Frankreich im politischen Tumult: Drei Blöcke kämpfen um die Macht

Marion Maréchal-Le Pen

Auch sie verspricht sich neue Macht-Bündnisse: Marion Maréchal-Le Pen, Nichte von Marine Le Pen, Chefin des Rassemblement National (RN). Foto: Gage Skidmore / CC BY-SA 2.0 deed

Nationalversammlung wird aufgelöst, Abgeordnete müssen ihre Sachen packen – das eingespielte System im Chaos. Wer gewinnt: Linke, Bürgerliche oder die Rechtsextremen?

Tierschützerinnen und Tierschützer aufgepasst: Emmanuel Macron will unbedingt einer "Ente den Hals umdrehen". Dies kündigte der französische Staatspräsident auch öffentlich an.

Rücktritt von Macron?

Bei näherem Hinsehen darf dann allerdings Entwarnung gegeben werden, denn das Tier entpuppt sich als Zeitungsente – den Ausdruck gibt es auch in Frankreich, und beim ersten Hinhören lässt sich dort die Zeitungsente sprachlich nicht von jener auf zwei Beinen unterscheiden.

Das papierne Geflügeltier, also die über Medien verbreitete Falschmeldung, welcher Macron den Garaus machen möchte, betrifft seine angeblichen Rücktrittsabsichten.

Zu Anfang der Woche zirkulierte kurzzeitig die Behauptung, im Falle eines für ihn negativen Ausgangs der von ihm für Ende Juni und Anfang Juli angesetzten Neuwahl zur Nationalversammlung, also dem Unterhaus des französischen Parlaments, drohe der Staatspräsident nun mit dem eigenen Rücktritt.

Diese Absicht hat Emmanuel Macron nun allerdings dementiert, es handele sich um totalen Unsinn. Niemals habe er dies vorgesehen. Der 46-Jährige will also der von ihm verfügten Auflösung der Nationalversammlung keinesfalls den eigenen Rückzug aus dem Amt folgen lassen.

Wirbel und Tumult in der politischen Landschaft

Negative Wahlperspektiven für Macrons Parteifreunde bei der anstehenden Parlamentswahl zeichnen sich tatsächlich ab. Sie könnten in der neuen Nationalversammlung sogar weitgehend verschwinden.

Würden bei den Parlamentswahlen am 30. Juni und 07. Juli identische Ergebnisse wie bei der jüngsten Europaparlamentswahl verzeichnet, dann stünden sich in der Stichwahl in 536 von landesweit insgesamt 577 Wahlkreisen eine Kandidatur der Linksparteien und eine der Rechtsextremen gegenüber.

Letztere schnitten bei der Europaparlamentswahl in Frankreich als mit Abstand stärkste Kraft ab. Mit insgesamt knapp 37 Prozent für die beiden wichtigsten Parteien dieses Lagers: 31,4 Prozent für den neofaschistischen Rassemblement national, RN, "Nationale Sammlung". Und 5,5 Prozent für die Kleinpartei Reconquête, "Rückeroberung", angeführt von Éric Zemmour.

In 93 Prozent der französischen Kommunen schnitt dabei der RN als stärkste einzelne politische Kraft ab – praktisch überall außer in den Großstädten. Insgesamt traten 38 Listen in Frankreich zur Europaparlamentswahl an, von denen jedoch dreißig wahlpolitisch bedeutungslos blieben.

Ließen sich diese Ergebnisse eins zu eins auf die Parlamentswahl übertragen, dann wären Macrons Wirtschaftsliberale, aber auch die bürgerlichen Konservativen der Partei Les Républicains (LR), weitgehend von parlamentarischer Vertretung in der Nationalversammlung ausgeschlossen.

Was in den Wahlen zählt: Eine kurze Regelkunde

Bei ihr gilt allerdings ein anderes Wahlrecht. Zum Europaparlament wird in Frankreich per Verhältniswahlrecht mit Fünf-Prozent-Hürde abgestimmt. Hingegen gilt bei Wahlen zur Nationalversammlung das Mehrheitswahlrecht.

Alle Bewerberinnen und Bewerber, die in der ersten Runde durch mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wurden – je nach Stimmbeteiligung kann das bis zu 25 Prozent der abgegebenen Stimmen erfordern – können in die Stichwahl einziehen. Jedenfalls, sofern sie nicht zugunsten einer besser platzierten Kandidatur zurückziehen.

Die Stichwahl wird also in der Regel unter zwei, drei, manchmal vier Kandidaten ausgetragen. Historisch standen sich dabei, bis vor dreißig Jahren, je ein im weiteren Sinne linker und rechter Block gegenüber, und im jeweiligen Wahlkreis gewann dann je die nach der ersten Runde bestplatzierte linke (Sozialdemokratie, KP oder Grüne) oder rechte Kraft.

Das eingespielte System ist mächtig durcheinander

Dieses eingespielte System geriert jedoch ab den 1990er-Jahren durch den wahlpolitischen Aufstieg der Neofaschisten, ihre Hauptpartei hieß damals noch Front National (FN) – deren Umbenennung in RN erfolgte 2018 –, mächtig durcheinander.

Derzeit stehen sich quasi überall nicht zwei, sondern drei mächtige Blöcke gegenüber: links im weiteren Sinne, bürgerlich, rechtsextrem.

Es genügt also für den Wahlsieg, gut ein Drittel der Stimmen in der Stichwahl zu bekommen – wo früher meist absolute Mehrheiten zustande kamen.

