Hatte Anis Amri bei seiner Flucht doch ein Handy bei sich?
In Berichten italienischer Terrorfahnder wird ein Mobiltelefon bei dem Getöteten erwähnt - Missverständnis oder weiteres Beispiel für Vertuschung?
Hatte Anis Amri bei seiner dreitägigen Flucht von Berlin quer durch Europa nach Mailand ein Mobiltelefon bei sich - oder nicht? Dieses Detail ist von entscheidender Wichtigkeit, weil es viele ungeklärte Fragen beantworten könnte: Mit wem der angebliche Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz nach der Tat in Kontakt stand, worüber sie kommunizierten, wen er möglicherweise traf, wohin er wollte und warum.
Offiziell heißt es heute, es sei bei ihm, nachdem er im Mailänder Vorort Sesto San Giovanni erschossen wurde, kein Handy gefunden worden. Doch so eindeutig ist das nicht. Es gibt italienische Schriftstücke, aus denen das Gegenteil hervor geht. Vor allem von deutscher Seite wird der Handyfund in Italien als "Missverständnis" wegdefiniert.
Weil es bei dem Anschlag am 19. Dezember 2016 in Berlin auch italienische Opfer gab, wurde in Italien eine spezielle "Ermittlungsgruppe Berlin" eingerichtet, die sich aus Kräften der Terrorismus-Sonderkommissionen (DIGOS: Divisione Investigazioni Generali Operazioni Speciali) in Brindisi und Tarent zusammensetzte. Brindisi deshalb, weil dort seit Anfang Dezember 2016, zwei Wochen vor dem Anschlag, ein Mitglied der radikalen Fussilet-Moschee von Berlin, der Kongolese Nkanga L., in Haft saß und dort gegen ihn ermittelt wurde.
Das Handy, das Amri am Tag seines Todes "bei sich trug"
In den Ermittlungsakten aus Brindisi kann man nun in einem schriftlichen Vermerk unter dem Datum vom 19. Januar 2017 lesen, dass beim toten Anis Amri ein Mobiltelefon gefunden wurde, das er "bei sich getragen" habe. Zunächst informiert der Bericht über die Fussilet-Moschee in Berlin und dass Emrah Civelek dort verkehrte. Dann heißt es:
Außerdem sollte ergänzt werden, dass die Rufnummer +49-XXX, in Gebrauch von Emra Abi (Civelek), auch im Telefonbuch des aufgefundenen Telefons vermerkt war (das Anis Amri bei sich trug, als er auf der Flucht nach dem Attentat vom 19. Dezember 2016 infolge eines Schusswechsels mit Beamten der Polizei am 23. Dezember in Sesto San Giovanni starb.
Es wird hier also direkt auf ein Telefon verwiesen, das Amri bei sich getragen haben soll. Der italienische Begriff dafür lautet "indosso".
Die Spezialisten in Brindisi kannten zu dem Zeitpunkt die Bedeutung von Emrah Civelek. Dessen Name war bei den Ermittlungen zum Anschlag und im Zusammenhang mit den beiden anderen Berlinern aus Anis Amris Umfeld aufgetaucht, Nkanga L. und dem Namensvetter Soufiane Amri. Sie waren Anfang Dezember 2016 in Italien festgenommen worden. Soufiane A. wurde nach Berlin zurückgeschickt, weil er deutscher Staatsbürger ist. Der Kongolese Nkanga L. kam in Haft. Bei der Telefonüberwachung ergaben sich ernst zu nehmende Hinweise auf eine Beteiligung von Soufiane Amri, Spitzname "Fuffy", beim Attentat in Berlin (Die zwei Amris).
Emrah C. spiele eine "hervorgehobene Rolle in der Gruppe", so die Einschätzung der AG Berlin in Brindisi. Und weiter: Die "Planung des Anschlags" sei unter "Beteiligung von Soufiane A. und Emrah C." geschehen. Die italienischen Terrorfahnder formulierten die Annahme, Anis Amri und Soufiane Amri seien "bei der Flucht von Emrah C. unterstützt" worden. Die Einschätzung bekommt eine besondere Dramatik dadurch, dass Emrah Civelek allem Anschein nach nicht nur ein Komplize war, sondern zugleich auch eine mögliche "V-Person" der Polizei, also des BKA oder des LKA Berlin.
