2023: Aber was ist schon deutsche Politik?
Seite 2: Man möchte das Steak essen, ohne die Kuh zu schlachten
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Daraus resultiert die Unentschiedenheit und Widersprüchlichkeit der Diskurse. Man möchte das Steak essen, ohne die Kuh zu schlachten, denn man will auch noch die Milch, aber grundsätzlich nur Bio und unter Berücksichtigung des Tierwohls etwas veganer leben.
An der Klimabewegung ist das perfekt zu beobachten, denn diese wabert in der Unentschiedenheit zwischen den eigenen Überzeugungen: Der, das ist eigentlich schon zu spät sei. Und der, dass noch irgendetwas zu machen ist. Apokalyptik und Aktionismus schließen einander aus.
Ein anderes Beispiel: Ist die Demokratie nun gefährdet, oder ist sie stark? Ist sie vielleicht schon am Ende oder ist sie alternativlos? Muss sie neu erfunden werden, um weiterzuexistieren oder ist ihre Neuerfindung eigentlich ihre Abschaffung?
Ist Demokratie ein Wert und die Lösung von Problemen, also absolut gesetzt, oder ein Verfahren zur Problemlösung, also etwas Relatives?
Der Selbsthass des Westens
Auch Postkolonialismus ist wie alle Identitätspolitik ein Entmenschlichungsnarrativ. Nichts belegt deutlicher die Krise des Westens als die "Narrative der Entmenschlichung" (Simon Sebag Montefiore), die im Zuge der Massaker vom 7. Oktober in eben jenem Westen verbreitet und von dessen Institutionen geduldet, wenn nicht gefördert wurden.
Es ist der Selbsthass des Westens, der sich hier Bahn bricht. Es gibt eine erstaunliche Bereitschaft zu historischen Konstruktionen, es gibt eine toxische Mischung aus offenen Lügen und Halbwahrheiten, die sich in den Erzählungen vom Kolonialismus besonders deutlich abbilden.
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Wie auch im Boom der Opferdiskurse und des Genozid-Begriffs, in dem alles mit allem verrührt wird, um es dann in schrecklicher Vereinfachung zu differenzieren, die die Welt in autoritäre Narrative aufteilt, in denen es nur Bösewichte oder Opfer gibt und nichts dazwischen, in denen Schwarz-Weiß gemalt wird, oder Rot-Grün (denn Schwarz-Weiß ist vermutlich eine rassistische Farbgebung).
All das ist Ausdruck der Krise des Selbstbewusstseins der Moderne.
Bilderkriege und der Durchbruch der TikTok-Demokratie
Der Visual Turn (Horst Bredekamp) materialisiert sich erst in den Zehner- und Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts: Aus politischen Protesten werden Bildproteste, aus Textzensur wird Bildzensur, aus Kriegen werden Bilderkriege.
2023 ist auch das Jahr des Durchbruchs der TikTok-Demokratie. Im vergangenen Jahr wurden die unzähligen Mitwirkungsmöglichkeiten der umstrittenen App endgültig als Demokratisierung verkauft und nicht als Brainwash und Ablenkung.
Die unablässigen Bildtransformationen und Bildgestaltungsmöglichkeiten der App wurden nicht mehr als Fake News entlarvt wurden, sondern als Mikropolitik, die den Einzelnen ermächtigt – zu was eigentlich?
Neulich fand sich in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung die kluge Randbemerkung der überaus klugen Autorin Nele Pollaschek, dass sich die Zunahme der Berichte über Waldbrände in den Nachrichtenmedien des Westens leichter belegen ließe als die Zunahme der Waldbrände.
Hätte sie diesen Satz in einem anderen Zusammenhang geschrieben, wäre sie als Leugnerin der Erderwärmung dargestellt werden.