ADHS-Diagnosen explodieren: 8 überraschende Gründe für den Anstieg

Illustration von einem Kopf mit vielen Zickzacklinien darin

(Bild: Inna Kot/Shutterstock.com)

Immer mehr Menschen erhalten die Diagnose ADHS, in Schweden stieg die Rate bei Kindern seit 2019 um 50 Prozent. Woher kommt der Anstieg? Ein Gastbeitrag.

Lange Zeit wurde angenommen, dass zwischen 5 und 6 % der Kinder an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) leiden. In der Praxis sind die Raten jedoch häufig höher. Die US-amerikanischen Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention schätzten die Prävalenz bei Kindern auf 11,4 Prozent.

Die schwedische Gesundheits- und Sozialbehörde berichtet, dass im Jahr 2022 10,5 Prozent der Jungen und 6 Prozent der Mädchen mit ADHS diagnostiziert werden, das sind 50 Prozent mehr als im Jahr 2019. Die Behörde prognostiziert, dass die Raten schließlich bei 15 Prozent für Jungen und 11 Prozent für Mädchen stagnieren werden.

Was könnten die Gründe für diesen erstaunlichen Anstieg sein? Hier sind acht mögliche Ursachen, von denen sich viele überschneiden und interagieren.

1. Mehrfachdiagnosen bei einer Person

Früher wurden Ärzte durch Diagnosehandbücher dazu angehalten und darin geschult, die Diagnosen bei einer Person auf die auffälligste zu beschränken und bestimmte Kombinationen von Diagnosen überhaupt nicht zu stellen – zum Beispiel Autismus und ADHS.

Heute ist es in der psychosozialen Versorgung gängige Praxis und wird empfohlen, so viele Diagnosen wie nötig zu stellen, um die Symptome und Herausforderungen einer Person angemessen zu beschreiben und abzudecken.

2. Mehr Wissen und Bewusstsein bei Fachkräften

Heute gibt es eine neue Generation von Fachkräften, die in Diensten mit einem größeren Bewusstsein und Wissen über ADHS arbeiten.

Dies hat zu einer früheren Erkennung und Diagnose von ADHS bei Gruppen geführt, die früher vernachlässigt wurden, insbesondere bei Mädchen und Frauen, aber auch bei Erwachsenen im Allgemeinen.

3. Weniger Stigmatisierung

In vielen Gesellschaften ist ADHS weit weniger stigmatisiert als früher.

Ärzte haben weniger Bedenken, die Diagnose zu stellen, und die Betroffenen fühlen sich weniger stigmatisiert. Für immer mehr Menschen hat ADHS weniger negative Konnotationen und wird zu einem natürlichen Teil ihrer Identität.

4. Die moderne Gesellschaft stellt höhere Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten

ADHS ist keine Krankheit, sondern eine Fehlfunktion kognitiver Merkmale, die auch in der Allgemeinbevölkerung auf funktionaleren Ebenen vorhanden sind, wie "Aufmerksamkeitssteuerung" (Konzentration), Organisations- und Selbstregulationsfähigkeit. Moderne Gesellschaften sind schnelllebig und komplex und stellen hohe Anforderungen an diese kognitiven Fähigkeiten.

Menschen mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten in diesen Schlüsselbereichen beginnen, mit den Anforderungen des Alltags zu kämpfen und können eine ADHS-Diagnose erhalten.

5. Höhere Erwartungen an Gesundheit und Leistungsfähigkeit

Die Erwartungen der Menschen an ihre eigene Gesundheit und Leistungsfähigkeit sowie an die anderer steigen. Die sogenannte "soziale Basislinie" der durchschnittlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit ist heute höher.

Dies kann dazu führen, dass Menschen sich früher und häufiger Sorgen über ihre eigene und die Leistungsfähigkeit anderer machen und vermuten, dass ADHS eine Erklärung dafür sein könnte.

6. Veränderungen in den Schulen haben dazu geführt, dass mehr Schüler Probleme haben

In den Schulen hat sich die Art und Weise, wie unterrichtet wird, stark verändert, z. B. durch die Digitalisierung und die Einführung von mehr projekt- und gruppenbasiertem Lernen und viel mehr selbstgesteuertem Unterricht.

Diese Veränderungen haben zu einer weniger klaren Lernumgebung geführt, einschließlich erhöhter Anforderungen an die Motivation und die kognitiven Fähigkeiten der Schüler, Faktoren, die es Schülern mit nur wenigen ADHS-Merkmalen erschweren können, erfolgreich zu sein. Dies hat auch dazu geführt, dass Schulen mehr Schüler mit Verdacht auf ADHS zur Beurteilung überweisen.

7. Entscheidungsträger räumen der Diagnostik Priorität ein

In vielen Ländern haben die politischen Entscheidungsträger versucht, auf die steigenden Diagnoseraten zu reagieren, indem sie die diagnostischen Abklärungen zugänglicher gemacht haben, um die Wartezeiten auf eine Diagnose zu verkürzen.

Dies ist zwar verständlich, führt jedoch dazu, dass mehr Diagnosen gestellt werden, anstatt sich darauf zu konzentrieren, Diagnosen zu vermeiden, z. B. durch die Verbesserung der pädagogischen Methoden für Kinder, die Verbesserung der Arbeitsplätze, um sie neurodivergenten-freundlicher zu gestalten, und die Bereitstellung von Unterstützung ohne die Voraussetzung einer Diagnose.

8. Diagnose garantiert Zugang zu Unterstützung und Ressourcen

In den meisten Gesellschaften sind die Dienste so organisiert, dass nur eine klinische Diagnose den Zugang zu Unterstützung und Ressourcen garantiert. Oft ist dies die einzige Möglichkeit für Menschen und ihre Familien, Unterstützung zu erhalten.

Im Allgemeinen wird wenig für Menschen ohne Diagnose getan, da die Leistungserbringer nicht bezahlt werden und daher weniger verpflichtet sind zu handeln. Menschen, die Unterstützung benötigen, sind daher eher bereit, aktiv nach einer Diagnose zu suchen.

Und Fachleute sind eher geneigt, ihnen mit einer Diagnose zu helfen, selbst wenn die Person die Diagnosekriterien für ADHS nicht vollständig erfüllt - ein Phänomen, das als "diagnostisches Upgrading" bezeichnet wird.

Sven Bölte ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie beim schwedischen Karolinska Institutet.

Dieser Text erschien zuerst auf The Conversation auf Englisch und unterliegt einer Creative-Commons-Lizenz.