In der übersetzten Akte der AG Berlin in Brindisi, die im März 2017 an die deutschen Behörden versandt wurde und in der es unter anderem um Erkenntnisse zur Person Soufiane Amri geht, kann man ebenfalls lesen, die Rufnummer von Emrah C. habe im Telefonbuch des "Handys von Anis Amri" gestanden, das "bei ihm gefunden wurde, als er erschossen wurde".
Die Formulierung "bei sich getragen" drückt einen anderen Befund aus, als etwa den Fund zweier Amri-Handys im und am Tat-LKW in Berlin.
Rätselhaft ist nun: Im Verzeichnis der Asservate, die Amri in Italien bei sich hatte, ist kein Mobiltelefon aufgeführt. Allerdings ist die Asservatenliste unvollständig und von begrenztem Wert. Den deutschen Ermittlern ist aufgefallen, dass mehrere Gegenstände fehlen, die auf den Tatortfotos von Sesto San Giovanni zu sehen seien: Ein schwarzer Stoffbeutel und eine Packung mit weißen Kabelbindern beispielsweise. Andererseits ist ein Gegenstand aufgelistet, ein Pflaster, das auf den Tatortbildern wiederum nicht zu erkennen sei.
Vor genau einem Jahr, am 27. Juni 2019, war der Hauptsachbearbeiter des Tatkomplexes Breitscheidplatz bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, Oberstaatsanwalt Helmut Grauer, als Zeuge vor den Untersuchungsausschuss des Bundestags geladen. Dabei thematisierte die Abgeordnete Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) auch das fragliche Mobiltelefon Amris. Wörtlich führte sie aus: "Aus den italienischen Unterlagen geht auch hervor, dass an dem Ort, an dem Anis Amri aufgegriffen worden ist und dann erschossen wurde von den Carabinieri, dass er dort in Besitz eines weiteren Mobiltelefons gewesen ist."
Darauf antwortete der Zeuge Grauer zunächst so: "Ja, da kann ich Ihnen einiges dazu sagen. Das hat mich auch ziemlich viel beschäftigt. Es hieß immer wieder: Da soll ein Mobiltelefon gefunden worden sein." Dann erklärte er, das BKA sei "sehr zeitnah" nach Amris Tod vor Ort und "zusammen mit den italienischen Polizeikollegen bei den Ermittlungen anwesend" gewesen. Die deutschen Polizeibeamten hätten immer gesagt: "Da wurde kein Mobiltelefon gefunden."
Zweieinhalb Jahre nach Amris Tod will das BKA nun erst klären, ob er ein Handy bei sich hatte
Heute weiß man, dass die deutschen Ermittler weder die Leiche noch die Tatwaffe noch irgendwelche sonstigen Asservate physisch in Augenschein nehmen, sondern lediglich Fotos davon sehen konnten. Grauer sagte in der Ausschusssitzung dann weiter, dass auch nach den Erkenntnissen der italienischen Behörden in den Asservaten und auf detaillierten Lichtbildaufnahmen kein Mobiltelefon zu finden sei. Er führte aus:
Es war ja gerade das Interessante, dass Anis Amri auf der Flucht eben kein Mobiltelefon, sondern nur eine SIM-Karte hatte. So. Trotzdem tauchte immer wieder die Behauptung auf, da sei eines gewesen. Dem bin ich dann letztendlich noch mal nachgegangen, weil ich diese Spur aus dem Weg schaffen wollte. Ich wollte wissen: Was ist da los? Gab es jetzt eins, dann will ich es aber auch haben und auswerten, oder gab es jetzt keines?
Es sagte tatsächlich: "Weil ich diese Spur aus dem Weg schaffen wollte." Dann erklärte der Karlsruher Oberstaatsanwalt, dass das Bundeskriminalamt über seinen Verbindungsbeamten in Italien noch einmal nachgefragt habe, was da los sei. Und er befand:
Die ganze Sache löst sich relativ leicht auf. Ein Beamter, der mit den Ermittlungen nicht beteiligt gewesen ist, einer Dienststelle, die nicht mit den Ermittlungen wegen des Todes von Amri beteiligt gewesen sind, hat da schlicht etwas durcheinandergeworfen oder sehr unscharf formuliert. Der meinte in seinem Vermerk nicht das Handy, das bei Amri in Italien gefunden worden ist, der meinte ein Handy, das Amri am Tatort in Deutschland zurückgelassen hat.
