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Amnesty International: Immer mehr Staaten schaffen die Todesstrafe ab

Der letzte Tag eines Verurteilten, Gemälde von Mihály von Munkácsy, 1872. Bild: Wikipedia / gemeinfrei

Laut der Menschenrechtsorganisation gab es 2016 mehr Verurteilungen und weniger Vollstreckungen als im Vorjahr

Kürzlich legte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) den aktuellen Bericht zum Thema "Todesstrafe" [1] vor. Das Fazit: 2016 ging die Zahl der ausgeführten Exekutionen spürbar zurück, immer mehr Staaten verzichten auf den Vollzug der Todesstrafe. Mehr als die Hälfte aller Länder schafften sie ab, 2016 Benin und Nauru.

Allerdings, und das ist der alarmierende Teil der Nachricht, ist die Zahl der Verurteilungen drastisch gestiegen: 3.117 Todesurteile wurden 2016 in 55 Staaten ausgesprochen. Im Jahr davor waren es 1.998. Insbesondere in Regionen, in denen sich der fundamentale Islam ausbreitet, werden offenbar inflationär Todesurteile verhängt. So verdreifachte sich die Zahl in Nigeria von 171 (2015) auf 527 (2016).

Weltweit befanden sich Ende 2016 nach offiziellen Angaben 18.848 Menschen in der Todeszelle [2]. Laut AI ist zu befürchten, dass bereits die Gerichtsverfahren, die mit der Verurteilung zum Tode enden, in vielen Ländern unfair sind. Ein beredtes Beispiel dafür ist der 1981 wegen angeblichen Polizistenmordes in den USA inhaftierte afro-amerikanische Publizist Mumia Abu-Jamal, dessen Anwälte zum wiederholten Male verzweifelt versuchen, in einem neuen Verfahren die Unschuld ihres Mandanten endgültig zu beweisen. Dieses Verfahren beginnt am 24. April 2017, dem 63. Geburtstag des Langzeit-Häftlings - dem 36. hinter Gittern.

Mumia Abu-Jamal ist zudem ein prominentes Beispiel für den inhumanen Umgang der zuständigen US-Behörden mit erkrankten Gefangenen: In einem langwierigen juristischen Verfahren konnte die Behandlung seiner Hepatitis-C-Erkrankung durchgesetzt werden. Allerdings ist die Erkrankung so weit fortgeschritten, dass fraglich ist, ob eine Heilung erfolgt.

Die Statistik

In 104 Ländern ist die Todesstrafe abgeschafft, in 30 Ländern gibt es sie theoretisch, praktisch wird sie jedoch nicht mehr vollzogen. 2016 wurde in 23 Staaten offiziell Exekutionen durchgeführt, insgesamt 1.031. Im Vorjahr waren es 1.634 [3].

Allerdings gibt es über einige Staaten keine Angaben. Beispielsweise über China, wo die Organisation eine hohe Dunkelziffer vermutet. Ebenfalls in Vietnam. Erst im Februar dieses Jahres sei öffentlich geworden, dass dort binnen drei Jahren - von August 2013 bis Juni 2016 - laut Medienberichten rund 429 Menschen hingerichtet worden seien, so AI.

Im Jahre 2016 wurde in 23 Staaten hingerichtet. 87% aller vollzogenen Exekutionen gehen auf das Konto Irans (567), Saudi Arabiens (154), des Iraks (88) sowie Pakistans (87). Als Hinrichtungsmethoden nennt Amnesty Enthauptungen, Erhängen, Giftinjektionen, Erschießen. Bekannt ist indes auch, dass Frauen gesteinigt wurden. Nicht bekannt ist allerdings, ob diese Steinigungen zu den offiziellen Hinrichtungen zählen.

"Mittlerweile ist in mehr als zwei Drittel aller Staaten weltweit die Todesstrafe per Gesetz oder zumindest in der Praxis abgeschafft. Dennoch lebt nur ein Drittel der Weltbevölkerung in Staaten, die nicht hinrichten", ist auf der AI-Webseite zu lesen [4].

Wiedereinführung der Todesstrafe

In nur vier Staaten, in denen die Todesstrafe abgeschafft wurde, ist sie später wieder eingeführt worden: Gambia, Papua-Neuguinea, Nepal und Philippinen. Die beiden letztgenannten schafften sie unterdessen per Gesetz wieder ab.

