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Anschlag in Berlin: Auf der falschen Spur?

Foto: Andreas Trojak / CC BY 2.0

Ein Kommentar zur öffentlich-politischen "Ursachenforschung" des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt

"Angst" titelte die Bild gestern in breiten großen Lettern unter dem Foto vom Berliner Weihnachtsmarkt mit der zerstörten Front des "Terrorlasters" und zwei Polizisten im Vordergrund. "ES WAR ISLAMISTISCHER TERROR! Und der Albtraum geht weiter", beginnt der Text.

Das hat Propaganda-Appeal. "Bei Allah, diese Operationen lassen den Feind erschrocken und terrorisiert zurück.. Wer setzt also fort und rast in das Nächste Weihnachtsmarkt Lasst die Kuffar diesen Weihnachtsmarkt niemals vergessen o Löwen des Islams!", zitiert Die Welt aus verschlüsselten Kommunikationskanälen von IS-Anhängern [1].

An der Fahrertür des Lastwagens wurden Fingerabdrücke [2] des gesuchten Verdächtigen gefunden. Zusammen mit dem Fund der Duldungsdokumente erhärtet dies den Tatverdacht gegen ihn.

Verbindungen zum Dschihad

Der Tunesier Anis Amri soll nach bekannt gewordenen Ermittlungen Verbindungen zu deutschen Salafisten [3] unterhalten haben, welche die Generalbundesanwaltschaft dringend verdächtigt, mit dem IS in Verbindung zu stehen. Laut Spiegel soll er den Ermittlern damit aufgefallen sein, dass er sich als Selbstmordattentäter anbot [4]. Zudem habe er sich "bei einer Quelle der Sicherheitsbehörden erkundigt, wie er sich Waffen beschaffen könne".

Zu einer Festnahme reichte es nicht, berichtet der Spiegel. Das fügt sich zum dem, was sich gestern bereits als Lücke zeigte: Die Sicherheitsbehörden kannten den Mann schon lange, aber er entwischte [5] dem "Kontroll-Netz".

Darüber hinaus wurden Lücken bei seinem Abschiebe-Verfahren deutlich: Anis Amri wurde nach einem Tag Abschiebehaft in der JVA Ravensburg entlassen, weil er keine Papiere hatte. "Denn ohne Papiere konnten die Behörden nicht feststellen, wohin Anis Amri hätte abgeschoben werden sollen." (Focus [6]).

Kontrollverlust

Bei Politikern, vor allem aus der Union und besonders aus der CSU, sprudeln die Vorschläge schon seit der Festnahme des ersten, offensichtlich unschuldig Verdächtigen. Sie zielen in der Mehrheit auf den letzten Punkt, auf Gegenmaßnahmen zum Kontrollverlust im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik.

Dass das Kontrolldefizit, das sich im Fall des zweiten, offenbar nicht grundlos Verdächtigen zeigt, Kopfschütteln verursacht, ist verständlich. Dass aber die Flüchtlingspolitik mit der Hauptrolle auf die politische Bühne gedrängt wird, verdankt sie dem Wahlkampftheater. Sie spielt eine Rolle - es gab Kontrollverlust im größeren Ausmaß - die Flüchtlingspolitik unter Merkel spielt aber nicht die Hauptrolle.

Frankreich hatte mehrere Anschläge erlebt und mehrere Anschlagsversuche, ohne Merkel an der Regierung, ohne den großen Flüchtlingsandrang wie in Deutschland. Die Recherchen nach den Anschlägen offenbarten, wie in Belgien auch, größere Pannen bei der Fahndung, bei der Zusammenarbeit der Behörden untereinander und nicht zuletzt bei der Aufsicht von "Gefährdern", die in Frankreich vom Geheimdienst mit der "Fiche S" gekennzeichnet werden.

Diskussionen in Frankreich

Es gab bis vor wenigen Monaten eine sehr intensive Diskussion darüber, bei der sich etwa Sarkozy mit Ambitionen als Präsidentschaftskandidat damit hervortat, dass er eine Internierungsanstalt für die besonders gefährlichen Gefährder vorschlug. Der Vorschlag fand keine Mehrheit, weil dies schwerlich mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist und praktisch auch große Probleme stellt.

Der FDP-Chef Christian Lindner forderte nun als "ultima ratio" zur Kontrolle und zum besseren Schutz der Bevölkerung, dass der Staat auch elektronische Fußfesseln einsetzen können muss. Dies soll hier nicht weiter bewertet werden, sondern nur als Indiz dafür herhalten, dass in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach ähnliche Vorschläge und Diskussionen aufkommen werden, wie man sie aus Frankreich kennt.

