"Adolescence": Wie tickt die Gesellschaft, in der Incel-Boys zu Mördern werden?

Owen Cooper und Stephen Graham in „Adolescence“ © Netflix

Die britische Netflix-Serie wurde schnell zum Hit. Sie erzählt vom Zerfall der Demokratie, von Unverständnis, Männlichkeit, Elternschaft und der Erosion von Institutionen.

Wir haben das Video, wir wissen was er tat. Aber wir werden nie wissen, warum. Nicht mal nach allem was wir sahen.

Die ermittelnde Polizistin in "Adolescence"

Es geht los mit dem Einsatz einer Polizeieinheit. Sie stürmt ein britisches Vorstadt-Reihenhaus auf vollkommen übertriebene Weise, aber diese Übertreibung ist realistisch und diese Übertreibung wird genüsslich inszeniert.

Der zu verhaftende Verdächtige wird sofort gefunden, es handelt sich um ein dreizehnjähriges Kind im Schlafanzug, einen Jungen namens Jamie (Owen Cooper). Der Junge ist geschockt und verängstigt, wie alle hier, und der Gesamteindruck ist der eines vollkommen krassen und eigentlich auch unberechtigten Einbruch in eine Familie.

Egal, was man dem Kind vorwirft: Es geht um ein Kind und auch um seine Familie. Man hätte das alles auch anders und rücksichtvoller machen, man hätte den Jungen auch anders verhaften können.

Hier tritt der Staat auf wie ein Feind. Autoritär und undemokratisch. Kein Wunder, dass Staatsfeindschaft entsteht, wo der Staat so agiert.

Abschied von der Kindheit

Dann folgt die lange Autofahrt von Jamie im Polizeiwagen zum Revier, dabei sehen wir ihn, seinen und unseren Blick auf die Vorstadtsiedlung, in der er wohnt – es ist klar: Es wird nie mehr so sein, wie es war. Das Ende der Kindheit. Jamie erlebt den Abschied vom eigenen Ich und von seiner Jugend.

Diese Fahrt dauert minutenlang. Dazu hört man immer lauter werdende, schicksalsschwer dräuende, irgendwie getragene gesetzte Musik aus dem Off, die Bedeutung des Augenblicks suggerierend. Gravitas. Man denkt an Michael Mann.

Der Polizist (Ashley Walters), der die Festnahme und anschließenden Ermittlungen leitet, hat Sympathien für ihn, und wir erleben mit den Augen eines 13-Jährigen den institutionellen Prozess der Ingewahrsamnahme mit allen Einzelheiten: "Vollständiger Name? Willst du Frühstück?" Eine Blutprobe wird entnommen, eine Leibesvisitation gemacht, und wir erleben hautnahe die Entmenschlichung, die darin liegt, die eigene Kleidung abzugeben, fremde Kleidung anzuziehen.

Alles hier ist in jeder Hinsicht sehr gut erzählt, eben mit Bildern, vieles ganz beiläufig, etwa wenn der gesetzliche Verteidiger im Revier ankommt und der dann einfach nur zur Polizei sagt: "The usual room?" und sie ihn schon kennen – daraus wird klar, dass es für den Mann eine totale Routine ist, ein 08/15 Auftrag.

Die Kamera ist von Anfang an den jeweiligen Figuren ganz nahe, sie ist bewegt, sie ist intensiv. Es gibt wenig Schnitte, sondern lange Einstellungen, und Szenenwechsel durch Rissschwenks. Man kann dann nachlesen, dass es gar keine sichtbaren Schnitte sind, aber so etwas sieht man als Beobachter nicht sofort, wenn man auf die Handlung achtet.

"Adolescence" im britischen Unterhaus

"Adolescence" macht Furore. Am 13. März gestartet, ist diese Netflix-Serie (Regie: Philip Barantini) im Nu zum Hit geworden. Vor zwei Tagen wurde die Marke von weltweit 100 Millionen Abrufen geknackt, sie wurde also von jedem dritten Netflix-Abonnenten gesehen. Und ein Ende des Hypes ist nicht in Sicht.

