Afrika: Omikron, Corona-Impfstoffmangel und HIV-Erkrankungen

Seite 2: Mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen

Deshalb richten die Forscher aus Südafrika die dringende Aufforderung an die in den verschiedenen Bereichen verantwortlichen Projektleiter ("stakeholder"), die folgenden vier Ziele möglichst bald umzusetzen:

Afrika impfen

Für Menschen, die mit HIV leben, erfordert der Schutz vor Covid-19 ein weiteres Engagement für die Impfgerechtigkeit zwischen den einzelnen Ländern. Zu diesem Zweck müssen die Länder mit hohem Einkommen multilaterale Initiativen wie Covax unterstützen. Über die ethischen Argumente hinaus deuten die verfügbaren Daten stark darauf hin, dass die Impfung von Menschen in Afrika dazu beitragen wird, die Übertragungsraten von Sars-CoV-2 weltweit zu senken, das Aufkommen neuer Varianten zu begrenzen und die globale Kontrolle der Pandemie schneller zu erreichen.

Förderung von Forschungsvorhaben

Mehrere Wissenslücken in Bezug auf die Wechselwirkung von Covid-19 und HIV müssen dringend geschlossen werden, um langfristig effektive Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge durchführen zu können.

Weitere klinische und grundlegende Studien müssen zeigen, ob verlängerte Sars-CoV-2-Infektionen bei Menschen mit einer fortgeschrittenen unkontrollierten HIV-Erkrankung häufig sind und ob solche Infektionen nach einer Covid-19-Impfung ebenfalls auftreten können.

Die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Covid-19 und HIV darf nicht davon ablenken, dass die einzelnen Patienten unverzüglich angemessen zu versorgen sind, insbesondere, wenn es um antiretrovirale Therapien oder solche mit neueren Medikamenten geht, wenn die bisherigen Medikamente nicht mehr wirksam sind.

Obwohl sich Covid-19-Impfstoffe bei Menschen mit HIV als sicher erwiesen haben, gibt es einige Unwägbarkeiten, wenn es um Covid-19-Impfstrategien geht.

Insgesamt machen Menschen, die mit HIV leben, weniger als ein Prozent der Teilnehmer an den Covid-19-Impfstoffstudien der Phase-III aus, die von Biontech-Pfizer, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson durchgeführt worden sind.

Untersuchungen haben auch gezeigt, dass bei mehreren Impfstoffen, die derzeit in Afrika eingeführt werden (wie Vero von Sinopharm, Coronavac von Sinovac und Sputnik V), Menschen, die mit HIV leben, von den durchgeführten Phase-III-Studien ausgeschlossen gewesen sind.

Bei Personen, die eine ART erhalten und eine gut kontrollierte HIV-Infektion aufweisen, scheinen Immunreaktionen nach der Covid-19-Impfung aufzutreten, die mit denen von Menschen ohne HIV vergleichbar sind. Mehrere Beobachtungsstudien deuten jedoch darauf hin, dass die Immunantwort auf die Covid-19-Impfung bei Menschen mit einer niedrigen CD4-T-Zellzahl abgeschwächt sein könnte.

Daten aus klinischen Studien deuten weiter darauf hin, dass eine zusätzliche (dritte) Covid-19-Impfstoffdosis die Immunantwort bei anderen immungeschwächten Gruppen verstärken könnte. Dazu gehören Menschen, die nach einer Organtransplantation eine Behandlung erhalten, um ihr Immunsystem zu unterdrücken.

Internationale Richtlinien, wie die der British HIV Association und der US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) empfehlen bereits, dass Menschen mit fortgeschrittenem unkontrolliertem HIV bei der Corona-Impfung eine zusätzliche Dosis des Impfstoffs erhalten sollten.

Aufrechterhaltung der HIV-Dienste

Staatliche Gesundheitseinrichtungen und Organisationen wie PEPFAR und der Globale Fonds müssen jetzt Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte bei der Kontrolle der HIV-Pandemie sich nicht ins Gegenteil verkehren.

