Atomarer Albtraum

Die bestehenden kerntechnischen Anlagen weltweit sind gegen Anschläge nicht geschützt

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Trotz der kritischen Sicherheitslage nach den Angriffen auf Afghanistan wurden letzte Woche erneut Castor-Behälter aus deutschen Atomkraftwerken nach Frankreich transportiert. Zuverlässige Sicherheitsmaßnahmen gibt es nicht, Sicherheitsbehörden und Betreiberfirmen reden mögliche Gefahren als unwahrscheinlich klein.

Seit April 2001 rollen sie wieder in regelmäßigen Abständen, die Castor-Transporte. War am 1. Oktober noch ein Transport wegen der Terrorwelle abgesagt worden, so sind in der Nacht zum 10. September wieder zwei Transporte mit radioaktivem Atommüll aus den norddeutschen Atomkraftwerken Stade und Brunsbüttel zur Wiederaufarbeitung nach La Hague/Frankreich aufgebrochen. Einzig bei Bremen wurde der Zug von 30 einsamen Atomkraftgegnern für 20 Minuten aufgehalten.

Im Vorfeld regte sich Widerstand von allen Seiten. Greenpeace hatte den Transport angesichts der Sicherheitslage nach den Angriffen auf Afghanistan heftig kritisiert. Die Behälter seien völlig unzureichend gegen mögliche Unfälle und Anschläge gesichert. Gerade in der momentanen Lage sei es doppelt wahnsinnig, Atommüll auf die Schienen zu bringen, hieß es dort. Auch in den Parteien war der Transport mit Blick auf die Sicherheitslage umstritten, doch die Innenminister der Länder konnten sich nicht gegen Bundesinnenminister Otto Schily durchsetzen.

Dabei stellen die Castor-Transporte auch ohne die aktuelle Bedrohung durch terroristische Attentate ein beachtliches Sicherheitsrisiko dar: Nach Ansicht deutscher Umweltorganisationen gewährleisten die verwendeten Castor-Behälter vom Typ S1 keinen sicheren Einschluss der radioaktiven Fracht. So heißt es in einer Presseerklärung der Organisationen BUND und BBU vom 19.4.2001:

Bei einem Unfall in Verbindung mit einem Brand halten die Castorbehälter Temperaturen über 1000 Grad bei einer Dauer von 30 Minuten nicht stand. Auch einem Sabotageakt mit einer Panzerfaust würden die Behälter nicht widerstehen.

Mit dem 11. September stellt sich die Frage nach dem Sicherheitsrisiko von Atomanlagen wieder völlig neu. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass der Absturz einer Boeing 747 auf große Atomfabriken wie Sellafield in Großbritannien oder La Hague in Frankreich weitaus verheerendere Folgen hätte, als sie beim Einsturz des World Trade Center zu beobachten waren. In seiner aktuellen Ausgabe widmet sich auch der New Scientist der Frage, was passieren würde, wenn Terroristen einen Anschlag auf ein Atomkraftwerk ausführen würden. Wenn zum Beispiel eine 400 Tonnen schwere Boeing 747 vollgetankt mit 200 000 Litern Treibstoff auf die berühmt-berüchtigte Atomfabrik Sellafield fallen würde, wo sich allein in der Wiederaufbereitungsanlage B215 insgesamt 21 Beton- und Stahlbehälter mit mehr als 1500 m3 hochaktiven Abwässer lagern.

Natürlich kann niemand mit absoluter Sicherheit vorhersagen, was geschehen würde, wenn ein entführtes Flugzeug in die Anlage B215 raste. New Scientist zitiert Gordon Thompson vom Institute for Resource and Security Studies in Cambridge/Massachusetts, der von einer verheerenden Kettenreaktion ausgeht: Zunächst würde die auf einen solchen Aufprall folgende Explosion eine dicke Wolke mit Radioaktivität in die Atmosphäre schleudern und der brennende Treibstoff würde weitere Radioaktivität in die Luft pumpen. Das entstehende Feuer wäre seiner Meinung nur schwer zu löschen. Schon die Feuerwehrleute in New York hatten - auch ohne die Gefährdung durch radioaktive Strahlung - Probleme, den Brand unter Kontrolle zu bringen, weil ihnen die Löschflüssigkeit für Flugzeugtreibstoff nicht zur Verfügung stand. Aber sind europäische Atomkraftwerke damit ausgerüstet?

Laut Thompson bilden die Explosion und das Feuer nur den Anfang, denn die Behälter, die dem Aufprall noch standgehalten haben, würden sich erhitzen und dann ebenfalls Radioaktivität freisetzen. Thompson, der in den vergangenen fünf Jahren die hochradioaktiven Abfallbehälter in Großbritannien untersucht hat, geht davon aus, dass die Hälfte der 2400 kg Caesium-137, die in der Wiederaufbereitungsanlage B215 in Sellafield lagern, freigesetzt würde - 44 Mal mehr Caesium als in Tschernobyl. Dies würde große Teile Großbritanniens verseuchen und - je nach Wetterlage - auch auf das europäische Festland niedergehen. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 wurde ein Gebiet von 4800 m2 um den Unglücksort geräumt, mehr als eine Viertelmillion Menschen mussten umgesiedelt werden. Nur leider sind die meisten westeuropäischen Ländern sehr viel dichter besiedelt, als dies in der Ukraine der Fall war.

