Aspie an Erde

Feriencamps für Menschen, die Feriencamps hassen

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Ob als Schauplatz von Morden, paramilitärischem Drill, Gruppenhysterie oder gemeinen Ausgrenzungen, das Feriencamp ist einer der Orte, deren trügerisches Idyll eine gefährlich gute Vorlage für das Böse liefert – so sahen das zahlreiche Filmemacher und sie stehen damit nicht allein.

Horror im Camp: aus "Addams Family Values"

Auf der Hinfahrt tauchte bei mir die Frage auf: "Worauf hast du dich da bloß eingelassen?" 5 Tage mit 14 Leuten irgendwohin fahren, einfach nur, um Freizeit miteinander zu verbringen, so etwas mache ich normalerweise nicht. Am ersten Tag war es für mich unvorstellbar, mich auf so einer Gruppenreise wohl zu fühlen, und ich hatte mir schon einige Strategien überlegt, mich den Situationen zu entziehen, die da auftauchen könnten.

Hajo

Wir hatten viel Spaß miteinander, aber das, was uns beschäftigt und erfreut hat, waren sicherlich auch Dinge, die normale Erwachsene nicht mitgemacht hätten. Zum Beispiel haben wir mal einen Abend zusammen gesessen und einfach nur stundenlang gekreiselt.

Heike

Heike und Hajo waren in einem Feriencamp für Menschen, die Feriencamps hassen. Es war sogar Heike Franks Idee, dieses Camp zu veranstalten, ein Camp für Menschen, die nicht "normal" sind – nicht normal, weil sie eine leichte Form von Autismus haben, das so genannte Asperger Syndrom. Asperger wird auch Little Professor Syndrome, Geek Syndrome oder Nerd Syndrome genannt (vgl. Die Geek-Autismus-Connection).

Aspies gelten als schüchtern, leicht exzentrisch, sie reden entweder gar nicht oder sie sind nicht zu stoppen und spicken ihre Sätze mit technischen Termini. Sie insistieren auf Routine und Ritualen, können in Codes besser lesen als in Menschen, sind manchmal paranoid und oft sehr intelligent. Die Lust am Zählen - man denke an Mathegenie Jedediah Buxton, der zu einer Aufführung von Richard III lediglich zu sagen wusste, dass er 12.445 Worte gezählt hatte - sowie die so genannten Spezialinteressen sind typisch für Aspies. Und sie sind unempfindlich gegenüber Ironie, Gruppendynamik und Small Talk.

Wenn wir miteinander reden, dann reden wir um des Inhaltes wegen, der Inhalt ist wesentlich, während bei Smalltalk eher der Inhalt unwichtig ist, sondern man redet um des Kennenlernens oder so willen. Im Camp haben sich die Leute eher über die Kunst des Jonglierens, Autismustheorien und Homöopathie unterhalten, um mal ein paar Beispiele zu nennen. Und diese Unterhaltung dann ohne Einstieg, soziale Floskeln und so, einfach ehrlich und geradeaus..

Heike Frank

Außenseiter unter sich

Es war also ein Erfolg, das erste Aspie-Camp Deutschlands, die Idee dazu hat Heike Frank, die auch die Webseite Aspergia betreibt, aus Schweden, dort wird wahrscheinlich nächstes Jahr das Camp stattfinden. "5 Tage mit 14 Leuten irgendwohin fahren, einfach nur, um Freizeit miteinander zu verbringen", das klingt leicht; was für ein Horror sich dabei entwickeln kann, das wissen nicht nur Menschen mit Asperger. Der ganz alltägliche Horror im Camp oder im Gruppenausflug besteht in der Realität - anders als in den vielen schönen Gruselfilmen - meist aber ganz einfach darin, dass es eben Menschen gibt, die sich vor Gruppen fürchten.

Außenseiter unter sich - In den USA haben therapeutisch begleitete Camps für Jugendliche und Kinder mit Asperger bereits Tradition und guten Erfolg. Vor allem als Kinder sind Aspies oft unglücklich und einsam: das Lärmen und Jagen auf dem Pausenhof, aus dem sich nicht herauslesen lässt, wer Freund und wer Feind ist, die verständnislose Grausamkeit der Anderen. "Wir kommen untereinander viel besser zurecht als in Gruppen mit Nichtbetroffenen", berichtet Heike Frank, "so war die Geselligkeit im Camp nicht schwer, da wir ja unter uns waren. Mit normalen Leuten kommt man meistens nicht klar".

Im weit gespannten Regenbogen des autistischen Spektrums gelten Aspies als high functioning, das heißt sie haben zwar Schwierigkeiten mit der Wahrnehmungsverarbeitung, können sich aber mit einiger Hilfe dennoch recht gut in einer "normalen" Gesellschaft behaupten – was nicht unbedingt heißt, dass sie sich immer wohl fühlen. Gewisse Attribute eines milden Autismus gelten in Nischen, in denen systematische Intelligenz gut angeschrieben ist - Beispiel Informatik oder Beispiel Bill Gates - sogar durchaus als adaptiv.

Beim klassischen, von Leo Kanner beschriebenen Autismus, kommen schwerwiegende kognitive Funktionsbeeinträchtigungen hinzu. Schweigend oder unartikuliert schreiend und nahezu unansprechbar, so erleben viele Eltern ihr autistisches Kind.