In ganz Subsahara-Afrika haben Gesundheitsdienstleister verschiedene Ansätze verfolgt, um Gesundheitsdienste vor Störungen zu schützen, die durch die Covid-19-Pandemie verursacht werden. Beispiele für solche unterstützenden HIV-Programme sind: die Bereitstellung einer ART für mehrere Monate anstelle einer ein- oder zweimonatigen Versorgung; Bereitstellung der ARTs und Möglichkeiten zur Überprüfung des CD4-T-Zellspiegels in der Nähe der häuslichen Umgebung der betroffenen Menschen oder in Gemeindezentren und Online-Termine mit Ärzten.

Leistungserbringer und andere können die Erfahrungen der letzten zwei Jahre nutzen, um herauszufinden, wie effektive Strategien in Zukunft am besten ausgebaut werden können.

Die wissenschaftliche Gemeinschaft weltweit sollte diese Netzwerke unterstützen und ihren Anwendungsbereich erweitern, um HIV sowie die anderen Prioritäten der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Afrika wie Tuberkulose, Malaria und vernachlässigte Tropenkrankheiten anzugehen.

Gesundheitssysteme integrieren

Staatliche Einrichtungen und private HIV-Programme müssen bessere Wege finden, um die Covid-19- und die HIV-Dienste zu integrieren. Die Bereitstellung von Covid-19-Impfungen in Kliniken und Zentren, die derzeit Tests und ARTs für HIV anbieten, könnte dazu beitragen, dass Menschen mit fortgeschrittenem oder unkontrolliertem HIV für die Covid-19-Impfung priorisiert werden.

Ebenso sollten Menschen, die in Ländern mit hohen HIV-Raten leben, HIV-Tests angeboten werden, wenn sie einen Covid-19-Impfstoff erhalten. Derzeit empfiehlt die WHO, dass Menschen in diesen Ländern HIV-Tests angeboten werden, wenn sie Kontakt mit dem Gesundheitssystem haben. In der Praxis geschieht dies aber nur sehr lückenhaft.

Letztendlich sind nachhaltige Bemühungen erforderlich, um sicherzustellen, dass Menschen mit HIV diagnostiziert, antiretroviral behandelt und dann weiterbetreut werden, um sicherzustellen, dass sie effektiv behandelt werden und ihre Viruslast unterdrückt wird. Das wäre auch ein Weg, mit dem es gelingen könnte, Afrikas Behandlungslücke bei den HIV-Erkrankungen, die etwa 8 Millionen HIV-Infizierte betrifft, zu schließen.

Stigmatisierung vermeiden

Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass die frühere und bis heute anhaltende Selbstzufriedenheit darüber, wie die Covid-19-Pandemie in Afrika verlaufen ist, keine realistische Einschätzung ist.

So zeigt beispielsweise eine fortlaufende Analyse der Übersterblichkeit in Südafrika, dass die Todesfälle durch Covid-19 zwei- bis dreimal höher sein könnten als die gemeldeten Todesfälle durch diese Erkrankung und dass Südafrika eines der am stärksten betroffenen Länder der Welt ist.

Auch könnte die bei HIV-Infizierten festgestellte 30- bis 50-prozentige Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Infektion an Covid-19 zu versterben, für den jungen Teil der Bevölkerung, der den größten Teil der Erwerbsbevölkerung ausmacht, langfristig verheerende Folgen haben.

Auf der anderen Seite könnte die Stigmatisierung von Menschen mit HIV zunehmen, wenn die Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungen zwischen Sars-CoV-2 und HIV gelenkt wird. Sie könnte auch die Anwendung unfairer Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (z. B. Reisebeschränkungen) in Länder mit hohen HIV-Raten fördern.

