Antisemitische Kontinuität
Zur Diskussion über eine uneindeutige Kunstfigur, verpackte Ressentiments gegen Juden und eindeutige Fortsetzungen von Propaganda-Botschaften
Im vergangenen Jahr musste die Polizei mit 2.275 Delikten einen neuen Höchststand antisemitischer Straftaten in der Bundesrepublik registrieren, womit der Rekord von 2019, wo 2.032 Straftaten gezählt wurden, deutlich übertroffen wurde. Dies ist der höchste Wert seit der Einführung des Erfassungssystems "Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)" im Jahr 2001.
Die Täter rekrutierten sich überwiegend aus den Reihen der deutschen Rechten. Laut der Polizeistatistik sei die überwältigende Mehrheit der Straftaten rechten Judenhassern zuzuordnen, während linke oder islamistische Antisemiten in der Statistik nur "eine kleine Minderheit" umfassten, hieß es in Medienberichten. Die Urteilsverkündung im Prozess gegen den Rechtsextremisten, der 2019 in Halle einen antisemitischen und ausländerfeindlichen Terroranschlag verübte, macht deutlich, dass der zunehmende Hass jederzeit in tödliche Gewalt umschlagen kann.
Joseph Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, brachte den zunehmenden Antisemitismus insbesondere mit der sogenannten Querdenker-Bewegung in Zusammenhang sowie den in diesem neurechten Milieu propagierten Verschwörungsideologien:
Angesichts der zahlreichen antisemitischen Vorfälle auf den Corona-Leugner-Demos im vergangenen Jahr und der Verschwörungsmythen im Netz war leider damit zu rechnen, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten erneut steigt.
Joseph Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden
Die Statistik mache deutlich, dass die "Radikalisierung der Gesellschaft" voranschreite, so Schuster. Für Felix Klein, den Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, hat diese Wahnbewegung der Pandemieleugner "die Grenzen des Sagbaren verschoben", indem in ihren Reihen der Holocaust relativiert und bekannte antisemitische Hassbilder reanimiert wurden. Der Anstieg des Antisemitismus müsse als eine Warnung verstanden werden.
Wo fängt Antisemitismus an?
Die diesbezüglichen öffentlichen Auseinandersetzungen tobten im vergangenen Jahr vor allem um die Frage, wo Antisemitismus anfängt.
Es waren Kämpfe um die Deutungshoheit über das, was unter antisemitische Ressentiments überhaupt zu verstehen ist. Zentral hierfür war die Debatte um Äußerungen der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart, deren Kunstfigur im Kontext der feministischen MeToo-Kampagne mit dem Vorwurf der sexuellen Nötigung nichtjüdischer Frauen durch Juden spielte.
In der jüdischen Gemeinschaft wurde der Vorwurf laut, Eckhart betreibe "Judenhass unter dem Deckmantel der Satire", während Deutschlands Rechte und auch Eckhart-Fans die Diskussion über eine Kunstfigur für ihre Zwecke nutzten: Unter der Losung eines Kampfes gegen eine "Löschkultur" (Cancel Culture) mobilisierten sie für die Künstlerin. In bewährter Manier sprachen sie von einer Zensur- und Maulkorb-Republik, in der man einfache Wahrheiten nicht mehr aussprechen könne, etc..
Zur Klärung dieser Streitfrage könnte es eventuell behilflich sein, diese letztjährigen Auseinandersetzungen um Deutungshoheit bei Antisemitismus mit Propaganda zu vergleichen, die unzweideutig antisemitisch ist.
Trotz der unzähligen "Tabubrüche", die seit der Sarrazin-Debatte von der Neuen Rechten begangen worden sind, um den öffentlichen Diskurs immer weiter zu enthemmen und zu verwildern, dürfte in der Bundesrepublik immer noch der Konsens herrschen, dass es sich bei Adolf Hitler und Joseph Goebbels um lupenreine Nazis und Antisemiten handelte.