Er schläft jede Nacht fünf oder sechs Stunden, das bedeutet, wenn man es schafft, ihn bis neun Uhr abends wach zu halten, dann wacht er so gegen zwei oder drei Uhr morgens auf. Er ist traurig und verzweifelt, also schreit er und seine Eltern, die vielleicht gerade mal drei oder vier Stunden geschlafen haben, empfinden eine Mischung aus Erschöpfung, Depression und Panik – Sie leben in einer kleinen Wohnung, die Wände sind dünn und sie wissen, dass sie nicht die einzigen sind, die unter dieser nächtlichen Störung leiden...In sechs Stunden wird einer von ihnen anfangen zu arbeiten (der andere würde auch gerne arbeiten gehen, aber da es keine passende Schule für den Kleinen gibt, ist das nicht möglich), in diesen sechs Stunden wird der Kleine es geschafft haben, sich zu verletzen, indem er sich selbst immer wieder hart auf den Kopf schlägt, wird Essen in der Wohnung herumgeworfen haben, sich geweigert haben, die Toilette zu benutzen, schließlich den Teppich beschmutzt und in der einzigen Sprache, die ihm zur Verfügung steht (ein Wort, das mit wachsender Lautstärke und Eindringlichkeit wiederholt wird) verlangt haben, in den Park zu gehen, obwohl es draußen dunkle Nacht ist

Schriftsteller Nick Hornby über seinen Sohn

Die sich seit Jahren wiederholenden Meldungen über eine grassierende Autismus-Epidemie (vgl. Ups....falscher Planet!), sind gekoppelt mit einer fieberhaften Suche nach Ursachen oder Schuldigen. Denn die Zahlen sind erstaunlich. In den USA entwickelt eines von 250 Kindern eine Form von Autismus, vor zehn Jahren war es eines von 10 000 Kindern. Manche sprechen sogar von einem von 166 Kindern, andere geben zu bedenken, dass sich die Diagnosemöglichkeiten erweitert hätten und gehen von weit weniger Fällen aus. Experten in den USA sprechen bereits davon, dass die einzelnen Staaten sich bald auf sehr viele Erwachsene mit speziellen Bedürfnissen werden einstellen müssen (z.B. noch sehr viel mehr Aspie-Camps veranstalten).

Autismus und Thiomersal

Denn wie man sie auch interpretiert, die Zahlen bleiben dramatisch, und der neu entbrannte Streit um Schuld, Ignoranz und Geldgier ist es auch. Robert F. Kennedy Jr. hat für den Rolling Stone, online erschienen bei Salon einen Politthriller geschrieben, der eine skandalträchtige Verschwörungstheorie zusammen köchelt: ein konspiratives Treffen in einem abgelegenen Kaff irgendwo in den USA, gefälschte Daten, korrupte Wissenschaftler und unzählige kranke Kinder: Thiomersal, ein äthylquecksilberhaltiges chemisches Konservierungsmittel, das in den USA bis zum Jahr 2002 in vielen Kinderimpfungen enthalten war, steht schon seit geraumer Zeit im Verdacht, für neurologische Funktionsstörungen wie Autismus verantwortlich zu sein, eine direkte Verbindung ist offiziellen Verlautbarungen zufolge nicht nachzuweisen (vgl. Autisten haben weniger Quecksilber im Haar).

Kennedy, ein Neffe des ehemaligen Präsidenten, will sie aber gefunden haben und der ganzen Geschichte um ihre Vertuschung auf die Spur gekommen sein. Dass das Stück durchaus seine Schwächen hat, versuchen einige Blogger äußerst detailliert aufzuzeigen, Fernseh- und Radiostationen weigerten sich, ihn zum Gespräch einzuladen. Gemeinsam mit dem Buch Evidence of Harm von David Kirby, das sich dem Thema gemäßigter und objektiver nähert, sorgte Kennedy dafür, dass die Diskussion um Autismus und Thiomersal in den USA und auch in Großbritannien wieder auflebte. Weitere Klagen werden erhoben, entrüstete Eltern schreiben Hass-Mails an Pharmafirmen, Gesundheitsbehörden warnen vor Impfmüdigkeit. Wenn in den USA bald ein deutlicher Rückgang der Krankheit zu beobachten sein wird, dann könnte das daran liegen, dass die Thiomersal-freien Jahrgänge kommen und somit wäre die umstrittene Verbindung zum Autismus und der Riesenskandal quasi nachgewiesen. So wartet man auf neue Zahlen.

Kalorien zählen

Und entdeckt einstweilen mögliche neue Diagnoselücken: Möglicherweise gebe es mehr autistische Mädchen als bisher diagnostiziert, warnt Autismus-Forscher Christopher Gillberg. Bisher nahm man an, dass Jungs viermal so häufig wie Mädchen autistische Verhaltensweisen entwickeln. Eine Analyse des X-Chromosoms ergab jedoch nichts, was auf eine männlich-genetische Komponente hindeuten würde. Gillberg meint nun, dass Mädchen mit Asperger oft passiver und verhaltensunauffälliger seien und dann nur als schüchtern angesehen würden. So vermutet er auch eine Verbindung zwischen Autismus und Magersucht, das Zählen von Kalorien könne eine typische autistische Fixierung darstellen. Mädchen würden auch, anders als Jungs, teilweise Informationen über Menschen sammeln statt über Dinge und damit aus dem gängigen Diagnoserahmen fallen.

Die richtige Diagnose ist für die Betroffenen wichtig. Denn sie hilft zu verstehen, warum sie sich auf dem Planeten Erde oft fremd fühlen. Und zu sehen, dass sie (zum Beispiel im Aspie-Camp), Seelenverwandte haben, die genauso einzigartig und eigenartig sind wie sie selbst.