Al-Dschasira: Propaganda-Maschine oder Pionier arabischer Medienfreiheit?

Über die Zahlen der getöteten Zivilisten in Afghanistan wird erst lange nach dem Ende des Krieges Klarheit herrschen. Eines der Opfer ist aber schon namentlich bekannt: die Medienfreiheit.

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Der junge arabische Satellitensender al-Dschasira ist seit Kriegsbeginn auch im Westen bekannt. Sein Team aus dem winzigen Land Qatar auf der arabischen Halbinsel ist eines der wenigen, die von den Taliban geduldet werden. Seine Berichterstattung sorgte bereits am ersten Kriegstag für Unmut in der US-Regierung.

Auslöser war das von al-Dschasira ausgestrahlte Interview mit Usama Bin Ladin, dem mutmaßlichen Verantwortlichen hinter den Anschlägen vom 11. September. Die USA werfen dem Sender deshalb einseitige Berichterstattung vor. Ari Fleischer, der Pressesprecher des Weißen Hauses, bezeichnete die Äußerungen gar als "heimtückische Propaganda". CNN übertrug das Material von al-Dschasira und wurde aufgefordert, solche Interviews nicht mehr auszustrahlen. Der Sender "fügt sich den Anweisungen der Behörden", so ein CNN-Sprecher. Die Live-Berichterstattung über die Angriffe auf Afghanistan und der Anblick toter Zivilisten schaden dem Bild des "gerechten, sauberen Krieges", das die Anti-Terror-Allianz aufrecht erhalten möchte. In der New Yorker Tageszeitung Daily News brachte es ein Autor gar fertig, den Krieg als Verteidigung der Pressefreiheit zu bezeichnen und gleichzeitig militärische Maßnahmen gegen al-Dschasira zu fordern.

Aber Al-Dschasira ist Kritik gewohnt. "Als wir über die Wahlen in Israel berichtet und Interviews mit Ehud Barak und Schimon Peres ausgestrahlt haben", erinnert sich Hamad Bin Thamer, der Vorsitzende des Sendervorstandes, "wurden wir als Agenten des israelischen Geheimdienstes bezeichnet. Wenn wir über innere Angelegenheiten der USA berichten sind wir auf 'von der CIA finanziert'." Al-Dschasira wird weitermachen wie bisher. "Unsere Nachrichtenstrategie ist, beide Seiten der Geschichte zu beleuchten", so Bin Thamer weiter. Der Sender übernimmt damit das bis dahin als westlich verstandene Konzept ausgewogener, objektiver Berichterstattung, bis vor wenigen Jahren in der arabischen Medienwelt verpönt.

In den arabischen Ländern werden Medien von Informationsministerien kontrolliert. Relikt aus einer Zeit, in der zum Großteil analphabetische Bevölkerungen maßgeblich über Fernsehen und Radio beeinflusst werden konnten. Als Scheich Achmad Bin Chalifa al-Thani vor sechs Jahren die Macht in Qatar übernahm, ordnete er den Aufbau eines Parlaments, die Einführung des Frauenwahlrechts und andere Reformen an. Die Gründung al-Dschasiras, einem reinen Nachrichtensender, gehört auch zu seinen Vorschlägen. Al-Dschasira wird zwar von der Regierung finanziell unterstützt, gestaltet sein Programm aber unabhängig.

Über 400 Beschwerden

Vor allem seine Live-Diskussionen mit arabischen Oppositionellen und die Call-In-Sendungen, zu deren Anrufern schillernde Exoten wie der lybische Präsident Muammar al-Ghadafi zählen, machten den Sender bekannt. Er ist heute eine der meisten gesehen Stationen in einer Region, in der die staatlichen Nachrichten als "Beleidigung des Intellekts" betrachtet werden, weil sie Innenpolitik und soziale Probleme meist ausklammern.

Den arabischen Regierungen ist al-Dschasira natürlich ein Dorn im Auge. Über 400 Beschwerden sind bereits beim Sender und der Regierung Qatars eingegangen. So wirft Kuweit al-Dschasira die Rehabilitierung des Irak vor, wenn er über die Auswirkungen der internationalen Sanktionen berichtet. Marokko war der Ansicht, dass sich al-Dschasira mit einem Bericht über die Frente Polisario, der Befreiungsbewegung in der besetzten Westsahara, in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischte. Und als al-Dschasira eine Dokumentation über den algerischen Bürgerkrieg ausstrahlte, drehte die Regierung in Algier für die Dauer der Sendung kurzerhand landesweit den Strom ab. Dazu kommen Konflikte mit religiösen Organisationen. Als sich einmal eine jordanische Parlamentsabgeordnete in einer Live-Diskussion gegen die Polygamie aussprach, verließ die Vertreterin der islamischen Orthodoxie wutentbrannt das Studio. Büros von al-Dschasira im arabischen Ausland werden regelmäßig geschlossen, seine Journalisten eingesperrt.