Die Türkei schickt sich an, der fünfte Staat in dieser Negativ-Liste zu werden. Schon lange droht Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der Wiedereinführung. Nach der gewonnen Abstimmung über das Präsidialsystem [5] am vergangenen Sonntag, versprach Erdogan seinen Anhängern, zügig die Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen.

Darüber kann er zwar nicht allein entscheiden, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er auch dafür die notwendigen Mehrheiten zusammen bekommt. Entweder tatsächlich oder indem nachgeholfen wird.

Zunächst einmal hat er den Ausnahmezustand immer verlängern lassen. Würde die Todesstrafe wieder eingeführt, wäre davon ganz unmittelbar der Vorsitzende der kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, betroffen. Der PKK-Chef wurde am 15. Februar 1999 aus Kenia in die Türkei verschleppt, zum Tode verurteilt und ist seither auf der Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft. Aufgrund internationaler Proteste wurde das Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt, und die Todesstrafe wurde generell abgeschafft [6].

Betroffen wären vermutlich auch viele der seit dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016 Inhaftierten. Wenn es schlecht für ihn läuft, könnte einer der potentiellen Todesstrafen-Kandidaten der seit dem 14. Februar 2017 inhaftierte deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel werden, den Präsident Recep Tayyip Erdogan bei jeder sich bietenden Gelegenheit als "Terrorist" und "Spion" beschimpft.

In den vergangenen Tagen zitierte [7] der Focus Erdogan wie folgt: "Zu einer möglichen Auslieferung von Inhaftierten wie Yücel sagte er: 'Auf keinen Fall, solange ich in diesem Amt bin niemals'."

Weiter heißt es in dem Artikel: "Zu Vorwürfen,Yücel habe Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK gehabt, sagte Erdogan: 'Natürlich, auf jeden Fall. Uns liegt Bildmaterial und das alles vor. Das war ein richtiger Agent (und) Terrorist'." Solange Deutschland keine Terrorverdächtigen an die Türkei ausliefere, wäre die Auslieferung Yücels keine Option, berichtet der Focus weiter.

Demnach befindet sich Yücel in Geiselhaft. Das bedeutet im Klartext Einzelhaft unter verschärften Haftbedingungen, u.a. Besuchsverbot, außer von seinen Anwälten und nahen Angehörigen. Da zu den "nahen Angehörigen" tatsächlich nur Familienmitglieder zählen, heiratete Yücel kürzlich seine Lebensgefährtin Dilek Mayatürk. Auf diesem Wege erhält sie die Besuchserlaubnis [8].

Laut Amnesty sind nirgendwo so viele Journalistinnen und Journalisten in Haft wie in der Türkei. Mehr als 120 wurden nach dem Putsch vom 15. Juli 2016 inhaftiert. Unter anderem Deniz Yücel. Für die Inhaftierten gilt, was die Menschenrechtsorganisation für viele Staaten beschreibt, in denen die Todesstrafe praktiziert wird: Sie bekommen keine fairen Verfahren, oder diese sind zumindest nicht zu erwarten.

Missliebige Richter und Staatsanwälte wurden suspendiert. Mit dem Präsidialsystem hat der Präsident die Macht auch über die Justiz.

"Für die Richter und Staatsanwälte ist das eine sehr schwierige Situation", betonte die Kölner SPD-Politikerin Lale Akgün im Telepolis-Interview [9]. Nehmen wir z. B. einen Richter in einem Landgericht. Wird der sich im Zweifel gegen den allmächtigen Präsidenten stellen?

Wenn er es tun würde, müsste er damit rechnen, dass er seinen Job verliert. Und damit sein Einkommen, das vielleicht das einzige Einkommen in der Familie ist, mit dem evtl. Kinder versorgt werden müssen, und wo unter Umständen noch Eltern oder Schwiegereltern mit dran hängen. Wie wird sich ein solcher Richter also wohl entscheiden?

Lale Akgün [10]

Erdogan hat zudem die Kontrolle über die Medien: 98% aller türkischen Medien sind als regierungsnah einzustufen. Die Verhaftungen kritischer Medienschaffenden, z.B. in den kurdischen Gebieten, geht aktuell weiter. Dem Münchner Medienwissenschaftler Kerem Schamberger [11] zufolge haben türkische Polizisten die Redaktion der Nachrichtenseite Sendika [12] durchsucht und den Redakteur Ali Ergin Demirhan festgenommen. Begründung der Polizei, so Schamberger: "Delegitimierung des 'JA's."