Dies ohne Frage auch dank des britischen Premierministers Keir Starmer, der sich sogar im britischen Unterhaus auf "Adolescence" bezog. Die Serie mit seinen Teenagerkindern zu sehen, habe die Familie hart getroffen, behauptete Starmer.

Der britische Regierungschef ist Jurist und war früher Chef der Anklagebehörde Crown Prosecution Service – dort habe er gesehen, welche verheerenden Folgen Frauenhass und Gewalt hinterließen, hieß es in der Mitteilung der Downing Street 10.

Die britische Produktion hat vier Teile und eine Gesamtlaufzeit von 3 Stunden und 50 Minuten. Die Handlung nach Jamies Verhaftung dreht sich zunächst in der ersten Folge ganz um die Polizeiarbeit und die Vorwürfe gegen den zart und unschuldig wirkenden Jungen.

Er soll seine gleichaltrige Mitschülerin Katie in der Nacht zuvor mit mehreren Messerstichen ermordet haben. Schon früh in dieser Folge ist fast zweifelsfrei klar, dass Jamie dies wirklich getan hat. Auch wenn er es erst einmal lange leugnet. Oder ausblendet und von sich abspaltet.

"Dad, Du schnallst es einfach nicht"

Es geht also um etwas anderes: Um das Motiv, um das Umfeld, um die Lage von Menschen und besonders von Jugendlichen im heruntergekommenen westeuropäischen Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts.

Um die Beziehungen von Erwachsenen und ihren Kindern, um fehlende oder regredierte Gespräche zwischen Eltern und Kindern

Es geht auch um Smartphones und soziale Medien, vor allem um Instagram und die geheimen Codes für Respekt und Verachtung unter Jugendlichen. In einer der tollsten Szenen der Serie gibt es in der zweiten Folge einen Dialog zwischen dem ermittelnden Polizisten und seinem Sohn, der die gleiche Schule besucht wie die Ermordete und ihr Mörder:

"Du schnallst es einfach nicht", sagt der Sohn zum Vater: "Du kannst nicht deuten, was sie tun, was da passiert."
"Wovon redest du?"
"Insta."
"Du warst auf Insta? Du hast gesehen, was sie schrieb?"
"Das Dynamit emoji. Was bedeutet das wohl?"
"Keine Ahnung."
"Eine explodierende rote Pille. Blau heißt, du siehst die Welt wie..."
"Das ist aus Matrix ... hast du Matrix geguckt?"
"Was?"
"Egal."

Beide reden komplett aneinander vorbei, der Vater kennt die Bedeutung der Emojis nicht, aber auch für den Sohn ist der Film "Matrix" offenbar ein Stück aus der Geschichte der Steinzeit.

Dann erklärt der Sohn weiter, für den Vater ist das so kryptisch wie Chinesisch:

"Rote Pille heißt: ich sehe die Wahrheit. Die Manosphere ruft zum Handeln auf."
"Manosphere?"
"Da kommt die 100 ins Spiel. Die 80/20 Regel."
"Adam hör zu. ich kann dir nicht folgen. Was redest du da? Erkläre es mir genauer."
"80 Prozent der Frauen finden nur 20 Prozent der Männer attraktiv. Wenn man Frauen nicht austrickst kriegt man sie nicht. 80 Prozent der Frauen sind nicht verfügbar... Sie bezeichnete ihn als Incel, Dad. Sie sagte, er wird für immer Incel sein. Keine Ahnung, dass er für immer Jungfrau bleibt und alle haben mit einem Herz reagiert. Sie stimmen ihr also zu.
"Das alles ist schwer zu glauben. wegen zwei Symbolen?"
"Du verschickst Herzen, oder? An Mum? Welche Farbe?"
"Rot."
"Das heißt Liebe. Lila: Ich bin geil. Gelb: ich habe Interesse. Hast du Interesse? Pink: Ich habe Interesse, aber nicht an Sex. Orange: du schaffst das. Alles hat eine Bedeutung, Dad. Ich könnte dir 15 andere Nachrichten an Jamie zeigen. Verschiedene Emojis, die dasselbe bedeuten. Ich dachte, das musst du wissen. Es war peinlich, dass du so im Dunkeln getappt bist.

