Anis Amri: Untersuchungsausschuss gibt eigenes Spuren-Gutachten in Auftrag
Grund: Die Ermittlungsergebnisse des BKA zum Anschlag vom Breitscheidplatz sind ungenügend und unglaubhaft. Weiterer Hinweis, dass Amri ein Handy bei sich hatte, als er getötet wurde
Setzen Sechs! Die Ermittlungsarbeit zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin ist ungenügend. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags hat beschlossen, ein eigenes Gutachten in Auftrag zu geben, mit dem die Spurenlage in dem Terrorkomplex unabhängig geprüft werden soll. Das bezieht sich unter anderem auf die Funde in der Fahrerkabine des Lastwagens, mit dem der Attentäter am 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt gerast war. Auf die Funde am "Tatort" Sesto San Giovanni, wo der Tunesier Anis Amri erschossen wurde sowie auf die Obduktion von dessen Leichnam. Der 24-Jährige gilt in der offiziellen Version als alleiniger Täter.
Gerade weil die von den Ermittlungsbehörden präsentierten Spurenergebnisse diese Täterfestschreibung immer weniger belegen können und der Untersuchungsausschuss stattdessen auf immer neue Details stößt, die zum Gegenteil führen, entschlossen sich die Abgeordneten jetzt zu dem Schritt, eine unabhängige Auswertung der Spurenlage vornehmen zu lassen. Wer, welches Institut, damit beauftragt werden soll und auf welcher Dokumentenbasis, muss noch entschieden werden. Den hauptsächlichen Ermittlungsbehörden Bundesanwaltschaft, Bundeskriminalamt und Landeskriminalamt (LKA) Berlin wird mit diesem Vorgehen ein Armutszeugnis ausgestellt.
Strenggenommen ist die Situation noch dramatischer: Die Arbeit der Ermittlungsorgane erweist sich nicht nur als oberflächlich und lückenhaft, sie ist auch geprägt von offenen Vertuschungen. Der Verdacht: Mit der offiziellen Anis-Amri-Alleintäter-Theorie sollen mehrere andere Beteiligte an der Terrortat geschützt werden, anzunehmender Weise, weil sie V-Personen von Sicherheitsbehörden sind oder waren.
Damit holt auch der ungeklärte NSU-Terrorkomplex den Sicherheitsapparat wieder ein und setzt die Frage auf die Tagesordnung, den staatlichen Umgang mit Terrorwilligen und Terrorstrukturen einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Werden Anschläge tatsächlich verhindert oder eher begünstigt?
Italien ist ein wesentlicher Schauplatz der Geschichte
Die Zweifel an der Korrektheit der Arbeit der deutschen Ermittler setzten sich in der letzten Sitzung des Bundestagsausschusses vor der Sommerpause fort. Vernommen wurde unter anderem der Verbindungsbeamte des BKA in Italien im fraglichen Zeitraum von Juni 2016 bis Mai 2020, Kriminalhauptkommissar (KHK) A.H.
. Anis Amri und eine Reihe anderer Tunesier, wie Bilel Ben Ammar, waren aus Italien nach Deutschland gekommen, wo sie sich mit "deutschen" gewaltbereiten nominellen Islamisten verbanden. Bei dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz gab es italienische Opfer. Der LKW, der zum Tatwerkzeug gemacht wurde, war mit einer Ladung aus Italien gekommen. In Italien fand Anis A., der die Tatpistole bei sich hatte, den Tod. Und in Italien führte eine eigene "Arbeitsgruppe Berlin" Terrorermittlungen durch. Sie tauschte sich auch mit den Kollegen in Berlin aus. Die italienischen Spezialisten waren dafür mehr als einmal in die deutsche Hauptstadt gereist.
Aus den italienischen Ermittlungen hatten sich mehrere brisante Aspekte ergeben. So soll Anis Amri, als er in dem Mailänder Vorort Sesto San Giovanni erschossen wurde, ein Mobiltelefon bei sich gehabt haben, was ein wichtiges Beweismittel wäre.
