Journalisten in der Blase: Welchen Bezug zur Realität haben sie?

Foto vom Schriftzig "ARD Hauptstadtstudio" auf dem Gebäude in Berlin

Bild: Roman Babakin /Shuterstock.com

Fehlanzeige Europawahlen. Über politischen Journalismus aus Berlin und die Frustration der Bürger. Kommentar.

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Fehlfarben

"Wir wissen, dass die Ampel seit Wochen im Stimmungstief ist. Wie viel Quittung, wie viel Denkzettel bekommt die Ampel heute Abend?", fragte Jörg Schönbohm am vergangenen Sonntag der Europawahlen schon ein paar Minuten vor 18 Uhr in die Kamera.

Die ersten Prognosen waren noch gar nicht veröffentlicht, von Hochrechnungen zu schweigen, da war schon klar, worum es am Sonntagabend wirklich ging: nämlich nicht um Europa, sondern um die Ampel und das innenpolitische Klein-Klein.

Es ging um die kleinen Vorteile für Parteivorsitzende und bestimmte Parteiflügel, um die Landtagswahlen in drei Monaten, um das Hickhack innerhalb der Ampel, um Konsequenzen für bestimmte Politiker, nicht etwa aber für die Politik, um all diese augenblicklichen politischen Wasserstandsmeldungen, die kaum eine Woche lang vorhalten, geschweige denn für die fünf Jahre, für die am vergangenen Sonntag das Europäische Parlament gewählt wurde.

Und wenn doch mal über Europa, also genaugenommen die EU geredet wird, dann eigentlich nur darum, ob die Mehrheit für Wiederwahl von "Flinten-Uschi" von der Leyen reicht.

Die Bestellung des medialen Feldes für die kommenden Wochen

Damit ging es vor allem um die Bestellung des medialen Feldes für die kommenden Wochen. Wenn die Wähler sich – angeblich! – schon nicht für Europa interessieren, dann haben die Medien das nachzubeten, hier gefälligst zu gehorchen und Europa auszublenden. Nur um dann im Kommentar der Tagesthemen ein paar Krokodilstränen über das Desinteresse an Europa nachzuweinen.

Die öffentlich-rechtlichen Medien – und über die privaten und alternativen reden wir hier erst gar nicht, weil die keinen Programmauftrag haben –, diese öffentlich-rechtlichen Medien erwecken manchmal den Eindruck, als machten sie einfach, was sie wollen.

Als ginge es nicht um irgendeinen Gegenstand oder ein Thema, um seriöse Aufarbeitung und Tiefenanalyse, oder wenigstens um eine an Oberflächen kratzende Berichterstattung der Fakten, sondern um vorauseilende Bewertung, um Framing, um Einordnung und Verschiebung der Wahrnehmung, als ginge es darum, dem Publikum eine bestimmte Brille aufzusetzen, durch die Zuschauer auf die Ereignisse zu blicken haben.

Mängelanzeige eines treuen Zuschauers

Nein, das ist kein Lügenpressegelaber und Bashing der Mainstream-Medien, sondern die trauernde Mängelanzeige eines treuen Zuschauers.

Wir haben diese Sendungen ja auch gesehen, zum Teil mehrfach und in "dichter Beschreibung" (Clifford Geertz) quasi ethnologisch analysierend, weil man es erst gar nicht glauben mag, was hier passiert. Niemand glaubt, dass all dies absichtlich geschieht.

Hat die deutsche Politik ein Berlin-Problem?

Was sich hier stattdessen zeigt, sind zum einen blinde Flecken in der Wahrnehmung vieler Leute auf die Politik, die sich in den Personen der Journalisten nur einfach ebenfalls abbilden.

Was sich zum zweiten zeigt, das ist der bestimmte – und leider sehr verengte, gefärbte – Blick einer journalistischen Blase. Diese Blase hat eine sehr spezifische Ausbildung, entstammt und perpetuiert ein bestimmtes Milieu und hängt salopp gesagt immer miteinander herum, was die gegenseitigen Ansichten, die gemeinsame Themensetzung und so etwas wie den Korpsgeist der vierten Gewalt noch im Quadrat verstärkt.

Der Medienkritiker Lutz Hachmeister hat diese Resonanzräume und Filterblasen bereits 2007 in seinem Buch "Nervöse Zone. Politik und Journalismus" ausgezeichnet beschrieben. Es gebe Wortführer, die in ihrer eigenen Welt leben und denen es vor allem um steile Thesen und wechselnde Stimmungen geht:

Ein neuer Wohlstandsjournalismus ist entstanden, der zuförderst die Interessen der eigenen Klasse verteidigt.

