Amri: Wie kann ein Anschlag aufgeklärt sein, wenn noch immer ermittelt wird?

Bild vom Abend des Anschlags am Breitscheidplatz: Andreas Trojak / CC-BY-2.0 / Grafik: TP

Auch fünf Jahre nach der Terrortat vom Berliner Breitscheidplatz dominieren die Widersprüche und offenen Fragen - Opfer fordern die Wiederaufnahme des Untersuchungsausschusses im Bundestag

Fast fünf Jahre danach hat die Tat ein dreizehntes Todesopfer gefordert. Sascha Hüsges, der nach der LKW-Attacke auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche Verletzten half, war von einem Gegenstand am Kopf getroffen worden und fiel später ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Am 5. Oktober 2021 ist er gestorben.

Vor wenigen Tagen erhielt der neue Bundeskanzler einen Brief, in dem es heißt: "Ich bin ein Opfer vom Terroranschlag Breitscheidplatz. (...) Wir, die Opfer und Angehörigen, sind maßlos enttäuscht über die Aufklärung. (...) Die Bundeskanzlerin a.D., Frau Dr. Merkel, hatte uns 100-prozentige Aufklärung versprochen, aber leider wurden wir enttäuscht. Eine Aufklärung gestaltete sich sehr schwierig, da man geschwärzte Akten erhalten hat, oder es wurden Akten bewusst zurückgehalten. Leider hat auch die Bundesregierung a.D. der 19. Wahlperiode gemauert."

Da Olaf Scholz sowohl der letzten Bundesregierung angehörte als auch der aktuellen, ist er gleich doppelt gemeint. Einen zweiten Brief desselben Absenders erhielt die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. An sie geht der Appell: "Wir, die Opfer und Angehörigen, fordern den Bundestag auf, den Untersuchungsausschuss wieder aufzunehmen, da viele Dinge nicht aufgeklärt worden sind.(...) Viele Fragen blieben offen und die Opfer und Ersthelfer wurden nicht gehört. Wir möchten im UA ein Fragerecht erhalten, um die Aufklärung mit vorantreiben zu können. Bitte nehmen Sie uns Ernst(!), denn wir Opfer möchten wissen: Warum? Diese Antwort konnte der UA nicht geben. Bitte setzen Sie den UA Terroranschlag Breitscheidplatz fort."

Offizielle Reaktionen sind bisher keine bekannt.

Der Widerspruch könnte entgegengesetzter kaum sein: Hier die politischen Repräsentanten und ihr Sicherheitsapparat, für die der Anschlag geklärt ist und mit Anis Amri der Attentäter und Alleintäter feststeht. Dort die Opfer der Tat, die die Fortsetzung der parlamentarischen Untersuchung fordern, weil nicht geklärt sei, was am 19. Dezember 2016 auf dem Breitscheidplatz in Berlin geschah.

Ermittlungen dauern an

Tatsächlich wurden die Ermittlungen zu dem Terrorfall auch mit dem Ende der zwei Untersuchungsausschüsse in Berlin und im Bundestag nicht eingestellt, sondern dauern bis heute an. Und im Landtag von Nordrhein-Westfalen tagt, wenn auch mit angezogener Handbremse, nach wie vor das dritte parlamentarische Untersuchungsgremium. Wenn also nach wie vor ermittelt und untersucht wird, wie kann dann eine Tat aufgeklärt sein? Zumal die Ermittlungen Grundsätzliches betreffen, wie den Tod des angeblichen Attentäters.

Der Tunesier Anis Amri wurde vier Tage nach dem Anschlag, am Morgen des 23. Dezember 2016, in Italien von Polizisten erschossen. Im Jahr 2021, mehr als vier Jahre danach, kamen in Deutschland die Asservate Amris aus Italien an: Kleidungsstücke, Rucksack, Gegenstände und die Tatpistole, mit der der polnische Speditionsfahrer erschossen worden war. Diese Asservate sollen nun in Deutschland kriminaltechnisch untersucht werden - erstmals. Wann sie eintrafen, wo sie untersucht werden und mit welchem Ergebnis möglicherweise, dazu gibt die Bundesanwaltschaft keine Auskunft.