Selbst die größten Eckhart-Fans aus der Neuen Rechten dürften somit dem simplen Fakt zustimmen, dass es sich bei den Propaganda-Werken, die Nazis über Juden fabriziert haben, um Antisemitismus handelt. Die Kontrastierung der aktuellen Auseinandersetzungen mit lupenreiner antisemitischer Propaganda könnte somit erhellend wirken bei deren Einschätzung und Beurteilung.
Filme als Verbrechen
Das in der Bundesrepublik bekannteste antisemitische Machwerk der Nazis - das tatsächlich maßgeblich von Hitler geformt wurde - ist der 1940 veröffentlichte Pseudodokumentarfilm "Der ewige Jude", der mit brutalsten Bildern, offener Hetze und Entmenschlichung von Juden arbeitet.
Der Film arbeitet mit Bildern aus den jüdischen Ghettos, die Nazideutschland in Polen errichten ließ. Die Perfidie an diesem Machwerk, das laut Regisseur Fritz Hippler eine "Symphonie des Ekels und des Grauens" sein solle, besteht somit darin, dass hier die Verelendung und Erniedrigung, die durch das deutsche Ghettoregime bewusst betrieben wurde, als ein Wesensmerkmal des Juden dargestellt wird.
Zentrale Motive bilden die Darstellung von Juden als "Ratten", als "Ungeziefer", sowie die Gleichsetzung des osteuropäischen Judentums mit den assimilierten Juden Deutschlands und Westeuropas als verschwörerische Parasiten, die ihre "Wirtsvölker" durch geheime Machenschaften unterwandern und zerstören würden. Im Abschluss gibt der Film Auszüge der berüchtigten Hitler-Rede vom Januar 1939 wieder, in der die Vernichtung des europäischen Judentums ankündigt wurde.
Angesichts der antisemitischen Exzesse in "Der ewige Jude", die den Film zu einem Symbol des Antisemitismus machten, scheint es kaum gerechtfertigt, die Äußerungen, die Lisa Eckhart ihrer Kunstfigur in den Mund legt, auf dieselbe Stufe zu stellen.
Die späte Wirkung
Das Problem besteht nur darin, dass "Der ewige Jude" ein schlechter, ein gescheiterter Propagandafilm war, der seine Wirkung erst nach Kriegsende als ein plakatives, abschreckendes Beispiel für Antisemitismus entfaltete - während er 1940 kaum ein Publikum finden konnte.
Der Film war ein kommerzieller Fehlschlag, der hauptsächlich vor Mitgliedern der unterschiedlichsten Gliederungen der NSDAP und SS ausgestrahlt wurde, während er an den Kinokassen floppte. In seinem Scheitern wirkt dieser Propagandafilm aber bis in die Gegenwart hinein - indem er ein falsches Bild davon vermittelt, wie antisemitische Propaganda funktioniert, wie Antisemitismus sich manifestiert und formiert.
Das Gift des Antisemitismus wird nicht mit dem Holzhammer, sondern mit der Injektionsspritze verabreicht. "Der ewige Jude" war nur einer von drei antisemitischen Filmen, die in Nazideutschland 1940 veröffentlicht wurden, um den sich immer deutlicher abzeichnenden Holocaust propagandistisch zu flankieren, der auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 seine organisatorische Konkretisierung fand. Daneben erschienen die Filme "Jüd Süß" und "Die Rothschilds", bei denen Goebbels für die propagandistische Konzeption verantwortlich war.
Während Hitler in "Der ewige Jude" einen brutalen, auf Ekel und direkter Entmenschlichung beruhenden Weg einschlagen ließ, ging Goebbels weitaus subtiler vor, indem er Antisemitismus mit kulturindustrieller Unterhaltung amalgamierte.
Insbesondere "Jud Süß" zähle zu den "niederträchtigsten und gefährlichsten Erzeugnissen nationalsozialistischer, antisemitischer Filmpropaganda", wie es das Bundesarchiv formulierte. Goebbels bezeichnete das Machwerk als einen großen, genialen Wurf, als einen antisemitischen Film, "wie wir ihn uns nur wünschen" können.