Anschlag auf Nord Stream: Wessen Staatswohl ist die Bundesregierung verpflichtet?

Verstanden sich schon immer bombig: Scholz und Selenskyj, hier in Vorkriegstagen 2022. Bild: president.gov.ua, CC BY 4.0

Nach Angriff im September 2022: Immer neue Spuren führen in die Ukraine. Das politische Berlin reagiert mit Schweigen und Unwahrheiten. Warum das kritikwürdig ist. Ein Telepolis-Leitartikel.

Das Drama um die Angriffe auf drei der vier Stränge der Gaspipeline Nord Stream Ende September letzten Jahres nimmt kein Ende - und spitzt sich an unerwarteter Stelle zu: Denn während immer neue unangenehme Fakten publik werden und Schweden noch in diesem Jahr aufsehenerregende Ergebnisse eigener Untersuchungen präsentieren möchte, verdichten sich die Hinweise auf eine Spur in die Ukraine.

Doch die Bundesregierung bleibt ebenso passiv wie die EU. Dabei dürfte es sich um einen der größten Angriffe auf die europäische Infrastruktur in der Geschichte handeln.

Noch ist nicht klar, wer dafür verantwortlich ist. Es fällt aber auf, dass politische Akteure wie auch führende Medien einer seltsamen Neigung zu folgen scheinen, der russischen Regierung die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Und natürlich ist das nach wie vor nicht auszuschließen. Aber angesichts der sich verdichtenden Spuren in die Ukraine wirkt es geradezu skurril, wie deutsche Verteidigungspolitiker an der Moskau-These festhalten.

Im Fall des CDU-Kaltkriegspolitikers Roderich Kiesewetter klingt das dann so: "Ich halte es schon für naheliegend, dass es Russland gewesen sein könnte." Großartig, dieser Satz aus dem ARD-Morgenmagazin, der wohl nur deshalb so widerspruchslos durchgegangen ist, weil alle noch konzentrationsgemindert am ersten Morgenkaffee nippten.

Der Oberst a.D. und MdB i.D. suggerierte also Sach- oder gar Faktenkenntnis, um sich mit dem nachgeschobenen Konjunktiv die Tür zu einem – um einen pharmakologischen Begriff militärpolitisch zu missbrauchen – Preemptive Withdrawal offenzuhalten.

Das muss man erst einmal verstehen, und deshalb schiebe ich als Experte für politische Sprache und auch ohne am Wochenende unsere Rechtsabteilung behelligt zu haben nach: "Ich halte es schon für naheliegend, dass Roderich Kiesewetter entweder keine Ahnung hat, wovon er redet, oder ein von Steuergeldern finanzierter Lügner sein könnte." Aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Das ist nur so dahergeschrieben.

Wobei, nicht ganz. Denn wie der Kollege Friedrich Küppersbusch kürzlich schon ausgeführt hat, war Kiesewetter offenbar bereits vor seiner Sommerpause 2022 als stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums darüber informiert, dass die Ukraine einen Anschlag auf die Pipelines in die EU plant. Und, na ja, nach der Sommerpause knallte es dann auch auf dem Grund der Ostsee – Surprise, Surprise!

So jedenfalls berichtete kürzlich die Washington Post unter Berufung auf geleakte US-Geheimdokumente, was auch Telepolis aufgriff. Dass Kiesewetter die Öffentlichkeit also, das Wortspiel sei erlaubt, de facto mit Fakenews versorgt und dabei zumindest offiziell nur von ebendieser Öffentlichkeit, also dem Souverän, also uns, bezahlt wird, könnte durchaus weiter diskutiert werden.

Nord Stream, Olaf Scholz und ein Eid

Die einzige Partei, die hier wieder einmal genüsslich in die Bresche springt, ist die AfD, die, wie wir diese Woche berichteten, mit einer Siegesgewissheit durch die Umfragen marschiert wie die Nationalsozialisten Ende Januar 1933 durch das Brandenburger Tor.

Dass ausgerechnet die neuerdings blaugefärbten Braunen auf Aufklärung des angeblich ja ukrainischen Energieterrorismus drängen und für Frieden mit Russland plädieren, als sei dessen Krieg ein Fliegenschiss in der europäischen Friedensordnung, entbehrt nicht einer gewissen Ironie und hat nicht wenige politisch verwirrt.

Es lässt sich zumindest mit einem gewissen Gespür für politisch gewinnbringende Themensetzungen erklären. Die anderen, die es im Bundestag könnten, weil sie sich der NATO weniger verpflichtet fühlen, nämlich die Linken, spielen derweil Volksfront von Judäa gegen Judäische Volksfront.

Noch im November 2022 hatten die Neosozialisten - es war das Wagenknecht-Lager - in einer Kleinen Anfrage auf Aufklärung gedrängt. Im März 2023 wurde das Thema faktisch von der AfD übernommen, die in einem ausführlich begründeten Entschließungsantrag, der freilich abgelehnt wurde, die Einsetzung eines "Untersuchungsausschusses der 20. Wahlperiode zum Angriff auf Nord Stream" forderte.

Hier wie auch bei anderen parlamentarischen Anfragen hatte sich die Bundesregierung seit Ende September 2022 stoisch geweigert, die ihr vorliegenden Informationen offenzulegen und dies mit dem angeblich notwendigen Schutz eines dieser Auskunftsverweigerung angeblich zugrundeliegenden Staatswohls begründet.

Aber läge es nicht tatsächlich im Interesse des Staatswohls, konkret: des Wohls der Einwohner, nicht nur der Staatsbürger, die Verantwortlichen für den größten Terroranschlag auf die mittel- und westeuropäische Infrastruktur seit 1945 dingfest zu machen?

Es wäre wichtig, eine Debatte über diese Frage offensiv und transparent in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft zu tragen, statt sie politischen Randfraktionen im Parlament zu überlassen. Auch und gerade, wenn die Antwort der offenbar als Staatswohl missinterpretierten Außenpolitik der amtierenden und kaum zukunftsträchtigen Bundesregierung zu widersprechen verspricht.

Deren Oberhaupt, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), hat schließlich einst geschworen, "dass ich meine Kraft dem Wohle des Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden (…) werde".

Von der ukrainischen Regierung und ihrer Armee war nicht die Rede.

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