Außerdem ergab sich aus Telefonüberwachungen eines in Brindisi inhaftierten Berliner Islamisten, dass eine ganze Gruppe um die radikale Fussilet-Moschee in Berlin mit dem Anschlag zu tun gehabt haben könnte. Und dass der zweite Amri unter ihnen, Soufiane Amri, möglicher Spitzname "Fuffy", sogar direkt mit dem Tat-LKW in Verbindung gebracht wurde. Beide Sachverhalte, Mobiltelefon und Täter Soufiane A., werden von deutscher Seite offiziell bestritten bzw. abgetan (Die zwei Amris).
So auch jetzt vom BKA-Verbindungsmann in Rom gegenüber dem Untersuchungsausschuss im Bundestag. Zu einem Großteil der Fragen konnte er nichts sagen oder sich nicht erinnern, bei zweien war er allerdings sehr entschieden und konkret: Anis Amri habe kein Mobiltelefon bei sich gehabt, als er erschossen wurde. Und: Von Soufiane Amri (Fuffy) als möglicher Fahrer des Tat-LKWs wisse er nichts.
Bei genauer Betrachtung allerdings eine brüchige Darlegung.
Von Anfang an habe es geheißen, so KHK A.H., bei dem Getöteten sei am Tatort kein Handy, Tablet oder Computer gefunden worden. Die Verwirrung, dass er doch ein Mobiltelefon bei sich gehabt haben soll, sei "Jahre später" durch einen Bericht der Questura [Polizeipräsidium] in Brindisi entstanden. Beim BKA habe man sich darüber gewundert. Er habe deshalb Gespräche geführt und die Frage "ausrecherchiert". Ihm sei bestätigt worden, dass es kein Handy gegeben habe. Mit dem Verfasser des Berichtes aus Brindisi selber habe er aber keinen Kontakt gehabt.
"Jahre später"? Irgendwie muss sein Zeitgefühl gelitten haben, denn der fragliche Bericht der zentralen "Ermittlungsgruppe Berlin" innerhalb der italienischen Terrorermittler datiert vom 19. Januar 2017, exakt einen Monat nach dem Anschlag. Möglicherweise meinte der BKA-Mann einen anderen Vorgang.
Richtig ist, dass das BKA selber Jahre später, im Frühjahr 2019, plötzlich das Interesse bekam, die Frage nach dem Amri-Handy abschließend und negativ bescheinigen zu lassen. Dieser Zeitpunkt korrespondiert damit, dass der Untersuchungsausschuss das Thema auf die Tagesordnung setzte. Das BKA konnte das wissen, weil es selber im Ausschuss sitzt und mit anderen Vertretern der Exekutive, darunter das Bundesinnenministerium, auch an internen Beratungssitzungen des Bundestagsgremiums teilnimmt.
Dass bei Anis Amri ein Mobiltelefon gefunden worden sein soll, ist allerdings kein dummes Missverständnis, sondern, so zumindest die Erinnerung eines der italienischen Ermittler, die faktische Wiedergabe der Aktenlage zu den Tatortermittlungen in Mailand.
Fuffy oder Vorfall?
Hatte Soufiane Amri ("Fuffy") etwas mit dem Anschlag zu tun - oder handelte es sich bei dem Wort um einen Verhörer? Die Gesprächspartner eines abgehörten Telefonates hätten von "Vorfall" gesprochen und nicht von "Fuffy". So stellen es mehrere deutsche Behörden dar. Und auch der BKA-Zeuge A.H. stützte diese Darstellung. Dabei lieferte er aber gleichzeitig bemerkenswerte Erkenntnisse der italienischen Terrorermittler zum verdächtigen Anschlagspersonenkreis in Berlin.
Die italienischen Kollegen der DCPP (Direzione Centrale della Polizia di Prevenzione), vergleichbar dem BKA, ließen ihn nach Brindisi kommen, wo er sich die abgehörten Telefonate von Ende Dezember 2016 zwischen Nkanga L. und einer nicht identifizierten Person anhören sollte, die in Deutsch geführt wurden. Er habe zwei der Gespräche abgehört, zweimal habe er das Wort "Vorfall" verstanden, das Wort "Fuffy" aber nicht. "Fuffy" sage ihm nichts, "Vorfall" dagegen habe in den Kontext gepasst, sprich den Anschlag vom Breitscheidplatz. Allerdings seien die Gespräche schwer verständlich gewesen, weil sie über Mobilfunk geführt wurden, aber auch wegen des restringierten Codes der Sprechenden, ihrem starken Dialekt und weil sie in Andeutungen und Anspielungen kommunizierten. Es sei schwierig gewesen, etwas "zweifelsfrei" zu verstehen, schränkte er ein.