Sie alle müssen mit harten Strafen rechnen. Um auf Deniz Yücel zurückzukommen: "Terror" und "Spionage", das waren in der Vergangenheit die Vorwürfe, aus denen die Anklage für die Verhängung der Todesstrafe gestrickt wurden. AI ruft für den 3. Mai 2017 zu einer Solidaritäts-Kundgebung für Presse- und Meinungsfreiheit vor der Botschaft der Republik der Türkei auf.

Positive Entwicklung in den USA

Doch es gibt im Zusammenhang mit der Todesstrafe auch Positives zu berichten: Überraschenderweise zählen die USA nicht mehr zu den fünf Staaten, in denen am meisten hingerichtet wird. Mit "nur" 20 Hinrichtungen im Jahr 2016 rangieren sie auf Platz 7 der Liste. Das ist die niedrigste Zahl an Hinrichtungen in den USA seit knapp 3 Jahrzehnten.

Hintergrund ist, dass Hinrichtungen ausgesetzt werden mussten, weil der Giftstoff für die Todesspritzen nicht mehr hergestellt wird [13]. Im Jahr 2011 nahm der US-Konzern Hospira das zu dem Zeitpunkt für diesen Zweck einzig zugelassene Narkosemittel Thiopental vom Markt. Deshalb mussten in den meisten Bundesstaaten die Hinrichtungen vorläufig ausgesetzt werden. Fieberhaft wurde ein Ersatzstoff gesucht, und in dem Betäubungsmittel Nembutal Pentobarbitone Sodium (Pentobarbital) der Firma Lundbeck mit Sitz in Dänemark im Gespräch gefunden.

Pentobarbital ist ein Präparat, das in den USA in der Tiermedizin als Narkosemittel verwendet wurde. Lundbeck war die einzige Firma, die in den USA die Zulassung zu dessen Produktion hatte. Sie ist ein weltumspannendes Pharma-Unternehmen mit Niederlassungen in 50 Ländern der Welt, u. a. den USA, wo Pentobarbital hergestellt wird, und der BRD (Hamburg-Harburg), wo Medikamente zur Behandlung von Erkrankungen des Zentralen Nervensystems (ZNS) vertrieben werden. Die Medikamente sind in 90 Staaten registriert und zugelassen.

Hauptsitz von Lundbeck ist Dänemark. Das machte den Konzern zur Zielscheibe von Protestaktionen von internationalen Menschenrechtsorganisationen, u. a. von AI und reprieve, einer global agierenden Organisation mit Hauptsitz in London, die schwerpunktmäßig zum Tode verurteilte Häftlinge betreut, denn Dänemark gehört bekanntermaßen zur EU und das Europäische Parlament setzt sich für die weltweite Ächtung der Todesstrafe ein.

Lundbeck versuchte sich mit der Begründung zu beschwichtigen, dass das Präparat nicht gezielt an die Todesknäste verkauft würde, das Unternehmen aber keinen Einfluss auf dessen Einsatz habe. Schlussendlich hat die EU dem dänischen Unternehmen die Ausfuhr des Präparates in die USA untersagt. Das heißt allerdings nicht, dass die Exekutionen alle vom Tisch sind. Manche Bundesstaaten greifen auf andere Methoden - Gaskammer, elektrischer Stuhl oder Erschießen - zurück, oder sie hoffen darauf, dass ein neues Serum für den Gift-Cocktail zugelassen wird.

Der Bundesstaat Arkansas setzte ein Muskelentspannungsmittel ein, das bei dem Pharmahändler McKesson erworben wurde. Da dieser sich getäuscht sah, verlangte er die Rückgabe des Präparates. Der Bundesstaat habe angegeben, das Medikament zu medizinischen Zwecken benutzen zu wollen, von Hinrichtungen sei keine Rede gewesen. Zwar wurde das Mittel nicht zurückgegeben, aber McKesson lieferte auch nicht mehr.

In Kürze läuft das Haltbarkeitsdatum der noch verbliebenen Ration ab. Deshalb hatte der Bundesstaat angekündigt, in den beiden Wochen nach Ostern insgesamt sieben Häftlinge hinrichten zu lassen. Dagegen klagte McKesson - und gewann: Am vergangenen Freitag stoppten [14] Richter die geplanten Hinrichtungen.