Derzeit werden dem rechtsextremen RN (ohne Verbündete) landesweit im Durchschnitt 31 Prozent prognostiziert. Dem Linksbündnis – zu Wochenanfang einigten sich Parti socialiste, Grüne, französische KP und die linkspopulistische Wahlplattform La France insoumise (LFI, "Das unbeugsame Frankreich") darauf, sich nicht gegenseitig durch Konkurrenzkandidaturen zu behindern – 28 Prozent. Und den Macron-Anhängern 18 Prozent.

Dies ergäbe zusammen 77 Prozent für die stärksten Blöcke. Dabei sind etwa die Konservativen nicht berücksichtigt.

Ginge die Wahl so aus, dann könnte der rechtsextreme RN regieren. Dies könnte auch Emmanuel Macrons Absicht gewesen sein, in dem Glauben, dann den RN anhand seiner wirtschaftspolitischen Inkompetenz vorführen zu können.

Eine neue tektonische Plattenverschiebung

Dieses innenpolitische Erdbeben hat nun eine neue tektonische Plattenverschiebung ausgelöst. Zu deren wichtigsten Begleiterscheinungen zählt die definitive Spaltung der stärksten konservativen Partei, Les Républicains (LR).

Diese wird zunehmend zwischen dem Macron-Lager und dem aufsteigenden RN zerrieben. Es verhält sich ungefähr so, als würde in Deutschland – wo die politischen Trends jedoch anders verlaufen – eine geschwächte CDU/CSU sich auf eine fünfmal stärkere AfD einerseits, eine Ampel-FDP andererseits aufteilen.

Ciotti: Parteichef der Konservativen schließt sich ein

Dieser Prozess trieb in den letzten 24 Stunden bemerkenswerte Blüten. Am gestrigen Mittwoch schloss sich zunächst der im Dezember 2022 gewählte Parteichef von LR, Eric Ciotti – der Abgeordnete von Nizza, dessen ideologische Nähe zur extremen Rechten seit Längerem kein Geheimnis war – am Parteisitz von LR im 15. Pariser Bezirk ein.

Gegen Mittag forderte er alle Parteiangestellten dazu auf, das Gebäude zu verlassen, und ließ dieses von innen verriegeln. In französischen Medien wurde dies mitunter mit der im Lande sehr bekannten Episode der Belagerung von "Fort Chabrol" verglichen.

Damals, im Jahr 1899, schloss sich ein nationalistischer Verschwörungsideologe für fünf Wochen zusammen mit Anhängern in seinem durch die Polizei umstellten Parteisitz in der Nähe des Pariser Ostbahnhofs ein. Nach 38-tägiger Belagerung ergaben sich die Eingeschlossenen dann.

Dadurch wollte Ciotti eine für gestern um 15 Uhr geplante Vorstandssitzung, bei der seine zuvor getätigten Ankündigungen konterkariert werden sollten, verhindern. Die werten Parteifreunde hatten am Dienstag aus den Medien erfahren, dass Ciotti ein Bündnis mit dem rechtsextremen RN bei der bevorstehenden Wahl verkündete.

Die Vorstandsmitglieder versammelten dann jedoch, statt im Parteigebäude, in einem nahe liegenden Museum. Vor laufenden Kameras verkündeten sie im Laufe des Nachmittags, einstimmig habe man den Ausschluss Ciottis entschieden.

Am Abend gelang ihnen das Eindringen in das Parteigebäude, dessen Schlösser ausgetauscht wurden. Das Konto der LR-Leitung bei X (früher Twitter) wurde gesperrt. Nun soll möglicherweise ein Wachdienst aufgestellt werden, um Ciotti den Zugang zu den Räumlichkeiten zu verwehren.

Es bleibt jedoch abzuwarten, wie viele LR-Kandidaten, dabei der Linie Ciottis folgend, mit Unterstützung des rechtsextremen RN aufgestellt werden oder aber ihre Kandidatur zugunsten von besser platzierten Rechtsextremen zurückziehen – und wie viele der offiziellen Position "Bündnis weder in der Mitte noch rechtsaußen" treu bleiben.

Der Block der Linken

Auch die Linke debattiert heftig. Zwar wurde ein Abkommen zwischen allen wahlpolitisch relevanten Parteien links von Emmanuel Macron auf gegenseitige Nichtbehinderung bei den Parlamentswahlen getroffen.

Jedoch darf dieser Block kaum als kohärent oder gar homogen betrachtet werden. Zwischen den Positionen der Linkspopulisten von LFI – die ihrerseits zwischen ihrem sich faktisch autoritär gebärdenden Chef Jean-Luc Mélenchon und einer jüngeren Garde rund um François Ruffin, Alexis Corbière, Raquel Garrido u.a. gespalten sind – und denen der seit ihrem Abschneiden bei der Europaparlamentswahl mit 13 Prozent gestärkten Sozialdemokraten und Linksliberalen unter Raphäel Glucksmann klaffen tiefe Gräben.

Dabei geht es um die Fragen der Akzeptanz neoliberaler Wirtschaftspolitik oder des Bruchs mit ihr, aber auch um teilweise heikle außenpolitische Positionierungen des Mélenchon-Flügels der Linkspopulisten, etwa ihre oft undifferenziert erscheinenden Positionen zum Gaza-Konflikt.

Ein Wahlbündnis macht da noch keine gemeinsame Programmatik der Linksparteien aus. Ihre politischen Gegner werden in den kommenden Wochen an diese tiefen Differenzen erinnern.