Muhammad Dschasim al-Ali, der Programmdirektor des Senders, wundert sich, dass solche Töne jetzt auch aus den USA kommen, die sich Meinungs- und Medienfreiheit auf die Fahnen schreiben. "Wenn wir nicht aus Afghanistan berichten würden", fragt er, "wie könnten wir ausgewogen sein? Unsere Berichterstattung wäre dann die bloße Vermittlung der Position der Alliierten. Aber so covern wir auch die andere Seite." Al-Ali unterstellt den USA Neid. "Sie wissen, dass es auch ein Krieg um Informationen ist, und ihre Medien sind bei den Taliban nicht erwünscht. Natürlich hätte jeder andere Sender die Interviews mit Bin Ladin auch gesendet. Das sind Nachrichten. Das Publikum hat ein Recht darauf, beide Seiten zu hören."

Neue Nachrichtenstandards

Die Monopolstellung von al-Dschasira im Afghanistan der Taliban erklärt sich aus seiner Stellung in der arabisch-islamischen Welt. Seit dem Golfkrieg vor zehn Jahren und der damaligen dominanten Berichterstattung von CNN und BBC werde diese Sender sehr kritisch wahrgenommen.

"Die Verzückung über die technische Überlegenheit des Westens im Irak-Krieg und das Desinteresse am Schicksal der Zivilbevölkerung stießen viele ab", sagt Edmund Gharib, Professor an der amerikanischen Universität Kairo. "Im Westen stützen sich die Medien meist auf eine kleine Anzahl westlicher Nachrichtenagenturen", so Gharib weiter. "Das führt zur Vereinheitlichung von Nachrichten und Kultur. Man verlässt sich immer mehr auf westliche Nachrichtenstandards wie Oberflächlichkeit, Aktualität, Krisen- und Sensationsjournalismus."

Al-Dschasira gilt als einziger politisch unabhängiger arabischer Satellitensender und wurde deshalb von den Taliban, die von den meisten arabischen und islamischen Staaten abgelehnt werden, geduldet. Private arabische Satellitenstationen existieren zwar bereits seit Anfang der 90er Jahre. Deren Geldgeber sind aber meist mit dem politischen Establishment verbunden. Die Berichterstattung ist dementsprechend. Al-Dschasira dagegen nimmt in seiner Berichterstattung kaum ein Blatt vor den Mund und stellt sowohl die Politik arabischer Staaten als auch gesellschaftliche und islamische Strukturen zur Diskussion.

Für die Afghanistan-Berichterstatung hat CNN einen Exklusivvertrag mit al-Dschasira abgeschlossen. Die CNN-Berichte aus dem Gebiet der Nord-Allianz und das Material von al-Dschasira-Material können so auf beiden Sendern verfolgt werden. Wegen des Erfolgs denkt die US-Regierung nun darüber nach, Sendezeit auf al-Dschasira zu kaufen, um die ihrem Krieg schädliche Berichterstattung zu kontern. CNN selbst plant schon seit etwa zehn Jahren über einen arabisch-sprachigen Tochtersender. Als Vorgeschmack wird in Kürze CNNarabic.com ins Netz gestellt. Eine direkte Reaktion auf den Erfolg der Website al-Dschasiras. Deren tägliche Klickrate wuchs seit dem 11. September von einer auf über sieben Millionen, so Abdul Assis al-Machmud, der Chefredakteur der Online-Redaktion. Al-Dschasira selbst hat ebenfalls große Pläne. Die derzeitige Hochphase soll für den Börsengang genutzt werden. Ein arabischer Sender für Wirtschaftsnachrichten entsteht in Zusammenarbeit mit CNBC.

Im Hinblick auf die Tabuisierung kritischer Haltungen zum Krieg gegen Afghanistan in den USA und Europa, wartet noch eine größere Aufgabe auf den Sender aus Qatar: Die Verteidigung der Meinungsfreiheit. Die hat nun einen weiteren Rückschlag erhalten. Zu Anfang des Krieges übermittelte der Sender dem US-Militär die Koordinaten seines Büros in Kabul. Am 16. November wurde es durch eine amerikanische Rakete völlig zerstört.