Amazonisierung der Welt - Lieferketten und Arbeiter digital gesteuert
"Arbeit on demand" – neue Schlagwort der Industrie 4.0. Während einige Firmen damit scheitern, hat Amazon eine eigene Strategie. Doch was bedeutet das für die Mitarbeiter?
Kunden sollen immer schneller beliefert werden. Ein Schlagwort der Befürworter von "Industrie 4.0" lautet: "Arbeit on demand" – für die Beschäftigten bedeutet das, direkt nach Kundenauftrag zu produzieren. So wird kurzfristiger reagiert, etwa mit dem Anspruch, ein individuell gestaltetes Produkt 24 Stunden nach Bestellung auszuliefern. "On demand" bedeutet für die Beschäftigten erheblichen Zeitdruck, auch Arbeit auf Abruf, wenn das Unternehmen dies zur Kundenakquise fordert.
Das Scheitern von Getir: Ein Beispiel aus der Praxis
Dass dies in der Praxis – auch bei zunehmendem Fachkräftemangel – nicht so einfach umzusetzen ist, zeigt ein aktuelles Beispiel aus der Plattformökonomie. Der Lebensmittelanbieter Getir zieht sich aus dem deutschen Markt zurück. Das Geschäftsmodell, Waren innerhalb von zehn Minuten zum Kunden zu bringen, hat sich in dieser Form nicht bewährt.
"Zwar mag es Einzelfälle geben, in denen die Geschwindigkeit absolute Priorität hat, in den meisten Fällen sind die Kund:innen aber schlichtweg nicht bereit, den damit verbundenen und daraus resultierenden Aufpreis zu bezahlen", meldet t3n und berichtet von Problemen mit der Logistik: "Aus heiterem Himmel kommt all das nicht. Branchenkreisen zufolge soll Getir jeden Monat einen zweistelligen Millionenverlust eingefahren haben."
Ende 2022 hatte Getir noch den Konkurrenten Gorillas übernommen. Doch anders als im Heimatmarkt Türkei, wo die Geschäfte gut laufen, konnte das Unternehmen seit 2021 weder hierzulande noch in den USA die gesteckten Ziele erreichen.
Erfolgsgeheimnis von Amazon: Ein effizientes Logistiksystem
Eine andere Strategie verfolgt Amazon. Der US-Konzern hält seine Lagerbestände niedrig, verteilt sie aber auf verschiedene Standorte, von denen aus die Produkte schnell ausgeliefert werden können.
"Während sich der Umsatz des Unternehmens von 2015 bis 2022 verfünffachte, sank das Verhältnis von Lagerbestand zu Umsatz von 9,3 auf 6,7 Prozent. Die beiden Erfolgsgeheimnisse waren ein brutaler Arbeitsprozess, bei dem Aufgaben und Tempo von Algorithmen gesteuert werden, und ein immer dichteres Logistiksystem", berichtet Kim Moody für labornotes.org. Amazon galt 2023 als Nummer der globalen Frachtunternehmen, so die Zeitschrift "Transport Topics".
"Amazons Trick besteht darin, die Zahlungen der Kunden, meist per Kreditkarte, zu erhalten, bevor es die Händler, deren Produkte es verkauft, bezahlt", kommentiert Moody. Mit den Einnahmen, die das Unternehmen in dieser Zeit macht, kauft es mehr Waren ein und baut seine Einrichtungen aus.
Voraussetzung dafür ist, dass die Waren schnell und kontinuierlich bewegt werden. Amazon hat daher ein engmaschiges Logistiksystem aufgebaut. Zu den Fulfillment-Centern kamen die Prime Hubs und Sortierzentren hinzu, 2016 die Lieferstationen.
Lesen Sie auch
Gesundheitsstudie: 4.000 Schritte täglich senken Herzinfarkt-Risiko deutlich
Work-Life-Balance: So unterschiedlich arbeitet Europa
AOK meldet Rekordwerte bei Schlafstörungen durch Digitalstress
Langes Stehen am Arbeitsplatz birgt gesundheitliche Risiken
VW, ZF, Bosch und Co: Wie Betriebsräte gegen Werksschließungen kämpfen
Die Amazonisierung der US-Wirtschaft
"Dieses hochgradig orchestrierte und optimierte Modell prägt nun die Logistik für die gesamte US-Wirtschaft. Unternehmen wie Target folgen dem Beispiel von Amazon und versuchen, ihre Lagerbestände zu kontrollieren und ihre Konkurrenten zu überholen", sagt Moody über die "Amazonisierung".
Diese Koordination der Waren setzt starke Kontrollmechanismen in der Lieferkette voraus, die die digitale Überwachung von Waren und Arbeitskräften einschließt. Amazon bietet seine Logistik über den "Marketplace" auch anderen Unternehmen an.
Die Auswirkungen auf die Beschäftigten: Kontrolle und Überwachung
Diese Strategien haben massive Auswirkungen auf die Beschäftigten. Das zeigt die Arbeitsorganisation im Lagerbereich. "Picker" werden die Beschäftigten genannt, die zu Fuß in den riesigen Lagerhallen die einzelnen Produkte einsammeln und zu den Packstationen bringen. Sie sind mit Handscannern ausgestattet, Kameras und aufnahmefähige Mikrofone überwachen die einzelnen Arbeitsschritte und erstellen detaillierte Bewegungsdaten der Arbeiter.
Das Gerät sagt ihnen, wohin sie gehen müssen, welcher Handgriff als Nächstes ansteht. Oft sind die Tätigkeiten sehr monoton, Zeit zum Verschnaufen oder für ein Gespräch mit den Kollegen bleibt kaum. Die Arbeit ist körperlich und auch geistig anstrengend, viele fühlen sich getaktet wie eine Maschine. Mit diesen Daten kann das Unternehmen Leistungsprofile der einzelnen Mitarbeiter erstellen und durch "Benchmarking" vergleichen.
Gewerkschaften gegen die Überwachungspraktiken von Amazon
Dagegen protestieren die Gewerkschaften in Europa gemeinsam, wie UNI-Europa, der europäische Dachverband der Dienstleistungsgewerkschaften, berichtet:
In einem beispiellosen Schritt fordern mehr als 20 führende Vertreter großer Gewerkschaften in ganz Europa, die mehr als acht Millionen Arbeitnehmer vertreten, die europäischen Datenschutzbehörden auf, die Aufsicht über die missbräuchlichen – möglicherweise illegalen – Datenüberwachungspraktiken von Amazon zu verstärken. Diese kollektive Initiative unterstreicht die wachsende Besorgnis über die Beeinträchtigung der Rechte der Arbeitnehmer und der Sicherheit am Arbeitsplatz durch die Praktiken von Amazon.
Die Gewerkschaftsvertreter aus elf europäischen Ländern kritisieren den unregulierten und weitverbreiteten Einsatz von Überwachungstechnologien wie Handscannern, Software zur Aktivitätsüberwachung, Videokameras oder GPS.
"Es geht um Kontrolle und Einschüchterung. Solche drakonischen Maßnahmen berauben unsere Arbeitnehmer unter dem Deckmantel der Produktivitätssteigerung ihrer Würde und ihrer Rechte", so Christy Hoffman, Generalsekretärin der UNI Global Union.