Insgesamt verlangten fünf Pharma-Konzerne unter Beratung der Londoner Menschenrechtsorganisation reprieve [15] vom US Bundesstaat Arkansas, dass ihre Produkte nicht im Todestrakt für Exekutionen verwendet werden. Der Bundesstaat hatte allen Firmen verheimlicht, dass er ihre Produkte für Hinrichtungen zu verwenden beabsichtige.

Der Fall Mumia Abu-Jamal

Der 9. Dezember 1981 war kein guter Tag für den preisgekrönten Radioreporter und Vorsitzenden der Vereinigung schwarzer Journalisten Philadelphias, Mumia Abu-Jamal: Er geriet in eine Schießerei, an der eine unüberschaubare Anzahl von Personen - Zivilisten und Polizeibeamte - beteiligt war und die für den Polizisten Daniel Faulkner tödlich endete. Mumia brachte sie eine schwere Verletzung ein - und den Vorwurf, Faulkner erschossen zu haben.

Der 1954 als Wesley Cook geborene afroamerikanische Journalist hatte sich mit seinen legendären Reportagen über rassistische Polizeiübergriffe den Ehrentitel "Voice of the Voiceless" - Stimme der Unterdrückten - in der schwarzen Community Philadelphias und darüber hinaus erworben. Bei seinen Reportagen hatte er nie versäumt, die Namen der Verantwortlichen zu nennen, z. B. Frank Rizzo, seines Zeichens von 1967 bis 1971 Polizeipräsident und von 1972 bis 1980 Bürgermeister Philadelphias. Rizzo führte einen aggressiven Kampf gegen die schwarze Bürgerrechts- und studentische Protestbewegung und in seiner Amtszeit als Polizeipräsident kam es immer häufiger zu Polizeigewalt. Auf einer Pressekonferenz drohte er Mumia ganz offen.

Rizzo und seine politische Gefolgschaft in Justiz und Politik machten ihren Einfluss geltend, damit Mumia keine Aufträge bekam, geschweige denn eine Anstellung als Moderator fand. Da er aber eine Familie zu ernähren hatte, verdingte er sich als Taxifahrer. Und weil er in seinem Taxi überfallen worden war, hatte er sich eine Waffe zugelegt, die amtlich registriert war und für die er einen Waffenschein besaß.

Der verhängnisvolle Vorfall

An jenem 9. Dezember 1981, 3.51 Uhr Ortszeit, stand Mumia Abu-Jamal mit seinem Taxi vor einer Bar und wartete auf Kundschaft. Er beobachtete im Rückspiegel, wie ein Polizeibeamter - dessen Name war Daniel Faulkner, aber das wusste er zu dem Zeitpunkt noch nicht - den Wagen seines Bruders Billy stoppte, dieser und sein Beifahrer Kenneth Freeman ausstiegen, und es zu Handgreiflichkeiten kam.

Billy und sein Begleiter verdienten sich als Straßenhändler ihren Lebensunterhalt, sie waren zu so früher Stunde unterwegs, um einen guten Platz zu ergattern. Sie wurden von Faulkner gestoppt, weil sie ohne Licht und falsch herum in einer Einbahnstraße fuhren. Über Funk hatte Faulkner Verstärkung angefordert. Mumia Abu-Jamal war aus dem Taxi ausgestiegen, um seinem Bruder und Kenneth Freeman zu Hilfe zu eilen.

In dem Moment, wo er den Ort des Geschehens erreichte, fielen Schüsse. Faulkner starb, er selbst überlebte schwer verletzt. Die Kugel in seiner Brust stammte aus dem Revolver Faulkners. Woher die tödliche Kugel in dessen Kopf stammte, ist bis heute nicht sicher rekonstruiert.

Gegen Mumia Abu-Jamal als Täter spricht, dass er sich seine schwere Verletzung zuzog, bevor der tödliche Schuss auf Faulkner abgegeben wurde, und er so schwer verletzt dazu wohl nicht in der Lage gewesen wäre. Außerdem wäre es für die Polizeibeamten vor Ort ein Leichtes gewesen, Mumias Waffe als Tatwaffe zu präsentieren, wenn es denn die Tatwaffe gewesen wäre. Aber diese verschwand auf sonderbare Weise: In einem 30 Jahre währenden Prozess wurde die Tatwaffe keinem Gericht der Welt vorgelegt!