Europaweit geben Sicherheitsbehörden und Betreiberfirmen wie COGEMA oder RWE (Deutschland) zwar zu, dass die von ihnen betriebenen kerntechnischen Anlagen auf einen Flugzeugabsturz wie den in New York nicht ausgelegt sind, sie alle ziehen sich jedoch darauf zurück, dass die Wahrscheinlichkeit eines solchen Anschlags als sehr gering einzuschätzen ist. Dem New Scientist wurde auf eine Anfrage bei der staatlichen Betreiberfirma BNFL (Sellafield) gar beschieden, dass Baukonstruktion und bestehende Sicherheitsvorkehrungen völlig ausreichend seien:

Major nuclear facilities, including for example reactors and highly active waste stores, are constructed to extremely robust engineering standards and incorporate large quantities of reinforced concrete as an integral part of the construction. These facilities are resistant to many terrorist threats including aircraft impact. Safety cases and contingency plans take these events into account.

Es gehört schon ungeheure Dreistigkeit dazu, noch nach dem Einsturz des World Trade Center zu behaupten, dass Stahlbeton dem Aufprall einer großen Passagiermaschine widerstehen könnte.

Der Atomkomplex Sellafield gehört wegen seiner Größe mit Sicherheit zu den Worst-Case-Szenarien eines Terroranschlags. Doch auch die Wiederaufbereitungsanlage in La Hague an der Küste der Normandie bietet ein "attraktives" Ziel. Dort lagern mehr als 55 Tonnen Plutonium, 7484 Tonnen Nuklearbrennstoff und mehr als 11 650 m3 radioaktiver Schlamm - mehr radioaktive Substanzen als in allen französischen Atomkraftwerken zusammen. Nach Angaben des World Information Service on Energy (WISE) in Paris könnten in La Hague bei einem Flugzeugunglück potenziell 60 Mal mehr Caesium-137 frei werden als in Tschernobyl. In einer Presseerklärung vom 27. September hat WISE die bisherigen Sicherheitsrichtlinien als mit dem 11. September für "veraltet" erklärt. Sie gingen vom Absturz kleiner Maschinen aus, deren Aufprallwucht und Kerosinmenge nur einen Bruchteil dessen ausmachten, was ein großes Passagierflugzeug bewirken könne. Nach Angaben von New Scientist sind in den 70er-Jahren gebaute Behälter ausgelegt auf kleine Flugzeuge wie Cessnas, die rund 6 Tonnen wiegen. Doch der Aufprall eines 560 Tonnen schweren Airbus 380 ist eine andere Sache. Eine der ehrlichsten Aussagen lieferte am 21. September die US Nuclear Regulatory Commission (NRC) (www.nrc.gov/), die für 103 Reaktoren zuständig ist:

The NRC did not specifically contemplate attacks by aircraft such as Boeing 757s or 767s, and nuclear power plants were not designed to withstand such crashes,

it said.

Für Deutschland hat Bundesumweltminister Jürgen Trittin am 9. Oktober bei der Eröffnung des 11. Deutsche Atomrechts-Symposiums erklärt, dass die Sicherheitsbehörden gegenwärtig davon ausgingen, dass keine Angriffe auf kerntechnische Anlagen drohten. Davon geht auch Bundesinnenminister Schily aus und in einer Stellungnahme der Bundesregierung heißt es:

Generell sind die deutschen Atomkraftwerke gegen Flugzeugabstürze gesichert. Einem Anschlag wie in den USA könnten sie jedoch nicht standhalten. Die Konsequenz daraus könne aber nicht sein, eine ‚Betondecke über Deutschland zu ziehen.

Außerdem wird darauf verwiesen, dass in den deutschen Atomanlagen die Sicherheitsvorkehrungen verschärft wurden und das Bundesumweltministerium unmittelbar nach den Angriffen auf New York eine Untersuchung in Auftrag gegeben habe, welche Konsequenzen aus solchen Risiken gezogen werden müssten. Die erste Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission soll Mitte Oktober vorliegen. Sollten die zuständigen Behörden befinden, dass eine Gefährdungslage eintritt, könnte die einstweilige Einstellung des Betriebs der kerntechnischen Anlagen in Frage kommen.

Da es für den Fall der Fälle also mit der Sicherheit nicht weit her ist, wird zur allgemeinen Beruhigung auf die Erhöhung der Flugsicherheit verwiesen: die verstärkten Kontrollen von Flugpassagieren und ihrem Gepäck. Darüber hinaus sind vielleicht schon bald auch Sky-Marshalls mit an Board, wie sie Bush in Amerika im Rahmen des Federal Air Marshall Program ankündigt hat. Und die Castor-Transporte werden ungehindert weiterrollen: Laut Atomkonsens der Bundesregierung und der Energiewirtschaft sind die meist vertraglich geregelten Transporte in Wiederaufbereitungsanlagen bis 2005 möglich. Nach Sellafield sollen noch 42 Atommüllbehälter transportiert werden.