Und er endete damit, es sei von den Italienern jetzt noch mal bestätigt worden, dass in Italien kein Mobiltelefon bei Amri gefunden worden sei.
In Berlin zurückgelassenes Handy verwechselt mit in Mailand aufgefundenem Handy - das kommt doch ein bisschen sehr billig daher. Zumal es sich bei besagter Dienststelle, die nicht mit den Ermittlungen zum Tod von Amri beauftragt gewesen sei, um keine geringere als die AG Berlin mit ihren Terrorspezialisten in Brindisi handelte. Das ergaben Nachfragen der Abgeordneten Martina Renner (Linkspartei) in der damaligen Ausschusssitzung.
Renner: "Sie hatten jetzt als Argument eingeführt, warum dieser Vermerk dort nicht ganz so ernst zu nehmen sei, sondern man die Beamten vor Ort besser fragt: weil ja Brindisi so weit weg ist von Sesto San Giovanni. Nun, diese Einheit, die in Brindisi diesen Vermerk geschrieben und die Ermittlungen geführt hat, das ist die Digos. Das ist eine Spezialeinheit zur Terror- und Extremismusbekämpfung. Denen vorzuhalten, dass sie in Brindisi sitzen und nicht in Sesto San Giovanni, ist ungefähr so, wie dem BKA vorzuhalten, dass es in Meckenheim sitzt und nicht in Chemnitz. Also der Ort, wo die sitzen, sagt gar nichts über ihre Qualifikation. Es ist halt nicht irgendjemand gewesen in Italien. Also wieso wird die diesmal so runtergerated irgendwie zu irgendwelchen Leuten, die in Brindisi sitzen? Das verstehe ich nicht."
Zeuge Grauer: "Ich glaube, da gibt es jetzt relativ wenig zu erklären. Wenn es darum geht..."
Renner: "...diese Leute sind die Staatsschutzexperten."
Zeuge Grauer: "Ja, aber in Brindisi. Und wenn es darum geht, ob etwas, ein physischer Gegenstand, bei Mailand gelegen hat, dann sagt mir meine Erfahrung, dass eine Person, die in Mailand gewesen ist, das besser beurteilen kann als eine Person, die in Brindisi sitzt, ob sie ein Staatsschutzexperte ist oder nicht. Da geht es um eine unmittelbare Wahrnehmung: Lag da ein Handy, oder lag da kein Handy?"
Der entsprechende BKA-Vermerk zu den Nachfragen in Italien war so brandaktuell, dass er dem Ausschuss noch nicht vorlag. Er datiert vom 8. Mai 2019, also nur wenige Wochen vor der Ausschusssitzung. Zugleich aber zweieinhalb Jahre nach Amris Tod. Da erst will das BKA geklärt haben, ob der Tote ein Mobiltelefon bei sich hatte oder nicht.
Italienische Polizei korrigiert angeblich missverständlichen Bericht
Vier Wochen nach der Sitzung ging der fragliche BKA-Vermerk dann auch beim Untersuchungsausschuss ein. Aus ihm geht hervor, dass das BKA Ende April 2019 seinen Verbindungsmann in Rom beauftragte, die Passage im Bericht aus Brindisi inhaltlich zu "verifizieren", Amri habe in Mailand ein Mobiltelefon bei sich getragen. Das widerspreche BKA-Erkenntnissen, dass kein Mobiltelefon gefunden worden sei, wurde ihm mit auf den Weg gegeben. Um was für Erkenntnisse genau es sich handelte und wie sie gewonnen wurden, steht nicht in dem Vermerk.
Die gewünschte "Verifizierung" ergab: Dem BKA-Verbindungmann wurde von der übergeordneten zentralen Staatsschutzbehörde Italiens DCPP (Direzione Centrale della Polizia di Prevenzione) mitgeteilt, und zwar "mündlich", der Bericht aus Brindisi sei "ungenau und missverständlich". Das habe das Polizeipräsidium in Brindisi eingeräumt. Man habe in dem Bericht nicht ausdrücken wollen, dass Amri ein Mobiltelefon "bei sich getragen" habe. Außerdem habe DIGOS Mailand "auf Nachfrage" ebenfalls bestätigt, dass am Ereignisort "kein Mobiltelefon" von Amri aufgefunden worden sei.