Daraus ist zunächst eine Schlussfolgerung zu ziehen: Den Anschlags-Terror hauptsächlich der Politik Merkels anzuheften, ist ein deutscher Sonderweg, der mehr mit Wahlkampf zu tun hat als mit einer Ursachenforschung, die danach ausgerichtet ist, gegenüber dem Terror mehr als nur Angst zu empfinden und Slogans herumzutragen, sondern Gegenmaßnahmen aufzustellen.

Fehleinschätzungen

Um Erfolg zu haben, gehört dazu auch, Fehleinschätzungen auszuräumen, z.B. was den dschihadistischen Terror angeht. In Frankreich wurde vor ein paar Monaten ein größerer Anschlag vereitelt. Dies wurde als Anzeichen dafür gewertet, dass die Ermittler besser arbeiten, genauer Bescheid wissen über die Netzwerke, wie deren Kommunikation funktioniert und auch, wie die Extremisten "ticken".

Das ist beispielsweise an der Diskussion über das Buch "Die Wiederkehrer" (Le Revenants) von David Thomson [7] abzulesen. Es geht darin um Personen, die in den Dschihad nach Syrien oder in den Irak gereist sind und um die Frage, warum sie den Dschihad gewählt haben und wie ihre Einstellungen aussehen.

Bemerkenswert ist, dass Thomson auf sein mehrjähriges Recherchegebiet 2011 in Tunesien stieß, als er mitbekam, dass Tausende Tunesier im Zuge des Aufstands gegen den Autokraten Ben Ali sich dazu entschlossen, ihrer Begeisterung für den Dschihad nachzugehen. Tunesien stellte einen großen Teil des Nachschubs der Dschihadisten. Thomson hörte jahrelang ihnen zu, um ihre Motive und ihre Ansichten kennenzulernen.

Bemerkenswert ist auch, dass sich die Experten, Soziologen, empirische Forscher usw. heftig über den Mann aufregten, der Neues in die Diskussion brachte. Die etablierten Experten taten dies ab, das sei nicht seriös nicht valide genug, nur weil Thomson mit "ein paar Dschihadisten gesprochen habe", könne er nicht alles in Frage stellen, womit sie sich seit Jahren wissenschaftlich beschäftigen.

Wichtige Unterscheidungen und ein gefährliches, wenig erfasstes Phänomen

Heute gilt Thomson weltweit als einer der wenigen Experten, die das Phänomen vom Dschihad Erfassten nicht vom Büro oder der Studierkammer aus, sondern aus eigener Anschauung kennen. Das Neue bestand darin, dass er eine Strömung des Islam als gefährliche Entwicklung erkannte und genau kenntlich machte.

Seine Kritiker sahen darin vor allem einen pauschalen Angriff auf den Islam insgesamt oder wollten es so sehen. Sie polemisierten gegen ihn, nach dem Motto "Wer den Islam auf diese Weise schildert, setzt ihn Verunglimpfungen und Diskreditierungen im öffentlichen Gespräch aus und leistet damit genau der Radikalisierung Vorschub, die uns bekämpft."

Thomson verwies dagegen auf seine Erfahrungen mit den Radikalisierten, die ihm eine Wirklichkeit aufzeigten, die man in der Öffentlichkeit und in der Politik noch nicht begriffen habe.

Dass Thomson dabei sehr wohl genau zwischen denen unterscheidet, die ihren muslimischen Glauben leben oder in diesem Glauben aufgewachsen sind und den Salafisten/Dschihadisten-"Abfahrern", ist Voraussetzung dafür, um das Problem, das sich nach bisherigem Informationsstand bei dem Berliner Anschlag zeigt, genau zu erkennen.

Nachtrag: Wie sehr es in Deutschland einer Schärfung der Wahrnehmung des Dschihadismus bedarf, zeigt sich nicht zuletzt an der Romantisierung der Dschihadistengruppen in Syrien als Rebellen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3580725

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article160492821/Islamisten-loben-Anschlag-in-offenen-Facebook-Gruppen.html
[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/anschlag-in-berlin-polizei-durchsucht-fluechtlingsheim-in-nrw-a-1127100.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Anschlag-in-Berlin-Neuer-Tatverdaechtiger-mit-Verbindungen-zu-deutschen-Salafisten-3579746.html
[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/anschlag-in-berlin-anis-amri-bot-sich-offenbar-als-selbstmordattentaeter-an-a-1127138.html
[5] http://www.sueddeutsche.de/politik/terrorvon-berlin-grossfahndung-nach-tunesier-1.3304986
[6] http://www.focus.de/politik/deutschland/rekonstruktion-der-ereignisse-gefaehrder-anis-a-lief-tauchte-nach-abschiebehaft-unter-wie-konnte-das-passieren_id_6389237.html
[7] https://twitter.com/_DavidThomson