So kratzt dieser Film immerhin an der Oberfläche des ganz eigenen, auch widersprüchlichen Codes der Jugendlichen.

Es gibt nicht das eine Motiv für die Tat, sondern viele

Es geht schließlich, so ist jetzt viel zu lesen, um "toxische" Männlichkeit und das Motiv des "Incel" (involuntary celibate). Dieser Incel boomt schon seit einiger Zeit außer im Leben, insbesondere der Rechtsextremisten, auch in Literatur und Film und ist im Begriff, so etwas wie eine tragende Figur gegenwärtiger Popkultur zu werden.

Aber es geht entgegen mancher Kritiken, die in die Serie ihre eigenen Agenden hineinlesen, geht es hier in erster Linie weder um Incels noch um Sexismus.

Es gibt nicht das eine Motiv für die Tat, sondern viele: Die Hölle der sozialen Medien steigern Unsicherheit und Mobbing, die immer schon zum Erwachsenwerden gehörten und die auszuhalten man lernen musste. Die Schule ein dystopisches Chaos – und die Familie schwach.

Vier Institutionen

Vor allem aber geht es in "Adolescence" um unsere Gesellschaft als ganze. Die noch nicht erwachsen ist,. die endlich erwachsen werden muss. Es geht um soziale Milieus, um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, um Geschlechterrollen.

In jeder Folge zeigt uns dieser Film eine andere Institution: In der ersten Folge Polizei und Justiz; in der zweiten Folge die Schulen; in der dritten dann die Psychologin und das Personal einer psychiatrischen Klinik, eines "Madhouse" wie es im Film genannt wird; in der vierten dann die Familie.

Und es ist eines schlimmer als das andere; in jeder dieser Instiutionen erleben wir, wie sie immer poröser wird, und wir erleben insgesamt den Zusammenbruch der demokratischen Gesellschaft.

"Was hat es mit dem Fall zu tun? Sie erstach sich nicht selbst"

Auch das zeigt sich in der zweiten Folge am besten, die mit der ganzen Schule auch eine Stellvertreterinstanz gesellschaftlicher Normalität portraitiert. Diese Normalität heißt in der Praxis, dass die Schule vor allem Angst um ihren eigenen Ruf hat.

Ansonsten regiert in der Schulleitung nackte Ignoranz. Als eine Lehrerin anmerkt: "Wir brauchen einen Trauerraum", antwortet der Direktor nur: "Sind wir jetzt Sozialarbeiter oder Wachleute?"

Unter den Schülern regieren nackte Gewalt und harte Selektion eine knallharte Ellbogengesellschaft aus permanentem gegenseitigem Mobbing.

Am Ende der zweiten Folge sprechen die beiden Polizisten über diese Schule:

Weißt du was: Ich kann diesen Ort nicht ausstehen. Oder glaubst du, dass irgendwer da drin was lernt? Die werden hier wie Nutztiere gehalten. In allen Klassen Videos. Die Lehrer gehen ein und aus. Es stinkt. Alle Schulen stinken. In einer Mischung aus Kotze, Kohl und Masturbation.

Die wunderbarste Figur der Serie taucht auch im zweiten Teil auf. Sie heißt Jade ist die beste Freundin des Opfers. Sie trauert, ist aber aus Not sehr tough und hat überhaupt keine Lust auf die Gespräche mit der Polizei. Das erste, was sie dem Polizisten sagt, ist: "Haben Sie nicht einen Sohn hier? Adam oder? Er ist übrigens hässlich. Er hat nicht ihre Wangenknochen."

