ein weißes Blatt sein: Als Hoffnungsort, als Projektionsfläche all der Entwürfe und Ideen und Utopien, die wir haben, oder als Inbegriff der Ratlosigkeit, als das Ende aller Tage.

So wie das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des Bauens und des Entwerfens war, der verwirklichten Pläne, auch da, wo sie utopisch waren, der Wohnmaschinen (bei de Corbusier, beim Bauhaus, in Brasilia und vielen anderen Entwürfen des sozialen Wohnens), der Politik-Maschinen von Lenin bis Mitterand, von Hitler bis Kohl, so wie die spitze Seite des Stylus in 20. Jahrhundert den Ton angab, so könnte es im 21. Jahrhundert das breite Ende werden.

Das Roden und Planieren, das Abfackeln, das Schleifen und das Sprengen: die ganze Welt ein Mariopol, zumindest in der Wahrnehmung.

Unworte des Jahres

"Kontextualisieren" war ein Unwort dieses Jahres. Ein zweites Unwort heißt "multidirektionale Erinnerung". Beide Worte verbinden sich in den Debatten über Orientalismus und Postkolonialismus.

Sie verwischen, zum Teil aus Naivität, zum Teil in politischer Absicht, also geplant und aus ideologischen Gründen, die Differenz zwischen Vergleichen und Gleichsetzen in geschichtspolitischer Absicht.

Geschichtspolitik wählt aus, verfolgt Absichten und Zwecke, sie arrangiert die Geschichte in volkspädagogischer Absicht. Sie präsentiert Bilder, die manchmal geschönt sind, manchmal absichtsvoll verunklart, manchmal gefärbt und manchmal entfärbt, manchmal gereinigt und manchmal verschmutzt. Das ist ihre Leistung.

Sie bietet eine Vergangenheit, die weniger widersprüchlich ist und die ihre Widersprüche absichtsvoll platziert hat, um aus dem Chaos der Wirklichkeit Botschaften herauszudestillieren. Geschichtspolitik funktioniert wie alte Historienbilder, wie Heiligenkalender und Zigaretten-Sammelalben.

Sie bietet schöne und erschreckende Beispiele und deutet sie. Sehr wohl erscheint die Vergangenheit hier manchmal auch in ihrer ganzen Unaufgeräumtheit.

Erinnerungskultur: Geschichte als Erlebnis

Die Erinnerungskultur der postmodernen Multioptionsgesellschaft möchte Geschichte als Erlebnis. Wo Geschichte zur Heilsgeschichte wird, wird sie zur Ideologie. Auch dann, wenn das Heil den Namen Demokratie trägt.

Die Naherinnerung verdränge die Fernererinnerung hat Karl Heinz Bohrer bereits vor über 20 Jahren geschrieben ("Erinnerungslosigkeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung"; in: "Ekstasen der Zeit", Hanser 2003). Im politischen Selbstverständnis einer Gegenwart, so Bohrer, werde das historische Erbe früherer Generationen umso bedeutungsloser, je weiter es zurückliege. So ist es.

So hat die Gegenwart bereits die Ära der bürgerlichen Revolutionen und die Moderne eines Kleist und Hegel vergessen; so vergisst sie mehr und mehr und gerade zurzeit sprunghaft mit dem Tod der letzten Zeitzeugen die Erinnerung an die Shoah.

So hat Deutschland den deutschen Sonderweg vergessen, der in die deutsche Katastrophe des 20. Jahrhunderts führte.

Von der "Mohrenstraße" zu "Kant als Rassist"

Bei Bohrer ging es auch darum, darauf hinzuweisen, dass das universalistisch aufklärerische Prinzip letztendlich ahistorisch sei. 20 Jahre später muss man ihn zumindest an diesem Punkt ein Stück weit korrigieren.

Denn je weiter die Begründung des universalistisch-aufklärerischen Prinzips, also das 18. Jahrhundert zurückliegt, umso näher kommt sie uns als historische Fernerinnerung, die wiederum zu vergegenwärtigen und zu aktualisieren ist, wenn auch als historische.

Die neue Naherinnerung der Deutschen und der europäischen hypermodernen Gegenwart ist dabei stärker ein ahistorisches Konstrukt, als es die Shoah je gewesen ist. Es ist die sogenannte postkoloniale Erinnerung, die in den letzten zwei, drei Jahren die Diskurse im Westen zu übernehmen begonnen hat. Auch in Ländern, die nie Kolonialmächte waren.

Was in Fragen der Debatten über Straßenumbenennungen ("Mohrenstraße") noch skurrile und eher folkloristische Seiten hat, die längst schon wieder vergessen wurden, wurde zu Debatten über die angeblich bisher verdrängten "Kolonialverbrechen" und über den Kolonialismus überhaupt, dessen historischer Charakter viel zu ambivalent ist, um ihn pauschal als "Verbrechen" zu denunzieren.

Und es wurde zu Debatte über den angeblichen Rassismus der Denker und Ideen, die die Moderne begründeten.

Alarmismus und Pessimismus

Die Überlappung und konvergente Gleichzeitigkeit der Krisen seit Anfang 2020 kann zu Alarmismus und Pessimismus führen. Eine eher kühle Bestandsaufnahme lieferte der Soziologe und Historiker Harald Welzer in "Zeitenende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr".

Welzer beschreibt noch vor dem 7. Oktober, wie sich "so ziemlich alle Perspektiven" auflösen, die politisches Denken und Handeln leiten und zu Optimismus Anlass boten. Welzer beschreibt unsere Unfähigkeit auf allen Ebenen, die Herausforderung wirklich anzunehmen. Er skizziert ein politisches "Leitbild für die freiheitliche Politik des 21. Jahrhunderts".

Krisen sind keineswegs nur Gefährdungen des Bestehenden und Vorhandenen. Sie sind auch die Möglichkeit eines Neuen.

Zukunftsvergessenheit

Zukunftsvergessenheit und Zukunftsvermeidung prägen unser Zeitalter. Die Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft ist mehr en vogue als die Gestaltung der Zukunft und des Neuen.

Schlagworte des vergangenen Jahres hießen darum "Neuer Kalter Krieg" und "Weimarer Verhältnisse" und "Rückkehr der Autokraten" – man sucht die Begriffe also in der Vergangenheit, obwohl sie Gegenwart und Zukunft beschreiben sollen.

Tatsächlich entpuppt sich hier das vor über 30 Jahren programmierte "Ende der Geschichte" als ein Ende der Zukunft beziehungsweise der Zukunftsentwürfe.