Der Vorgang bringt aber ein kaum zu fassendes Versäumnis der deutschen Ermittler in Erinnerung. Nachdem Amri in dem Mailänder Vorort Sesto San Giovanni zu Tode kam, begab sich umgehend eine Delegation des BKA nach Italien, um, wie es hieß, den italienischen Kollegen bei den Ermittlungen zu helfen. Von Hilfe konnte dann aber keine Rede sein.

Die deutschen Kriminalbeamten durften nicht einmal Asservate, Pistole und Leichnam des Getöteten in Augenschein nehmen, sondern mussten sich mit Fotos zufriedengeben. Und sie gaben sich damit zufrieden. Sie wurden behandelt wie unerfahrene Azubis - und sie ließen sich so behandeln. Sie gaben freiwillig ein Stück der Ermittlungsverantwortung aus der Hand - und entlasteten sich dadurch.

Das wenig professionelle Verhalten des BKA wurde Jahre später im Untersuchungsausschuss des Bundestags bekannt und sorgte für anhaltendes Kopfschütteln. Was für Fasern findet man an Amris Kleidung? Gibt es Spuren aus dem Tat-LKW? Gibt es im Lauf der Pistole Rückschleuderspuren des Opfers Urban?

Weil die Nachfragen aus den Reihen der Abgeordneten immer drängender wurden, erklärte die Bundesanwaltschaft in der letzten Ausschusssitzung im März 2021, sie wolle die Asservate zur Untersuchung nach Deutschland holen. Und zwar, wie der verantwortliche Bundesanwalt Horst Salzmann erklärte, um "Legendenbildungen vorzubeugen". Man wolle ausschließen, dass jemand anderes als Amri der Täter war. Ergebnisse erfährt man bisher nicht.

Fallkomplex "Opalgrün"

Ermittlungen laufen weiterhin aber auch zu dem, was als Fallkomplex "Opalgrün" bekannt wurde. Dabei handelt es sich um Verfassungsschutzinformationen, nach denen Amri bei seiner Flucht aus Berlin Hilfe von einem arabisch-stämmigen Clan gehabt haben soll. Er sei mit einem Auto aus der Stadt gebracht worden.

Bis heute können die Ermittler nicht sagen, wann und wie Amri Berlin nach dem Anschlag verlassen hat. Der Verfassungsschutzkomplex "Opalgrün" wurde zum Skandal und führte unter anderem zur Entlassung des LfV-Chefs von Mecklenburg-Vorpommern, weil dort entschieden worden war, die durch einen V-Mann gewonnenen Informationen nicht an die Ermittlungsinstanzen BKA und Bundesanwaltschaft weiterzuleiten.

Dabei handelt es sich auch um Informationen, die über die Person Amri hinausgehen, noch andere Personen betreffen und damit die Einzeltäter-Version in Zweifel ziehen. Nachdem ein Verfassungsschutz-Beamter als Whistleblower die Informationsunterschlagung nach Karlsruhe gemeldet hatte, musste man dort offiziell reagieren.

Die BAW eröffnete ein Verfahren und band es mit den Breitscheidplatz-Ermittlungen zusammen. Akten wurden angefordert, Zeugen sollten befragt werden. Der Stand dieser Ermittlungsschritte ist bislang ebenfalls nicht bekannt.

Dritter Ermittlungskomplex: Die Dementis

Eng damit zusammen hängt ein dritter Ermittlungskomplex, in den die BAW seit einiger Zeit amtlicherseits involviert ist: Die sogenannten Tat-Dementis des angeblichen Attentäters Amri. Der hatte nach dem Anschlag an Vertraute eine Whats-App-Nachricht geschickt mit dem Inhalt, er habe damit nichts zu tun. Zusätzlich meldete im November 2019 ein "Informant", Amri habe einem Aktivisten aus der radikalen Fussilet-Moschee namens Semsettin E. gesagt, er sei nicht am Anschlag beteiligt gewesen und werde zu Unrecht beschuldigt.

