Antidemokratische Tendenzen in der Ukraine und die üblichen Verdächtigen
Stützt die Bundesregierung mit der Ukraine das nächste autoritäre Regime? Eine aktuelle Studie zeichnet ein düsteres Bild
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ist im Donbass gewesen; für knapp 40 Minuten sei sie zwischen Soldaten der ukrainischen Armee und den Separatisten gewesen, heißt es. Die Bilder zeigen sie mit Stahlhelm und Schutzweste, wie sie sich von ukrainischen Offiziellen die Situation erklären lässt. Zurück kam sie nach eigenen Worten mit "sehr bedrückenden Gefühlen".
Was man ihr an der "Front" darbot, hat bei ihr aber offenbar nicht dazu geführt, nachdenklich zu werden. Denn der Schuldige stand schon im Voraus fest und Baerbock zögerte nicht lange und drohte an die Adresse Moskaus: "Jede weitere Aggression hätte massive Folgen für die russische Seite".
Krieg meinte sie damit zwar nicht, dafür aber Sanktionen, die mit allen NATO-Staaten abgestimmt seien. Die Maßnahmen würden nicht nur Russland schaden, sondern auch Deutschland. "Wir sind auch bereit, für die Sicherheit der Ukraine einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen", betonte sie am Montag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba.
Damit meinte Baerbock sicherlich die Gaspipeline Nord Stream 2, die sie für die Ukraine opfern wolle. Und damit liegt sie ganz auf der Linie des US-amerikanischen Präsidenten Biden, der nach dem Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte: "Wenn Russland einmarschiert, wird es kein Nord Stream 2 mehr geben".
Er deutete zudem an, dass er den Gasfluss von Russland in Richtung Europäische Union stoppen wolle. Sollte russisches Gas nicht mehr zur Verfügung stehen, sagte er, wäre das zwar ein Verlust; aber er würde auch Russland hart treffen. Das fehlende Gas für Europa wolle er kompensieren. Dass das unmöglich ist, dürfte ihm bewusst sein.
Der US-Präsident kündigt an, der europäischen Wirtschaft irreparablen Schaden zuzufügen, und die deutsche Außenministerin zeigt sich geneigt, diesen Weg mitzutragen. Doch weil sie das nicht offen ausspricht, ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sauer.
Ein geplantes Treffen sagte er kurzerhand ab und ließ das mit Terminschwierigkeiten begründen. Doch wie der CNN-Reporter Jake Tapper aus ukrainischen Regierungskreisen erfahren haben will, wurde das Treffen abgesagt, weil Selenskyj von den Deutschen das Bekenntnis erwartet, im Ernstfall Nord Stream 2 zu beerdigen.
Selenskyj ist im eigenen Land nicht unumstritten. Man wirft ihm vor, zunehmend autoritär regieren zu wollen. Dieser Vorwurf wird in einer aktuellen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) untersucht, die Anfang Februar veröffentlicht wurde. Die Stiftung steht dem Bundeskanzleramt nahe.
Auf den Spuren von Donald Trump
In der SWP-Studie wird von der Ukraine das Bild eines zerrissenen Landes gezeichnet – und das eines Präsidenten, der sich in offenen Konflikten befindet, mit der Justiz, den Medien, einflussreichen Persönlichkeiten aus den verschiedenen Regionen des Landes; und mit den Oligarchen.
Und es wird gezeigt, dass er durchaus erfolgreich dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump nacheifert und lieber direkt mit dem Volk kommuniziert als über die Medien. Oppositionelle werfen ihm deshalb einen "populistischen Autoritarismus" vor.
Die Ukraine ist der Studie zufolge noch immer keine Demokratie, die den westlichen Werten entsprechen würde. Formal gebe es das Prinzip der Gewaltenteilung, in der Praxis sei der Pluralismus stark eingeschränkt.
Neben fehlender Unabhängigkeit der Justiz, schwach entwickeltem Parlamentarismus und "Defekten" in anderen Bereichen der Demokratie ist die zu enge Verbindung zwischen politischer und ökonomischer beziehungsweise formaler und informeller Macht ein Grund dafür, dass autoritäre Tendenzen fortbestehen.
Aus der Studie "Die Ukraine unter Präsident Selenskyj"
Konkret bedeutet das: In der Ukraine gibt es immer noch Oligarchen und politisch-ökonomische Netzwerke, "die keiner demokratischen Verantwortlichkeit unterworfen sind, aber Verfügungsgewalt über Politikbereiche haben". Sie agierten oft unabhängig vom Zentralstaat, und die Personenkreise reichen mitunter bis in die Justiz.
Frühere Präsidenten der Ukraine konnten die starke Rolle ihres Amtes nur entfalten, wenn sie die Interessen der einzelnen Gruppen ausglichen und relevante Akteure in das politische System einbanden. Selenskyj baute stattdessen auf seine Popularität, die sich unter anderem in seinem Wahlergebnis und in dem seiner Partei widerspiegelte.
Doch ohne in den politischen Netzwerken verankert zu sein, konnte er sich kaum durchsetzen, was er auch schnell zu spüren bekam. Seine Antwort darauf: Zentralisierung der Macht in seinen Händen.
So wurde die Präsidialadministration – eine Struktur, die das Staatsoberhaupt nur unterstützen soll –, zum faktischen Zentrum von Politikgestaltung und Entscheidung. Diese Entwicklung geht zu Lasten des Ministerkabinetts und des Parlaments, von denen Selenskyj Gefolgschaft fordert. Eine Sonderrolle spielt zudem der Sicherheitsrat. Dieses nicht gewählte und dem Präsidenten untergeordnete Gremium wurden von Selenskyj ebenfalls aufgewertet.
Auf diese Weise kann der Präsident seine Politik zeitweise von Widerständen abschirmen, die aus anderen Institutionen kommen, etwa von ihm nicht wohlgesinnten Richterinnen und Richtern.
Zugleich kann er seine Politik mit "Zustimmung" der wichtigsten politische Amtsträger legitimieren. Doch der Rat segnet in der Regel ohne weitere Diskussion ab, was vorher in der Präsidialadministration entschieden wurde – seien es Sanktionen oder weitreichende Gesetzesentwürfe.
Der ukrainische Präsident versuche nicht nur, die Macht aller potenziellen Gegenspieler zu beschneiden. Ihm wird insgesamt ein konfrontativer und wenig diplomatischer Politikstil zugeschrieben. Seine Politik berge das Risiko anhaltender Blockaden und sie drohe das politische System zu destabilisieren, heißt es in der SWP-Studie. Unter westlichen Partnern gebe die Ukraine zurzeit kein gutes Bild ab.
Doch, wie sollte es anders sein, die Studie schließt mit einer inhaltlichen Volte: Russland sei schuld daran, dass sich die Ukraine nicht in Richtung Demokratie, sondern eher in Richtung eines autoritären Staates zu bewegen scheint. Denn der östliche Nachbar verhindere die Transformation hin zu einer liberalen Demokratie.
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