Bericht aus Brindisi "missverständlich"? Es war das genaue Gegenteil. Interessant ist die wortgetreue Übernahme der Ursprungspassage, die dann mit anderem Vorzeichen versehen wurde. Im Bericht aus Brindisi vom 19. Januar 2017 heißt es: "..indosso..." - Amri habe ein Handy "bei sich getragen". Nun wird erklärt, die Ermittler in Brindisi hätten nicht ausdrücken wollen, er habe ein Handy "bei sich getragen".
Amri war nach der Tat und auf seinem Weg nach Italien mehrfach mit einem Handy gesehen oder videografisch festgehalten worden. Am Ende einer Videoaufnahme in der U-Bahn-Unterführung am Zoo wenige Minuten nach dem Anschlagszeitpunkt sieht man, wie er einen Gegenstand aus dem Anorak nimmt. Es könnte ein Handy gewesen sein. Am 21. Dezember 2016 traf ihn ein Zeuge um 7 Uhr im Bus von Emmerich nach Kleve. Er kannte Amri. Der habe ihn sogar angesprochen, gab er später zu Protokoll, habe ihn gefragt, wie es ihm gehe, habe ihm die Hand gegeben. Dann will sich der Bekannte zu ihm gesetzt haben, und sie hätten sich unterhalten. Amri hatte ein Telefon bei sich, ist sich der Zeuge sicher.
Im Bahnhof im niederländischen Nimwegen nahm Amri bei einer Werbeaktion eine SIM-Karte entgegen, die er nicht benutzt hat und die bei seinen Asservaten gefunden wurde. Auf Überwachungsvideos in den Bahnhöfen von Nimwegen, Amsterdam und Brüssel ist zu sehen, wie Amri einen Gegenstand an das Ohr hält, wie wenn er telefoniere oder ein Handy in der Hand zu halten scheint. Jedenfalls gibt es mehrere Hinweise, dass er ein Mobiltelefon bei sich hatte.
Seine Kommunikation damit könnte naturgemäß Wissen über Tat und Täter offenbaren. Mit wem stand er in Verbindung? Hatte er Hilfe bei der Flucht? Wurde er vielleicht gelotst, von Ort zu Ort? Denn seine Route von Berlin nach Sesto San Giovanni bei Mailand verläuft merkwürdig und auf den ersten Blick wenig logisch. Warum begibt er sich nicht auf direktem Weg dorthin, sondern über Emmerich, Amsterdam, Brüssel, Lyon, Turin, Mailand?
In der italienischen Zeitung Il foglio erschien am 23. Dezember 2016, dem Tag, an dem Amri den Tod fand, in der Internetausgabe ein Artikel mit der Überschrift: "Die Falle der Dienste".
Eine ungenannt bleiben wollende Quelle, so das Blatt, habe berichtet, dass eine Gruppe aus verschiedenen Geheimdienstleuten, darunter italienische und tunesische Spezialisten, Amri in der Gegend von Bergamo erwartet hätte. Die Stadt liegt etwa 40 Minuten mit dem Auto von Sesto San Giovanni entfernt. In der Nähe von Bergamo habe Amri auf ein Netz von Tunesiern vertrauen können, die wie er im Jahr 2011 in Lampedusa angekommen seien. Viele seien aber keine Islamisten, sondern Kleinkriminelle. Dieses Netz sei von den Diensten überwacht worden, weil man Amri dort erwartete. Diese Ecke Europas sei Amri nach Deutschland am meisten vertraut, heißt es in dem Text.
Dazu passt, dass eine Berlinerin, die mit Amri gesprochen hat, dessen norditalienischer Akzent im Gedächtnis geblieben ist. Es sei nicht der Dialekt von Mailand, sagt die Frau, aber aus der Ecke, da habe sie keine Zweifel.
Bei der Ausschusssitzung im Bundestag am 2. Juli, der letzten vor der Sommerpause, wird jener Verbindungsbeamte des BKA in Italien als Zeuge befragt, der auch mit der Causa Mobiltelefon befasst war. Im März war seine Anreise aus Rom am Corona-Lockdown und den geschlossenen Grenzen gescheitert.