Rassismus als roter Faden im Prozess

Stattdessen war jene Nacht der Beginn eines jahrzehntelang währenden Justizskandals, geprägt von Rechtsbrüchen, und durch den sich bis heute Rassismus wie ein roter Faden zieht, Beweisstücke und Akten manipuliert, Zeuginnen und Zeugen zu Aussagen gegen Mumia Abu-Jamal erpresst wurden, eine Zeugin gar für tot erklärt wurde, damit sie in späteren Verfahren nicht von dessen Anwälten befragt werden konnte, Spuren von Anfang an verwischt und nie in eine andere Richtung als Mumia Abu-Jamal als Täter ermittelt wurde.

Diese Legende wird bis heute aufrecht erhalten, obwohl selbst die Gegenseite, die Bezirksstaatsanwaltschaft Philadelphia, seine Unschuld mehr oder weniger offen zugab, als sie 2011 auf jegliche ihr offen stehenden rechtlichen Möglichkeiten verzichtete, die Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft zu verhindern - und die Exekution schlussendlich doch noch durchzusetzen, für die sie drei Jahrzehnte erbittert gekämpft hatte.

Dieser Justizskandal nahm nur wenige Minuten nach dem tödlichen Schusswechsel seinen Lauf: Um ca. 4.05 Uhr Ortszeit taucht der Fotograf Pedro P. Polakoff auf, etwa 10 Minuten vor den Beamten der Spurensicherung. Er fotografierte, seine Fotos kamen jedoch nie bei der Beweisführung zum Einsatz, obwohl er sie mehrfach anbot. Dabei belegen sie eindeutig, dass der Tatort manipuliert wurde, da es Abweichungen gibt zwischen Polakoffs Aufnahmen und den später aufgenommenen der Polizei.

Die Fotos von Polakoff machte der Publizist Michael Schiffmann im Internet ausfindig. Er suchte daraufhin den Fotographen in den USA auf. Was Polakoff zu berichten hatte, ist in den Büchern "Wettlauf gegen den Tod" und "Mumia Abu Jamal - Der Kampf gegen die Todesstrafe und für die Freiheit der politischen Gefangenen" zu lesen.

In dem Moment, wo die am Tatort eintreffenden Beamten in einem der Opfer den stadtbekannten Polizeireporter Mumia Abu-Jamal erkannten, hatten sie den passenden Mörder. Ein klassischer Fall rassistischer Polizeipraxis - Mumia Abu-Jamal hatte solche Fälle dutzendweise aufgedeckt. Ganz "zufällig" erschien später auch noch Rizzo am Tatort …

Im Juni 1982 begann in Philadelphia der Geschworenen-Prozess unter Vorsitz von Richter Albert Sabo, der während einer Verhandlungspause der Gerichtsschreiberin Terri Maurer-Carters zufolge geäußert haben soll: "Ich werden helfen, den Neger zu grillen" (wörtlich "Yeah, and I’m going to help them fry the nigger"). Am 3. Juli 1982 sprach die Jury Mumia Abu-Jamal einstimmig für schuldig. Ihnen war u. a. vom Staatsanwalt Joseph McGill gesagt worden, sie könnten unbesorgt für "schuldig" stimmen, dem Angeklagten bleibe die Möglichkeit, "Berufung für Berufung" einzulegen, um gegen das Urteil vorzugehen. Das war eine unzulässige Beeinflussung der Geschworenen, nicht der einzige Rechtsbruch im Rahmen dieses Verfahrens.

Mumia Abu-Jamals Berufung gegen das Urteil wurde am 6. März 1989 vom Supreme Court of Pennsylvania abgewiesen. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten wies den Antrag am 1. Oktober 1990 ebenfalls zurück. Anträge auf erneute Anhörungen wiesen beide Gerichte in der Folge ab. Am 1. Juni 1995 unterzeichnete der Gouverneur von Philadelphia, Tom Ridge, der sechs Jahre später von Präsident George W. Bush zum ersten "Heimatschutz"-Minister der USA ernannt werden sollte, den Vollstreckungsbefehl und ordnete die Hinrichtung für den 17. August 1995 an.

Weltweiter Protest

Nach der Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls durch Ridge kam es zum ersten Mal weltweit zu Protesten gegen die Exekution Mumia Abu-Jamals. Dessen Anwälte erreichten die Aussetzung der Hinrichtung.

Die Verteidigung rief erneut den Supreme Court of Pennsylvania an und machte geltend, dass die Aussage einer neuen Zeugin vorläge, die berücksichtigt werden solle. Diese wurde jedoch für nicht glaubwürdig erklärt. Dieses Spiel wiederholte sich 1997 im Falle einer anderen Zeugin, die ebenfalls für nicht glaubhaft erklärt wurde.