Der Begriff "Fuffy" respektive "Vorfall" taucht in den verschriftlichten Protokollen mindestens 14-mal auf. Der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler (CDU) las mehrere Passagen vor, die einzeln ausnahmsweise den Schluss zulassen könnten, es sei von einem "Vorfall" gesprochen worden und nicht von einer Person namens "Fuffy". In ihrer Gesamtheit macht nur der Name "Fuffy", stehend für Soufiane, Sinn. (Siehe Telepolis: Die zwei Amris).
Unbestritten ist allerdings, dass es bei der Kommunikation um den Anschlag von Berlin ging. Die italienischen Terrorfahnder wollten deshalb umgehend ihre deutschen Kollegen informieren. Nkanga L. und Soufiane Amri wurden auf Seiten der DCPP so eingeschätzt, das von beiden mögliche Terrorgefahren ausgehen könnten. Auffällig war obendrein die Namensgleichheit von Anis und Soufiane Amri. Da sei bei allen die "Lampe angegangen", so der Zeuge A.H. Beide standen auch auf Facebook miteinander in Verbindung.
Eine Dringlichkeit, zu der die Haltung des BKA in Sachen Ermittlung und Aufklärung nicht so richtig passen will.
Werden V-Leute gedeckt?
Offene Fragen gibt es weiterhin nicht nur zur merkwürdigen Fluchtroute von Anis Amri, sondern auch zum Ort und den Umständen, unter denen er zu Tode kam.
Zufall, dass der Lastwagen, der in Berlin zum Anschlagswerkzeug wurde, knapp zwei Kilometer entfernt und nur wenige Tage zuvor noch ein Gepäckstück aufnahm? Ist das Fahrzeug vielleicht Teil der Antwort zur Frage, woher die drogendealenden Islamisten in Berlin ihren Stoff bezogen? Warum traf Amri eine Kugel in den Rücken? Warum waren an dem Zugriff zwei neonazistische italienische Polizeibeamte verwickelt, die sich auf Facebook mit Hitler-Bild und Mussolini-Gruß präsentierten? Und warum hat das BKA nicht selbst mit ihnen gesprochen, so wie es akzeptierte, sämtliche Asservate nicht direkt in Augenschein nehmen zu können?
Es gibt einen konkreter werdenden Verdacht: Ist die deutsche Ermittlungsarbeit zum Terroranschlag vom Breitscheidplatz deshalb derart inkorrekt, weil V-Leute verwickelt sind? Wieder einmal. Sie zu schützen, hieße zugleich, die verantwortlichen Behörden zu schützen. Schützt also das BKA durch seine de facto Nicht-Ermittlungen sich selbst? Ist darin das befremdliche Verhalten der obersten deutschen Polizeibehörde begründet, die viele Befunde nicht erklären kann und deren Vertreter seit Monaten in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen wie paralysiert ihre eigene Anschlagsversion nicht verteidigen können? Oder gibt es noch höher gelagerte Interessen außerhalb des deutschen Einflussbereichs, auf die BRD-Behörden Rücksicht zu nehmen haben? In dem weiten internationalen Feld Islamischer Staat (IS) ist das nicht ausgeschlossen.
Eines der wichtigsten Staatsschutzverfahren im Bereich Dschihadismus ist das gegen den Deutschsprachigen Islamkreis (DIK) in Hildesheim und seinen Agitator Abu Walaa. Die wichtigste Quelle der Strafverfolger in der Gruppierung war die VP 01, Deckname "Murat Cem". Der Spitzel war, wie man jetzt aus dem Mund eines Bundesanwalts erfuhr, insgesamt in drei Staatsschutzverfahren eingesetzt. Er hatte bis etwa Juli 2016 mehrere Monate lang auch Kontakt zu Anis Amri.