Die Vereinigten Staaten haben Ausländern, die positiv auf HIV getestet worden waren, 22 Jahre lang die Einreise in ihr Land verweigert. Das Verbot wurde erst 2010 aufgehoben. Und viele andere Länder, wie Australien und Neuseeland, weigern sich immer noch, Menschen mit HIV die Staatsbürgerschaft zu geben, obwohl wirksame antiretrovirale Behandlungen schon lange verfügbar sind.

Die Forscher aus Südafrika schließen mit dem Statement:

Der beste Weg für Regierungen, ihre Bürger zu schützen, besteht nicht darin, die HIV-Infizierten weiter zu stigmatisieren. Er besteht vielmehr in einer schnellen Bereitstellung von Impfstoffen, um die Schwächsten der Welt zu schützen. Nur globale Solidarität – nicht Diskriminierung, Blockade oder das Horten von Ressourcen – wird die Covid-19-Pandemie beenden.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

1. Die Entdeckung der neuen Coronavirus-Variante Omikron, die Ende November 2021 in einem Labor in Südafrika festgestellt und ebenfalls nach einem Buchstaben des griechischen Alphabets benannt wurde, unterstreicht nachdrücklich die Einschätzung: Covid-19 und HIV/Aids müssen in den Ländern mit niedrigem und mittleren Einkommen in Subsahara-Afrika zusammen gesehen und gemeinsam behandelt werden und das liegt auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der reichen Länder im Westen.

2. Nach den bisher vorliegenden, allerdings noch spärlichen Daten scheint Omikron eine "Variant of Concern" (VOC) zu sein, die einige Fachleute mit Besorgnis erfüllt, weil sie noch ansteckender als die Delta-Variante zu sein scheint. Außerdem kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie auch krankmachender ist als Delta, wie der Virologe Christian Drosten in seinem Podcast am 7.12.2021 mit aller Vorsicht erläutert hat.

3. Eine der möglichen Hypothesen für die Entstehung von Omikron wurde oben schon von den Südafrikanischen Forschern beschrieben. Bei einem eingeschränkten Immunsystem durch Erkrankungen oder Medikamente kann Sars-CoV-2 über viele Monate persistieren. Dies könnte etwa bei unkontrollierten HIV-Infektionen der Fall sein, wie man sie in Subsahara-Afrika noch häufig findet. Sequenzierungs-Untersuchungen bei solchen Viren zeigen zum Teil ähnliche Mutationen wie bei Omikron, berichten einige Fachleute.2

4. Da nicht ausgeschlossen ist, dass sich Omikron in den nächsten Wochen auch bei uns rasant ausbreiten wird, sind vor allem bisher "immunologisch naive" Personen, d. h. vor allem bisher Ungeimpfte, gefährdet.3 Deshalb sollten die noch bestehenden Impflücken bei den durch Covid-19 gefährdeten Bevölkerungsgruppen, z. B. bei den über 50-Jährigen, so schnell wie möglich geschlossen werden.

5. Laut FAZ vom 9.12.2021 falle Afrika beim Impfen in der globalen Impfkampagne weit zurück. An der Zahl der gespendeten Dosen liege das aber nicht, meint diese Zeitung. Das sehen die Autoren des oben dargestellten Artikels aus Südafrika anders.

6. Das Internet-Portal German-Foreign-Policy.com berichtete am 16.6.2021, Biontech-Pfizer wolle Impfstoffe im dramatisch unterversorgten Afrika produzieren, allerdings erst ab 2022. Andere Konzerne hätten längst mit dem Aufbau einer Vakzinherstellung in Afrika begonnen – beispielsweise Sinovac (Beijing) in Ägypten, das Gamaleya-Institut (Moskau, Sputnik V) in Algerien, Johnson & Johnson (USA) in Südafrika. Mit Blick auf den dramatischen Impfstoffmangel in Afrika sei der Beschluss der G7, bis inklusive 2022 nur 870 Millionen Impfdosen an Entwicklungsländer zu liefern, als "unverzeihliches Versagen" angeprangert worden. Afrikas wichtigster Vakzinlieferant sei zurzeit China.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.