Endlich Schluss mit EU-Wahlpropaganda: Welches Europa wollen wir wirklich?
Diese Frage soll nicht gestellt werden. Kritiker der realen EU-Verfasstheit werden daher als antieuropäisch bezeichnet. Dabei sind sie sehr divers. Ein Kommentar.
An diesem Sonntag enden die EU-Wahlen. Das ist erfreulich für das politische Klima in Deutschland. Denn in den vergangenen Wochen war rund um die EU-Wahl eine Dauerpropaganda zu hören und zu sehen, in der argumentative Auseinandersetzung durch Feindbestimmung und Ausgrenzung ersetzt wurde. So wurde in Kommentaren und auch in den Nachrichtenmeldungen von "antieuropäischen Parteien" gesprochen, die gestoppt werden müssten.
Damit war in Deutschland vornehmlich die AfD gemeint, aber auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Dass nicht auch Parteien links davon ins Visier gerieten, lag einfach daran, dass sie von den Meinungsmachern entweder als gezähmt oder als irrelevant angesehen werden.
Wo es in den EU-Staaten noch linke Parteien gab, die kritisch zur real existierenden EU stehen, wie die Bewegung La France Insoumise war man auch sehr freigiebig mit dem Etikett "antieuropäisch".
Antieuropäisch: Was heißt das überhaupt?
Nur: Was soll dieses Adjektiv eigentlich bedeuten? Bei der Beantwortung dieser Frage stellt sich der propagandistische Charakter der Klassifizierung gleich in mehrfacher Hinsicht heraus. Denn natürlich sind diese Bewegungen nicht gegen Europa. Sie haben sehr unterschiedliche Kritik an der gegenwärtigen Europäischen Union. Die ist aber ein Staatenblock auf dem europäischen Kontinent.
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Es ist tatsächlich ein demagogischer Trick, die EU mit Europa gleichzusetzen und im nächsten Schritt dann die Kritiker der real existierenden EU als antieuropäisch zu bezeichnen. Man stelle sich vor, eine Partei oder ein Parteienbündnis bezeichnet alle Kritiker der gegenwärtigen Bundesregierung als antideutsch. Das würde zu Recht als autoritäre Anmaßung begriffen und zurückgewiesen.
Zudem hat diese Beschuldigung eine klar nationalistische Konnotation, wenn Kritiker der aktuellen Regierung und des jeweiligen Staatsapparats praktisch zu Vaterlandsverrätern gestempelt werden. Genau das aber geschieht im EU-Wahlkampf, wenn Kritiker der Verfasstheit der gegenwärtigen EU mit dem Etikett antieuropäisch versehen werden.
Welches Europa wollen wir?
Mit solchen Charakterisierungen soll nur von der Frage abgelenkt werden, welches Europa wir eigentlich wollen. Hier ist es dieser weite Begriff bewusst gewählt. Und es darf schon gar nicht die Frage gestellt werden, ob die aktuelle Verfasstheit der EU womöglich zur Spaltung Europas beiträgt.
Dazu ist ein kurzer Exkurs zur Geschichte der EU nötig. Sie entstand als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, mit der sich einige westeuropäische Staaten bessere Ausgangspositionen im westlichen Block in Zeiten des Kalten Krieges verschaffen wollten.
Damals stand die westliche Welt unter der Hegemonie der USA. In Zeiten des Kalten Krieges wäre es vermessen gewesen, hätte sich der EWG-Zusammenschluss mit Europa gleichgesetzt. Doch nationalistische Kreise sprachen von der Lösung der deutschen Frage, das heißt, einer Wiedervereinigung, und hofften darüber auch wieder Macht und Einfluss in ganz Europa zu bekommen.
Deutschland und die EU: Ein Machtspiel
Aber erst nach dem Ende des nominellen Sozialismus in Osteuropa gewannen diese Pläne reale Chancen auf Umsetzung. So war es das wiedervereinigte Deutschland, dass sehr früh mit der Europa-Propaganda seinen Einfluss vor allem auf die osteuropäischen Länder ausdehnte.
Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland bestrebt, einen befreundeten osteuropäischen Hinterhof zu schaffen, der klar gegen Russland gerichtet sein sollte. Dabei konnte Deutschland auf alte Verbündete des deutschen Imperialismus zurückgreifen, die nicht selten auch zumindest zeitweise Verbündete von Nazi-Deutschland waren.
Für diese Allianz war es als großer Erfolg zu werten, als 2014 in der Ukraine die prodeutsche Fraktion die Macht übernahm. Hier liegt der Ursprung des Ukraine-Konflikts, der dann mit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine 2022 eskalierte.
Die Ukraine-Frage: Europa der Kooperation in weiter Ferne
Aber dieser Konflikt war spätestens seit 2014 vorprogrammiert. Und genau hier stellt sich die Frage, welches Europa es sein soll. Denn es wäre auch ein Bündnis mit einer blockfreien Ukraine denkbar gewesen, die Beziehungen sowohl zur EU als auch zu Russland unterhalten könnte. Das wäre die Grundlage für eine Kooperation innerhalb Europas gewesen.