Am 29. Oktober 1998 bestätigte der Supreme Court of Pennsylvania das Urteil einstimmig, am 4. Oktober 1999 wies der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten einen erneuten Antrag auf ein Berufungsverfahren zurück. Am 13. Oktober 1999 unterzeichnete Gouverneur Ridge einen zweiten Vollstreckungsbefehl und ordnete die Hinrichtung für den 2. Dezember 1999 an. Auch diese Hinrichtung wurde ausgesetzt.

Nachdem die Weltöffentlichkeit 1995 auf den Fall Mumia Abu-Jamal aufmerksam geworden war, kam es auch 1999 zu Protesten. In Hamburg fand im Februar 1999 eine bundesweite Demonstration statt - wenige Tage, nachdem der PKK-Führer Abdullah Öcalan aus Kenia in die Türkei verschleppt worden war. So dass sich zu den ca. 3.000 Mumia-Unterstützenden etwa 2.000 Kurdinnen und Kurden mit Öcalan-Schildern in der Hand gesellten. Die Mumia-Soli-Demo wurde kurzerhand in eine Demonstration gegen die Todesstrafe umgewandelt, und die Freilassung von Mumia Abu-Jamal und Abdullah Öcalan sowie aller politischen Gefangene aus linken Bewegungen gefordert.

Juristischer Kampf ums Überleben

Im Dezember 2001 ordnete Richter William Yohn vor dem Bundesbezirksgericht in Philadelphia die Aussetzung der Todesstrafe und deren Umwandlung in lebenslange Haft ohne Bewährung an. Dieses Urteil wurde indes nie rechtskräftig, da die Gegenseite umgehend Berufung dagegen einlegte.

Am 17. Mai 2007 fand vor dem 3. Berufungsgericht in Philadelphia eine Anhörung statt, im Rahmen derer die drei Richter im März 2008 die Entscheidung von Richter Yohn von 2001 bestätigten. Die Bezirksstaatsanwaltschaft Philadelphia legte gegen dieses Urteil beim Supreme Court Berufung ein.

Der Oberste Gerichtshof entschied daraufhin, den Fall an das Gericht in Philadelphia zurückzuverweisen, mit der Maßgabe, die Richter mögen ihre Entscheidung vor dem Hintergrund des Falles des als Mörder verurteilten Neonazis Frank Spisak noch einmal überdenken. Bei dessen Prozess waren die Geschworenen nicht darauf hingewiesen worden, dass sie strafmildernde Umstände hätten geltend machen und lebenslange Haft statt Todesstrafe verhängen können.

Der Supreme Court meinte Ähnlichkeiten in den beiden Fällen entdeckt zu haben, weil auch im Falle Abu-Jamal die Jury vom Staatsanwalt falsch informiert wurde. Die Richter dachten nach - von November 2010 bis April 2011 - und blieben bei ihrer bereits 2008 geäußerten Ansicht, dass das 1982 wegen Polizistenmordes verhängte Todesurteil aufgrund der Fehlinformation der Jury verfassungswidrig sei. Damit war das Todesurteil nicht endgültig vom Tisch, dem Supreme Court blieb die Möglichkeit, die Entscheidung aus Philadelphia zu übergehen und letztendlich doch die Exekution anzuordnen.

In der Folge wurde 2011 vom Obersten Gerichtshof der USA unwiderruflich und allen unterdessen vorgelegten Fakten zum Trotz die Schuld Mumia Abu-Jamals festgestellt, die Todesstrafe jedoch in lebenslange Haft ohne Bewährung umgewandelt. Damit gilt der inzwischen weltberühmte Publizist als verurteilter Polizistenmörder, dem gnädigerweise die Hinrichtung erspart wurde.

Der Bezirksstaatsanwaltschaft Philadelphia hätte 2011 die Möglichkeit offen gestanden, gegen das Urteil den Rechtsweg weiter zu beschreiten und einen neuen Geschworenen-Prozess einzuberufen. Dabei sei allerdings nicht die Frage Schuld oder Unschuld erörtert worden, sondern zur Disposition gestanden habe lediglich das Strafmaß: lebenslange Haft oder Hinrichtung. Das hätte allerdings trotzdem bedeutet, dass das Verfahren komplett neu hätte aufgerollt werden müssen.

