23,4 Grad! Hitzealarm in Nordostgrönland – und dann verliert auch noch der Golfstrom an Kraft

An Hotspots des Klimawandels kann man die Eisschmelze sehen, hören – und sogar riechen, sagen Expeditionsteilnehmer. Foto: 422737 auf Pixabay (Public Domain)

Nicht nur am Mittelmeer und in Mitteleuropa ist das Wetter derzeit aus dem Takt, sondern auch rings um den Nordpol

Neuer Temperaturrekord in Nordostgrönland: Am Flugfeld Nerlerit Inaat wurden jetzt 23,4 Grad Celsius gemessen, der höchste Wert seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Hier, wo der Grönländische Eisschild Richtung Westen auf bis zu 2.500 Meter ansteigt, klettert das Thermometer eigentlich fast nie über null Grad Celsius. Eine neue Rekord-Eisschmelze ist die Folge: Geht das so weiter, steigt der weltweite Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts allein durch das große Tauen auf Grönland um mindestens 18 Zentimeter an - 60 Prozent schneller als die Wissenschaft prognostizierte.

18 Zentimeter? Bei nicht Eingeweihten verursacht diese Höhenangabe vermutlich Schulterzucken. Das Fatale an dem Vorgang aber ist: Das Eis schmilzt aus der Höhe nach unten. Jeder, der in die Berge wandern geht, packt sich einen warmen Pullover ein, weil es oben auf der Spitze kühler ist als im Tal. Das bedeutet: Der Grönländische Eisschild schmilzt vom kalten "Oben" nach unten ab in immer wärmere Schichten, ein so genanntes Kippelement im Klimasystem Einmal angeschoben, kann das Schmelzen nie wieder aufgehalten werden. (Es sei denn eine neue Eiszeit würde Hamburg, Magdeburg und Berlin mit einem kilometerdicken Eispanzer niederwalzen, was jetzt auch keine so begehrenswerte Aussicht ist).

Schmilzt das Grönland-Eis vollständig, steigt der weltweite Meeresspiegel um bis zu sieben Meter - und es gibt keine Chance für Emden, Bremen, Rostock oder Lübeck sich dagegen zu schützen! Allerdings wird dieser Vorgang ein paar Jahrhunderte dauern.

"Jüngste Studien zeigen: Im Jahr 2019 betrug die jährliche Eisschmelze allein auf Grönland rund 600 Kubikkilometer", erklärt Boris Koch, chemischer Ozeanograph am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Koch hat als einer von wenigen Experten einen exklusiven Einblick in das große Schmelzen. 2016 reiste er mit dem Expeditionsschiff Maria S. Merian an die Ostküste Grönlands. Um das Tauen zu bemerken, waren keine sensiblen Messgeräte, keine aufwendigen Experimente notwendig. "Wir konnten die Gletscherschmelze sehen, hören, ja sogar riechen", sagt Koch.

Die tauenden Eisberge knackten

Über die Fjordwände seien Flüsse voller Schmelzwasser ins Tal gerauscht, die tauenden Eisberge knackten, und an manchen Stellen im Fjord war der typische Meeresgeruch verschwunden. Schmelzwasser ist Süßwasser. 600 Kubikkilometer verlorenes Eis in einem Jahr: Koch zeigt mit einem anschaulichen Vergleich, wie gigantisch diese Menge ist: "Wenn Sie von Hamburg nach München fahren - Luftlinie rund 600 Kilometer - und sich einen Eisblock vorstellen, der auf dieser Strecke 100 Meter breit ist, so lang wie ein Fußballfeld, dann wäre dieser Block zehn Kilometer hoch." So hoch, wie Flugzeuge fliegen. Und was auf Grönland verschwindet, schwappt irgendwann auch an unsere Küsten.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Detail simuliert, was steigende Meeresspiegel für einzelne Regionen bedeuten. Die US-Organisation Climate Central hat sich darauf spezialisiert, Forschungserkenntnisse allgemein verständlich aufzubereiten. Sie hat eine Vielzahl von Daten und Modellergebnissen zum Meeresspiegel zusammengetragen; auf ihrer Website kann man sich zum Beispiel die deutsche Nord- und Ostseeküste im Jahr 2050 anschauen, flutgefährdete Gebiete sind dort rot markiert: die Perlenkette der ostfriesischen Inseln, Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog, Wangerooge, Mellum – fast komplett rot.