Die Dementis sind insofern erstaunlich, als sich Amri laut Ermittler ja zu der Tat bekannt haben soll. Seine Handys und eine Geldbörse habe er absichtlich als Tatbekennung im LKW hinterlassen. Semsettin E. hat seine Zeugenvernehmung verweigert. In welcher Weise in der Sache weiterhin ermittelt wird, sagt die Bundesanwaltschaft nicht. Auch die Rolle des "Informanten" ist bisher unklar.

Daneben ist gegen Semsettin E. vor dem Kammergericht Berlin ein Verfahren wegen Unterstützung des IS anhängig. Bereits im Dezember 2019 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen ihn und eine zweite Person. Seit zwei Jahren wird die Hauptverhandlung aber nicht eröffnet. Das soll im Jahr 2022 geschehen. Ein Termin stehe noch nicht fest, heißt es.

Sachverhalte und Ermittlungen, die zugleich für eine Fortsetzung des U-Ausschusses im Bundestag sprechen. Dazu gehört aber auch, was sich Ende Mai, Anfang Juni 2021 gegenüber dem damaligen Ausschuss seitens der Sicherheitsbehörden abspielte. Kurz vor Abgabe des Abschlussberichtes lieferte das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Untersuchungsgremium im Bundestag noch drei Mal Akten, die lange vorher angefordert worden waren, Tausende von Seiten.

Mit ihnen konnten die Parlamentarier nicht mehr arbeiten, weil der Ausschuss gut eine Woche später dem Parlamentspräsidenten seinen Abschlussbericht übergeben musste. Die Auswertung dieser Unterlagen müsste jetzt nachgeholt werden.

Und auch der vorgelegte UA-Bericht bietet Stoff genug für weitere Untersuchungen.

Man liest darin zum Teil Atemberaubendes. Zum Beispiel, dass das BfV in der einschlägigen Fussilet-Moschee mindestens zwei Spitzel führte. Die Vertreter des Geheimdienstes hatten vor dem Ausschuss stets beteuert, es habe nur einen gegeben und der habe mit Amri nichts zu tun gehabt. Eine zweite dramatische Information, wenn auch mit Fragezeichen versehen, lautet: Der Amri-Vertraute Bilel Ben Ammar soll möglicherweise V-Mann des BfV gewesen sein.

Ben Ammar hat Amri wahrscheinlich nach Deutschland geholt, galt nach dem Anschlag als tatverdächtig und wurde von der Bundesanwaltschaft in die Mordermittlungen einbezogen, eher er auf Geheiß der Bundesregierung dann aber nach Tunesien abgeschoben wurde. Das alles bekäme eine Logik, sollte der V-Mann-Verdacht tatsächlich zutreffen.

So aufklärungsbedürftig diese Sachverhalte, so fragwürdig ist gleichzeitig der Mehrheitsbericht der damaligen Regierungsfraktionen von CDU, CSU und SPD (vgl. Amri und kein Ende).

Um zu dem Ergebnis zu kommen, Anis Amri sei "zweifelsfrei" der Täter gewesen, muss die Ausschussmehrheit etliche Dinge anders darstellen, als sie waren - und zwar wider besseres Wissen. Beispielsweise verschweigt sie die DNA einer nicht identifizierten Person im LKW. Oder sie behauptet, den BKA-Ermittlern seien in Italien die Asservate Amris inklusive Tatpistole gezeigt worden, während ihnen tatsächlich nur Fotos vorgelegt wurden.

An anderer Stelle wird behauptet, die Bundesanwaltschaft habe für eine Tatbeteiligung Ben Ammars keine "hinreichenden Anhaltspunkte" gesehen. Dabei sprach die BAW von "zureichenden Anhaltspunkten, dass Ben Ammar beteiligt war", reklamiert aber, es habe kein "dringender Tatverdacht" vorgelegen, um Ben Ammar nicht abzuschieben. Was ist da passiert? Warum sind die regierungstreuen Abgeordneten umgefallen und verleugnen ihre eigene Arbeit?