Dabei hätte nach Ansicht von Mumia Abu-Jamals Anwaltsteam dessen Unschuld zweifelsfrei bewiesen werden können. Das wiederum hätte zur Folge gehabt, dass das höchste Gericht der USA einen nachweislich Unschuldigen zu lebenslanger Haft hätte verurteilen müssen, weil aufgrund der obskuren Vorgeschichte dieses Rechtsverfahrens die Möglichkeit eines Freispruchs nicht zur Debatte gestanden hätte. Offensichtlich teilte der damalige Bezirksstaatsanwalt Philadelphias, Seth Williams, diese Einschätzung, und verzichtete deswegen auf das Jury-Verfahren.

Am 8. Dezember 2011, einen Tag vor Mumias 30. "Jubiläum" als politischer Gefangener, war die Todesstrafe endgültig vom Tisch. Kurze Zeit später wurde er in den Normal-Vollzug in das Gefängnis SCI Mahony, Pennsylvania, verlegt.

Die Haft fordert ihren Tribut

Die Jahrzehnte davor hatte er in einem unterirdischen Bunker verbracht. Allein in einer etwa sechs Quadratmeter großen Zelle ohne Tageslicht. Die unmenschlichen Haftbedingungen fordern ihren Tribut: Im März 2015 musste er auf die Intensivstation eines städtischen Krankenhauses verlegt werden, nachdem er ins Koma gefallen war.

Dort wurde Diabetes diagnostiziert. Die Ärzte im Gefängniskrankenhaus hatten die Anzeichen offenbar schlicht ignoriert. Seitdem kämpft er mit Unterstützung seiner Familie, des Anwaltsteams und der unterdessen weltweiten Solidaritätsbewegung um eine adäquate Behandlung.

Aufgrund des internationalen Drucks wurden verschiedene Untersuchungen an ihm vorgenommen, u. a. auch in Hinsicht auf eine mögliche Krebserkrankung. Schließlich wurde eine Hepatitis-C-Erkrankung bei ihm diagnostiziert. Da die Behandlung sehr teuer ist, pro Patient ca. 90.000 US-$, verweigerte die zuständige Gefängnis-Behörde (Department of Corrections/DOC) die Behandlung.

Knapp zwei Jahre lang prozessierte das Anwaltsteam in der Angelegenheit. Am 3. Januar 2017 ordnete Bundesrichter Robert Mariani eine einstweilige Verfügung an, binnen einer Frist von 2 Wochen die Verträglichkeit eines Hepatitis-C-Medikaments zu testen, und die Behandlung von Mumia Abu-Jamal zu beginnen.

Unbehandelt ist Hepatitis-C eine tödliche Krankheit, mit dem Medikament besteht eine 95%ige Heilungschance. Mehr als 7.000 Gefangene allein im Bundesstaat Pennsylvania leiden daran. Eine Entscheidung im Falle Abu-Jamal käme ihnen allen zugute. Das DOC legte Widerspruch gegen diese Anordnung ein. Mumia Abu-Jamals Anwaltsteam beschritt erneut den Rechtsweg.

Die Begründung des DOC lautete, dass nicht klar sei, ob die Anordnung Marianis jemals rechtskräftig werde, also müsse sie bis dahin nicht befolgt werden. Muss sie doch, hielt das 3. Berufungsgericht in Philadelphia dagegen. In der vergangenen Woche wurde tatsächlich mit der Behandlung begonnen. Mumia Abu-Jamal wurde die erste von insgesamt 84 Medikationen verabreicht. Allerdings währte dessen Freude nur kurz, denn zeitgleich bekam er die vernichtende Diagnose, dass seine Leber mittlerweile derart angegriffen ist, dass eine Heilung fraglich ist. Zwar wird sich das Organ vermutlich allmählich erholen, doch bleibt ein erhöhtes Krebsrisiko.

In einem am 31. März 2017 von Prison Radio geführten Interview nahm Mumia Abu-Jamal - für ihn ungewöhnlich emotional - dazu Stellung [16]:

Meine erste Reaktion darauf war Schock, Wut, Ungläubigkeit. Wenn ich 2015 behandelt worden wäre, wenn ich 2012, als sie eigener Auskunft zufolge erstmals die Diagnose stellten, behandelt worden wäre, wäre die Schädigung meiner Leber nicht so weit fortgeschritten. […] Ich denke, dass das jetzt für viele Mitgefangene in den Gefängnissen Pennsylvanias ein Schritt voran und ein großer Tag ist, aber ich kann euch versichern, dass ich selbst mich im Moment gar nicht so fühle.