Hachmeister legt dabei einen Gedanken nahe, den man 15 Jahre später unbedingt vertiefen muss: Ist all dies nicht auch (!) ein spezifisches Berliner Problem? Hat die deutsche Politik nicht ein Berlin-Problem?

Primat der Innenpolitik

Konkret erkennbar ist am Beispiel der Europa-Wahl-Berichterstattung zum einen die absolute Dominanz der Innenpolitik in den Medien und bei den politischen Berichterstattern der Leitmedien. Unbedingt gestellt werden muss aber die Frage, warum Europawahlen überhaupt von innenpolitischen Korrespondenten abgedeckt werden?

Hier müsste man vielmehr die außenpolitischen Berichterstatter oder Europa-Experten heranziehen. Hier könnte der Blick aus außereuropäischen Ländern herangezogen werden.

Wenn schon die Europawahlen in einem gewissen Sinn gar keine waren – weil man keine europäischen Parteien in ganz Europa wählen kann, sondern in den jeweiligen nationalen Grenzen die dort jeweils existierende nationalen Parteien nach einem national verschiedenen nationalen Wahlrecht wählen muss – muss man das dann nicht auch noch in der medialen Betrachtung spiegeln.

Während das ZDF dies etwas besser machte und mit dem Brüssel-Korrespondenten Urs Röller immerhin einen gut informierten, differenziert argumentierenden Berichterstatter hatte, interessierte sich die ARD eher für Ost-West-Differenzen und Bundesland-Spezifika.

Gleich zweimal dürfte deshalb die MDR-Landeskorrespondentin Marie-Kristin Landes ran, die zugegeben nicht nur gut analysieren kann.

Das Framen des BSW

"Framing" bedeutet aber nicht nur die thematischen Schwerpunkte und blinde Flecken, als das "Was" der Berichterstattung, sondern gleichermaßen das "Wie". Besonders deutlich wurden grundsätzliche Einseitigkeiten hier in der Berichterstattung über den Neuling unter den Parteien, das BSW.

Der Bericht über die Partei wurde in der ARD folgendermaßen anmoderiert:

Eine Partei, die aus dem Stand über fünf Prozent gekommen ist, ist das "Bündnis Sahra Wagenknecht". Das ist eine Partei, die sehr auf die Position der Vorsitzenden zugeschnitten ist.

Der Beitrags-Text verdoppelt dann diese Behauptung und würzt sie mit Wertungen:

Rockstar Wagenknecht – es sind diese Szenen, diese Sicht des BSW, die es rechtfertigen, dass diese Partei eine one woman Show ist. Und wohl auch erstmal bleibt. Wagenknechts Popularität macht den möglichen Erfolg bei der Europawahl aus, denn ansonsten ist da noch wenig. Erst vier Landesverbände gibt es, gerade mal 650 Mitglieder bundesweit – handverlesen.

Größter Streitpunkt: die Migrationspolitik. Wagenknecht spricht auch aktuell von "gescheiterter Integration" und sagt: "...dass unser Asylsystem nicht funktioniert, wo im Grunde jeder nach Deutschland kommt, der halbwegs den Begriff Asyl aussprechen kann..."

Wagenknechts außenpolitische Forderungen sind das Gegenteil der Ampel: keine Waffen für die Ukraine. Verhandlungen mit Putin. Die sie aber nicht näher erklärt.

ARD

Als ob die Ampel oder die mit ihr hier grundsätzlich konforme Union je erklärt hätte, was es bedeutet, den Krieg "nicht zu verlieren" oder "den Krieg zu gewinnen" oder "den Krieg nach Russland zu tragen".

ARD-Fazit: "Der Mix des Wagenknecht-Bündnisses aus links und konservativ, der scheint anzukommen."

Faires Interview mit Wagenknecht

Im anschließenden Interview bekam Wagenknecht immerhin Gelegenheit, ihre Positionen etwas klarer auszuführen: Auf die Frage, sie fordere ja den Stopp der Waffenlieferung an die Ukraine, sagte sie:

Naja, ich habe gesagt, man sollte Russland das Angebot machen, dass wir die Waffenlieferung stoppen, wenn es einen sofortigen Waffenstillstand gibt, wenn verhandelt wird.

Es gab in den letzten Wochen Signale aus dem Kreml, dass man zu einem Waffenstillstand, auch zu Verhandlungen bereit ist und vom Westen ist die einzige Antwort auf dieses Angebot, dass wir jetzt erlauben, dass mit diesen Waffen auch nach Russland geschossen werden kann.

Ich finde das ganz gefährlich, was sich zurzeit in der Ukraine abspielt und ich denke, viele Menschen machen sich Sorgen, dass der Krieg auch zu uns kommt.