Das BKA wollte diese Quelle Anfang 2016 "aus dem Spiel nehmen" und unbrauchbar machen. Das kann durch die Aussage des Kriminalbeamten Rasmus M. vom LKA Nordrhein-Westfalen (NRW) im November 2019 vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags als belegt gelten.
Das BKA samt seinem Dienstherren Bundesinnenministerium widersprach zwar der Darstellung aus Düsseldorf, so dass formal Aussage gegen Aussage steht. Da die Aussage des NRW-Beamten M. aber stimmiger ist und allgemein für glaubwürdiger erachtet wird, hat die Affäre dem Ansehen des BKA massiv geschadet und zu seinem desaströsen Bild mit beigetragen.
Quelle VP 01
Unbeantwortet ist allerdings die Frage, welches Motiv das BKA hatte, was es bezweckte und welchen Hintergrund es möglicherweise gibt. Sicher ist: Die VP 01 aus dem Spiel zu nehmen, hätte das DIK-Verfahren zum Platzen gebracht und die fünf angeklagten Hauptakteure geschützt. Das BKA wusste um diese Konsequenz. Warum trotzdem der Angriff auf die VP 01?
Der Untersuchungsausschuss hat sich in mehreren Sitzungen mit dem Konflikt befasst. Mit Bundesanwalt Horst Rüdiger Salzmann war nun derjenige Zeuge geladen, der die konfliktträchtige Sitzung vom 23. Februar 2016 anberaumt hatte, auf der es um die VP 01 ging und die mehr als dreieinhalb Jahre und einen Anschlag später Schlagzeilen machen sollte. Auch Salzmann findet den aufgebrochenen Streit zwischen dem Düsseldorfer LKA, das mit der Ermittlungskommission (EK) Ventum unter Leitung von Rasmus M. die Ermittlungen gegen den DIK führt, und dem BKA "merkwürdig". Er hatte aber keine Erklärung dafür. Eine solche Situation habe er auch nicht mehr erlebt.
Die Bundesanwaltschaft (BAW) in Karlsruhe ist für das Staatsschutz- und Terrorverfahren gegen die fünf Beschuldigten des DIK Hildesheim verantwortlich. Die Sorge Salzmanns im Februar 2016 war, wie er jetzt im Ausschuss schilderte: Wenn das BKA die wichtige Quelle VP01 so grundlegend abqualifiziere, müsse er das gegenüber dem Bundesgerichtshof (BGH) erwähnen, wenn er dort Überwachungsbeschlüsse beantrage. Sollten die Ermittlungsrichter sie deshalb verweigern, sei das gesamte Verfahren in Gefahr. Diese Lage wollte der Bundesanwalt mit den Kontrahenten von LKA NRW und BKA erörtern.
Die Quelle VP 01 arbeitete seit Jahren für die Polizei in Nordrhein-Westfalen, allerdings vor allem im Bereich Organisierte Kriminalität (OK). Doch welches Standing hatte sie in der dschihadistischen Szene? Sieht man davon ab, dass sich OK-Szene und dschihadistische Szene nicht selten überschneiden, weil Terrorwillige ihre Pläne mit kriminellen Geschäften finanzieren, wie etwa Drogenhandel.
Die Quellenführer aus NRW machten geltend, dass ein Gewährsmann in der gewaltbereiten islamistischen Szene, eine "hochgeachtete Person" in einer "hochrangigen Stellung", für die VP 01 "gebürgt" habe, so dass sie dort eingesetzt werden konnte.
Doch damit ist zugleich wieder die nächste grundlegende Frage aufgeworfen: Wenn die nordrhein-westfälische Polizei eine einflussreiche Person einsetzt, um eine Quelle in die Szene zu schleusen, muss sie dann nicht selber über Einfluss auf diese Gewährsperson verfügen? Der nächste Informant also?
Ob der Untersuchungsausschuss die inzwischen abgeschaltete Quelle "Murat Cem" selber befragen kann, ist unklar. Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen hat Bedenken dagegen geltend gemacht. Für den Spiegel hat der Ex-Spitzel allerdings an einem Buch mitgewirkt, das im Frühjahr 2020 erschienen ist.