Mumia Abu-Jamal

Doch sollte Mumia Abu-Jamal in der weiteren juristischen Auseinandersetzung gegen die Gefängnisbehörde von Pennsylvania Erfolg haben, könnte der Bundesstaat dazu gezwungen sein, allen ca. 6.000 an Hepatitis-C erkrankten Gefangenen medizinische Hilfe zu geben. Das hätte auch Präzedenzcharakter für alle Gefangenen weit über den Bundesstaat hinaus. Unterschiedlichen Angaben zufolge sind zwischen 400 - 700.000 der insgesamt ca. 2,3 Millionen Gefangenen in den USA betroffen.

Allerdings hat der Bundesstaat Pennsylvania deutlich gemacht, in dieser Angelegenheit notfalls bis vor die höchste Instanz, den US Supreme Court zu ziehen, dessen Besetzung Präsident Trump in der jüngsten Vergangenheit zu einem politischen Schwerpunkt gemacht hat. Der Kampf Mumia Abu-Jamals und anderer Gefangener, ihre Grundrechte auf medizinische Behandlung und Menschenwürde durchzusetzen, verläuft unter den aktuellen politischen Bedingungen in den USA extrem steinig und mühsam.

Nächster Anlauf zu einem neuen Verfahren

Am 24. April 2017 findet in Philadelphia eine juristische Anhörung über Unregelmäßigkeiten in den früheren Berufungsverfahren statt. Der ehemalige Bezirksstaatsanwalt Ronald Castille war u.a. 1988 daran beteiligt, ein Berufungsverfahren zu verhindern. 1994 saß er dann mit Wahlunterstützung der Fraternal Order of Police (FOP), einer Art Polizeibruderschaft, die Mumia Abu-Jamals Verurteilung maßgeblich mitbetrieben hat, im Pennsylvania Supreme Court (PASC), um Mumias Klage dagegen abzuweisen.

Wegen des offensichtlichen Interessenskonfliktes forderte Mumia Abu-Jamals Verteidigung Castille 1994 auf, sich aus dem Fall zurückziehen. Er weigerte sich und begründete es überraschend offen damit, dass fast alle Richter des PASC Wahlunterstützung durch die FOP erhalten hätten. Castille verhielt sich in weiteren Verfahren ähnlich, was dem inzwischen pensionierten Richter vor kurzem zum Verhängnis wurde.

Mumia Abu-Jamals Mitgefangener Terrence "Butter" Williams konnte vor dem US Supreme Court, dem höchsten Gericht der USA, durchsetzen, dass Castille sich in seinem Verfahren aus eben diesem beschriebenen Interessenskonflikt hätte heraushalten müssen. Trotzdem bleibt fraglich, ob nun auch Mumia Abu-Jamal am 24. April 2017 einen neuen Klageweg zugesprochen bekommt.

Infos unter: www.bring-mumia-home.de

Literaturtipp:

Schiffmann, Michael, Wettlauf gegen den Tod, Promedia Verlag

Mumia Abu Jamal - Der Kampf gegen die Todesstrafe und für die Freiheit der politischen Gefangenen, Laika Verlag.


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[1] http://www.amnesty-todesstrafe.de/index.php?id=683
[2] http://www.amnesty-todesstrafe.de/files/reader_wenn-der-staat-toetet.pdf
[3] http://www.amnesty-todesstrafe.de/files/ACT50-5740-2017_zusammenfassung.pdf
[4] http://www.amnesty-todesstrafe.de/files/reader_wenn-der-staat-toetet.pdf
[5] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Aufbruch-ins-Mittelalter-3622757.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/PKK-K-eine-Erfolgsgeschichte-3374986.html
[7] http://www.focus.de/politik/deutschland/inhaftierter-welt-journalist-erdogan-schliesst-auslieferung-von-deniz-yuecel-an-deutschland-aus_id_6957645.html
[8] https://www.welt.de/politik/ausland/article163658054/Deniz-Yuecel-hat-im-Gefaengnis-seine-Freundin-geheiratet.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Aufbruch-ins-Mittelalter-3622757.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Aufbruch-ins-Mittelalter-3622757.html
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[14] http://www.heute.de/gerichte-in-arkansas-haben-die-hinrichtungen-zunaechst-gestoppt-46984508.html
[15] http://www.reprieve.org.uk/
[16] https://linksunten.indymedia.org/de/node/208936