Von Überflutung bedroht sind dann aber auch Siedlungen bis weit ins Binnenland – bis Papenburg, Aurich, Oldenburg und Itzehoe, die Weser hinauf bis Bremen oder die Elbe bis hinter Hamburg fast nach Lüneburg. Der Prozess des Abschmelzens könnte jetzt eskalieren, schreiben Forscher in der Fachzeitschrift PNAS. Sie sprechen von "beunruhigenden Frühwarnsignalen". Sie hätten aber auch die Temperatur in Nordostgrönland anführen können. 23,4 Grad Celsius: Das ist wärmer als derzeit in vielen Teilen Deutschlands.

Der Golfstrom verliert an Kraft

Natürlich bleibt ein solches Schmelzen nicht ohne Auswirkungen auf andere Systeme im Weltklima. Zum Beispiel auf die Ozeanzirkulation im Atlantik, zu der auch der Golfstrom gehört: Eine neue Studie kommt zu dem Schluss, dass diese wissenschaftlich als Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) bezeichnete Strömung im vergangenen Jahrhundert an Stabilität verloren hat und nun vor einem entscheidenden Kipppunkt stehen könnte.

Angetrieben wird das System durch Winde, durch die Sonne, die Erdrotation, vor allem aber durch kaltes, salziges Wasser, was in der Labradorsee und dem arktischen Ozean in die Tiefe fällt. Auf dem Weg Richtung Europa steigt der Salzgehalt, weil die Sonne ständig Wasser verdunstet, zudem kühlt sich der Strom ab, je weiter seine Reise führt. Dadurch steigt die Dichte des Wassers, es wird schwerer, sinkt in die Tiefe und zieht so aus dem Süden warmes Wasser nach. Allerdings ist es Süßwasser, das auf Grönland schmilzt, weshalb der Salzgehalt im Arktischen Ozean abnimmt - eine mögliche Erklärung für die abnehmende Kraft des Golfstromes.

"Für das Phänomen ist wahrscheinlich eine Reihe von Faktoren von Bedeutung, die zu den direkten Auswirkungen der Erwärmung des Atlantiks auf seine Zirkulation hinzukommen", erklärt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), das federführend bei der Studie war. Dazu gehöre der Süßwasserzufluss durch das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds, so die Autoren.

"Wenn wir die globale Erwärmung auch künftig vorantreiben, wird sich das Golfstrom-System weiter abschwächen - um 34 bis 45 Prozent bis 2100, gemäß der neuesten Generation von Klimamodellen", sagt Stefan Rahmstorf, Forscher am PIK und Professor für das Fach Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Das könnte die Menschheit gefährlich nahe an den Kipppunkt bringen, an dem die Strömung instabil wird: Der Golfstrom gilt als eines jener Systeme im weltweiten Wetter, das ab einer bestimmten Erderwärmung zu kollabieren droht.

Mit weitreichenden Folgen: Ohne den Wärmetransport des Golfstroms aus der Karibik wäre Landwirtschaft in Schottland, in Irland, in Skandinavien kaum möglich, es käme zu ganz anderen Temperaturen. Kälteeinbrüche würden in Deutschland zur Normalität, der Meeresspiegel würde speziell in Nordamerika steigen, andere Meeresströmungen kämen als Folge auch aus dem Takt, viele Ökosysteme würden zerstört, weil etwa nahrungsreiches Wasser nicht mehr nachströmt. Zu gut deutsch: Die ganze Welt gerät durcheinander. Studienleiter Niklas Boers vom PIK: "Ich hätte nicht erwartet, dass die zusätzlichen Mengen an Süßwasser, die im Laufe des letzten Jahrhunderts in den Ozean flossen, bereits eine solche Reaktion der AMOC hervorrufen würden."

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