Für die Hardliner in Russland wäre es dann nämlich nicht so einfach gewesen, einen Krieg gegen das kleinere Nachbarland vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen – dies geschah oft gerade mit Verweis auf die Nähe der Ukraine zur Nato und den Westen als eigentlichen Gegner, der Russland bedrohe.
Doch das lag nicht im Interesse der EU und vor allem nicht an Deutschland, das nach 1980 die führende Rolle in dem aggressiver werdenden Staatenblock spielte. Der Kampf um die Ukraine war nur ein Ausdruck dieser Konflikte zwischen der EU, die sich anmaßt, Europa zu sein, und der Nicht-EU-Welt.
EU-Geschichtsrevisionismus in Wahlkampf-Endphase
Kurz vor der Europawahl wurden die Zeremonien zum "D-Day", mit denen an die Landung alliierter Truppen in der Normandie im Kampf gegen Nazi-Deutschland erinnert werden sollte, für eine geschichtsrevisionistische Show genutzt. Denn vom Nachfolgestaat der Sowjetunion, die die Hauptlast im Kampf gegen Nazi-Deutschlands zu tragen hatten, war niemand eingeladen.
Das betraf nicht nur den russischen Präsidenten Putin – was verständlich gewesen wäre –, sondern auch die noch lebenden sowjetischen Veteranen. Dafür wurde die ukrainische Regierung eingeladen, die historisch für die prodeutsche Fraktion in der Ukraine steht, die vor 80 Jahren den D-Day gar nicht als Befreiung gesehen hat.
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Diese Fraktion stand bis zum Schuss im Bündnis mit NS-Deutschland und nicht wenige ihrer Funktionäre flohen mit den deutschen Truppen ins Nazireich vor der Roten Armee. Die hatte am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz erreicht und dafür gesorgt, dass die Shoah dort ein Ende fand. Teil dieser Roten Armee waren auch ukrainische Einheiten, die eine wichtige Rolle bei der Befreiung von Auschwitz und der Zerschlagung des deutschen Faschismus spielten.
Aber das waren gerade die Gegner der Fraktion, die seit 2014 die Macht in Kiew hat. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass Veteranen der Armee, die die größten Opfer im Kampf gegen die NS-Besetzung gebracht haben, beim D-Day-Jubiläum nicht eingeladen wurden, während die ukrainischen Vertreter aus einer politischen Tradition stammen, in der man gar nicht von der NS-Herrschaft bereit werden wollte.
Die EU ist nicht Europa: Spaltung und Wettrüsten
Aber dieser Geschichtsrevisionismus ist heute aktuelle EU-Politik. Stimmen, die sich dagegen wenden, bekommen schnell das Etikett "prorussisch" und "antieuropäisch" verpasst. Dabei könnte man auch fragen, ob antieuropäisch nicht diejenigen sind, die mit der Formierung eines aggressiven EU-Blocks wesentlich zur Spaltung auf dem europäischen Kontinent beitragen.
Es wird sich zeigen, ob nach der EU-Wahl eine grundsätzliche Debatte darüber möglich wird, welches Europa wir wollen. Wenn die Antwort ein Europa in den geografischen Grenzen des Kontinents ist, dann wäre die nächste Frage: Wie kann das Wettrüsten beendet werden, das eine gesamteuropäische Annäherung behindert?
EU: Von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft?
Und dann würde sich auch die Frage stellen, ob es überhaupt noch eine EU wie diese benötigt, die sich von der Europäischen Wirtschafts- zur vorgeblichen Wertegemeinschaft gemausert hat und sauer ist, dass sich die Werte der EU eben viele nicht überstülpen lassen.
Es ist schon vermessen, mit welcher Selbstverständlichkeit ein im Weltmaßstab kleiner Staatenbund meint, die Welt mit ihren teils zweifelhaften Werten beglücken zu können, zumal an dessen Außengrenzen in den vergangenen 20 Jahren nach Angaben von Pro Asyl Zehntausende Menschen gestorben sind. "Europäische Mauertote" nannte sie einst das "Zentrum für Politische Schönheit".
Eigentlich wäre die Aufgabe von linken Kräften, die materialistischen Grundlagen dieses Wertediskurses zu benennen. Doch nicht wenige Linke und Linksliberale wollen auf die EU und ihre Werte nichts kommen lassen. Sie werden nur bald die Erfahrung machen, dass der Rest der Welt höchstens darüber lacht.
Doch spätestens mit der zunehmenden Militarisierung der EU sollte der Spaß aufhören. Es wird Zeit, dass sich die gesellschaftliche Linke auf die linke EU-Kritik besinnt, die es noch vor 25 Jahren gab. Nach der EU-Wahl wäre es höchste Zeit dafür.
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