Spekulationen: Eine ARD-Dokumentation

Letzten Montag strahlte die ARD eine Dokumentation zum Breitscheidplatz-Attentat aus, verantwortet vom Rundfunk Berlin-Brandenburg, Titel: "Weihnachtsmarkt-Anschlag. Das Netzwerk der Islamisten". Der zusammenfassende Text auf der Webseite Tagesschau.de trägt den Titel: "Lebt der Auftraggeber von Anis Amri?"

Darin kommen all die genannten Widersprüche und offenen Fragen nicht vor, keine Manipulationen, unterschlagenen Erkenntnisse, V-Leute-Wissen, vorenthaltene Akten und Zeugen, geheim gehaltene und laufende Ermittlungen. Dass die ARD fortgesetzt das Amri-Alleintäter-Narrativ pflegt - geschenkt, das gilt für die meisten Medien.

Fragwürdiger ist der Inhalt der Sendung und das Fehlen jeglichen Belegs dafür. Der 45 Minuten lange Film verfolgt die These, der IS-Funktionär Abu Bara'a al-Iraqi sei der Auftraggeber von Anis Amri gewesen. "Kronzeuge" für diese Behauptung ist der kurdische Funktionär Sadi Ahmed Pire, Mitglied der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), der gute Beziehungen zur deutschen Bundeswehr pflege.

Sein Wissen über den IS-Terrororganisator Abu Bara'a will Pire wiederum aus "irakischen Sicherheitskreisen" haben. Damit sind wir auf der Ebene der Geheimdienste angelangt, was eine besondere Skepsis erfordert. Und dann erfährt man: Die irakischen Behörden sollen, was den Berliner Anschlag angeht, konkret "offenbar keine Erkenntnisse" haben.

Wie nun? Eine These ohne Beleg? Ein Kronzeuge, der keiner ist? Der Film präsentiert noch einen zweiten "Kronzeugen" mit dem selben substanzlosen Befund. Der ehemalige türkische IS-Kämpfer Ilyas Aydin soll ex-Mitarbeiter von Abu Bara'a gewesen sein, will aber ebenfalls vom Weihnachtsmarkt-Anschlag in Berlin "nichts gewusst" haben. Stattdessen sagt er aus, Abu Bara'a sei Ende 2016 getötet worden.

Eine Geschichte, die aus purer Spekulation besteht, setzt die ARD tatsächlich ihrem Publikum vor?

Die Ausrichtung der Dokumentation bedeutet nicht nur, dass sie allen Widersprüchen zum Trotz ungerührt das Amri-Täter-Narrativ kolportiert, sondern vor allem, dass sie die Hintergründe des Anschlags ins ferne Ausland, den Irak, verlagert. Doch die liegen, nach allem, was wir wissen, in Deutschland und in Berlin. Und damit liegt auch der Schlüssel für die Lösung in Deutschland und Berlin. Davon lenkt der ARD/RBB-Beitrag ab.

In der Fernsehdokumentation kommen auch ein paar Ausschussmitglieder von damals zu Wort, unter anderem der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser. Deshalb und aus aktuellen politischen Gründen noch eine Bemerkung: Die Bundestags-Oppositionellen vom Sommer 2021 sind im Herbst 2021 nun zum Teil Regierungsmitglieder.

Strasser, der im Untersuchungsausschuss einer der intelligenten und konsequenten Fragensteller war, ist heute parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium. Diesem Ministerium untersteht die Bundesanwaltschaft, die die Breitscheidplatz-Ermittlungen leitet.

Auseinandersetzungen, die der Abgeordnete Strasser beispielsweise mit dem verantwortlichen Bundesanwalt Horst Salzmann führte, könnten jetzt in eine neue, andere Runde gehen. Die Frage wäre zum Beispiel: Transformiert Strasser sein Aufklärungsinteresse heute in Regierungshandeln?

Sorgt er mit für die ausgebliebene Aufklärung, für die Vorlage der relevanten Akten und das Erscheinen der notwendigen Zeugen? Oder steht er nun auf der anderen Seite der Barrikade und folgt anderen Interessen?