Sahra Wagenknecht

Deutlich wurde in der Wahlanalyse der ARD, dass "Friedenssicherung" das zentrale Thema der BSW-Wähler ist, dass das BSW 410.000 Wähler von der Linken, 520.000 von der SPD, 240.000 von der Union, immerhin 210.000 von der FDP – was ein vergleichsweise hoher Wähleranteil ist – und 140.000 von der AfD abgezogen hat.

Hier muss man hinzufügen, dass die AfD gemessen an ihren Umfragen vor einigen Monaten ja weitaus schlechter abgeschnitten hat. Statt 20 bis 25 Prozent gab es nur gerade 16. Man müsste erst noch genau untersuchen, wo diese Wähler geblieben sind? Haben sie andere Parteien gewählt und wenn ja, warum – also vielleicht auch weil es das Angebot des BSW gab oder haben sie sich der Stimme enthalten und sind nicht zur Wahl gegangen?

Unbestritten ist auch in der ARD, dass die BSW-Stimmen "schwerpunktmäßig aus dem linken Lager" kommen. Und dass es eine ganz starke ostdeutsche Ballung der BSW-Wähler gibt: Im Osten ist das BSW zweistellig, im Westen unter 5 Prozent.

Noch einmal versuchte Ellen Ehni Wagenknecht ins rechte Lager zu stecken. Doch sie konterte höflich:

Ich würde es nicht so sehen, dass wir rechte Positionen haben.

Dass wir die unkontrollierte Migration nicht verkraften, weil sie unseren Wohnungsmarkt überfordert, unsere Schulen überfordert, Kitaplätze überfordert, das sehen ja ganz viele Menschen so. Es sind vor allem die ärmeren Menschen, die darunter leiden, denn in ihren Vierteln findet das ja statt. Da ist ja die Situation brisant – es ist ja nicht in den Villenvierteln oder in Berlin-Prenzlauer Berg.

Rechts ist das nicht. Wir haben bei diesem Wahlkampf das Problem, dass sich unsere Anhänger am wenigsten für die Europawahl interessiert haben. Da ist ein großes Potenzial und das können wir auch noch weiter ausbauen.

Sahra Wagenknecht

Später kam sogar noch BSW-Spitzenkandidat Fabio di Masi zu Wort:

Wir sind Europameister der Herzen; wir haben absolut die größten Zugewinne von allen Parteien verzeichnet, wir sind aus dem Stand direkt über die 5-Prozent-Hürde gesprungen. Wir haben ganz klar Rückenwind.

Fabio di Masi

Generation Volt bleibt unsichtbar

Auch "die Jugend" nimmt man im Fernsehen unter die Lupe. Die Stimmanteile der 16 bis 24-Jährigen wurden immerhin sogar in der Tagesschau brav referiert: 17 Prozent für die Union, 17 % für die AfD, nur 11 % für die Grünen, 9 für SPD, je 6 Prozent für die Linke, die 6 FDP und BSW. Und dann: 27 Prozent für die "Sonstigen". "Volt ragt darunter hervor" referierte Schönbohm auch.

Das führte nun aber keineswegs dazu, dass auch nur ein Vertreter von Volt auch nur eine Minute lang im Öffentlich-Rechtlichen zu Wort kam – während die Linke, die immerhin deutlich weniger Stimmen bekam, als Volt, sich mehrfach mit verschiedenen Vertretern zu ihrer Misere äußern durfte und erklären, wie man bald alles besser machen will, warum Deutschland die Linke mehr denn je braucht, und dergleichen.

Während es gleich beide Vorsitzenden der AfD im ersten Programm interviewt wurden – dagegen nicht beide Vorsitzenden der SPD –, beide Vorsitzenden der Grünen allerdings auch, gab es auch für die Freien Wähler oder für die Satire-Partei nicht ein einziges Interview. Wovor hat man Angst?

Das ZDF machte es etwas besser und wies immerhin Volt eigens in den Parteiengrafiken aus. Sie zeigen auch, dass Volt bei unter 30-jährigen Wählern +9 Prozent gewonnen hat, während die Grünen jeden fünften Wähler verloren.

Volt hat insofern bei allen sympathischen, sozialliberal-realistischen Inhalten auch den Charakter einer "Partei der reinen Lehre", einer folgenlosen Protestpartei – im Vergleich zu den Grünen, die einst ebenso wahrgenommen wurden, nun aber durch den politischen Alltag gewissermaßen moralisch kontaminiert werden.

Aber auch hier kein einziges Interview mit einem Vertreter oder Wähler von Volt, obwohl die Partei mehr Stimmen bekommen hat, als die Linkspartei und genau genommen der größte Gewinner der Europawahl ist.