Befragt zu ihrer Freundin Katie schaltet sie auf stur: "Das einzige, was Sie wissen müssen, ist, dass sie tot ist. Weil sie erstochen wurde. Grundlos. Sie sollte das nicht sein."

Auf die Frage "War sie unglücklich?" antwortet Jade: "Was hat es mit dem Fall zu tun? Sie erstach sich nicht selbst."

Auf die Frage: "Wie stand sie zu Jungs? Zu Jamie?"antwortet Jade: "Sie geben also ihr die Schuld? Sie haben doch Videos. Dann sollten Sie auch den Mörder finden."

An dieser Figur wird unvermittelt klar, wie wenig dieses ganze Verhörgerede und Zeugengequatsch mit dem Menschen zu tun hat, der ermordet wurde. Und mit der Wahrheit eines Falls, in dem Motive diffus bleiben müssen und am Ende auch nicht von Belang sind.

Es muss vielleicht trotzdem sein, aber es beleidigt Gefühl und Intelligenz.

"Darf ich Sie was fragen? Mögen sie mich?"

Die Beurteilung muss richtig sein, nicht schnell.

Die dritte Folge wird von vielen Zuschauern als die stärkste, intensivste empfunden. Sie besteht aus einem sehr intimen, intensiven Gespräch von Jamie mit einer psychologischen Gutachterin (Erin Doherty), die einen unabhängigen vorläufigen Tatbericht schreibt. Ein intellektueller, aber auch emotionaler Zweikampf.

"Okay Jamie, ich bin keine Polizistin. Ich will kein Geständnis von dir. Ich will nur verstehen. Ich will dich nicht austricksen. Ich bin nur hier um zu verstehen, wie viel Du verstehst."

"Und ich verstehe, dass Sie verstehen müssen, wie viel ich verstehe. Na los, stellen Sie Ihre Fragen."

"Adolescence" ist extrem gut in solchen Schauspielszenen, im ganz langen intensiven Spiel der Darsteller. Die Kamera, der Verzicht auf Schnitt verstärken diese Intensität noch. Man ist in der Situation.

Es geht um die Eltern, um Geschlechterbilder, um Scham, um Kontrolle. Zwischendurch spricht die Psychologin draußen mit einem der Wärter. Der will wissen, wie sie arbeitet, ob es um die Körpersprache geht, um Mimik.

Zwei, dreimal verliert Jamie die Fassung: "Sie sagen mir nicht, wenn ich mich setzen soll! Sie kontrollieren nicht, was ich tue. Sehen Sie mich an. Sie haben keine Kontrolle über mein Leben. Kriegen sie das in ihren Scheiß Kopf hinein", schreit er die Psychologin an.

Später dann: "Okay!! Ich verstehe, was ich tat! Nein scheiße! Das habe ich nicht gesagt! Sie liegen mir Worte in den Mund, das ist eine Falle."

Jamie ist in dieser Folge einerseits kindlich und charmant, er will die erwachsene Frau aber auch mit Lügen beeindrucken und versucht die Gutachterin mehrfach mit Dominanzgesten einzuschüchtern.

Aber am Ende fragt er verzweifelt: "Darf ich Sie was fragen? Mögen sie mich?" und sie muss weinen, weil sie zum Besten von Jamie nur antworten darf: "Ich war beruflich hier."

"I am sorry, Sohn"

Erst die vierte Folge fällt ab. Da wird die Serie alles das, was sie vorher nicht war: Nämlich ein Melo und auch zum Teil Kitsch. Vor allem ein Lehrstück, dass seine Punkte machen will: Das Versagen der Väter illustrieren.

Die Tochter erweist sich als die mit Abstand intelligenteste der Familie. Dem Vater bleibt nur die Moralpredigt: "I am sorry, Sohn, ich hätte mir mehr Mühe geben sollen."

Am Ende bleiben Fragen. Zu viel bleibt ungesagt. Zu viel ist noch unbekannt. Eine Fortsetzung ist damit denkbar.