Attentat in Belgien: Schwere Zeiten für die offene Gesellschaft

IS-Terrorist war polizeibekannt und Sicherheitsbehörden überfordert. Täter hätte längst abgeschoben werden sollen. Was der Fall für die Migrationsdebatte bedeutet.

Die belgische Innenministerin, Annelies Verlinden, meldete heute Vormittag, dass der Urheber des Terroranschlags in Brüssel identifiziert wurde und tot ist. Sie bedankte sich für das schnelle und entschiedene Eingreifen der Geheimdienste und der Sicherheitsbehörden.

Solches Lob an die Sicherheitsverantwortlichen gehorcht den informellen Regeln des öffentlichen Auftritts einer Innenministerin, es mag auch für den Notfalleinsatz passen, sieht man sich die Vorgeschichte an, so ergibt sich ein anderes Bild. Von schnell und entschieden kann da nicht wirklich die Rede sein.

Treueeid auf IS-"Kalifen"

Der Mann, der als Täter identifiziert wurde, hatte gestern zwei schwedische Fußballfans in Brüssel erschossen. In einem Bekenner-Video gab er laut dem französischen Dschihad-Experten Wassim Nasr Motive an, die im Zusammenhang mit Koran-Verbrennungen in Schweden stehen: "Rache für die Muslime". Dies unterlegte er mit einem Treueeid auf Abu Hafs, dem gegenwärtigen "IS-Kalifen".

Seine Morde verübte der Täter gegen 19 Uhr abends, er eröffnete Feuer auf zwei Männer, die aus dem Taxi ausgestiegen waren und verfolgte sie bis ins Innere eines Gebäudes, so der Staatsanwalt Frédéric Van Leeuw.

Zuvor hatte er, wie ein Clip aus der Nachbarschaft zeigt, der auf X kursiert, in aller Ungestörtheit auf offener Straße sein Gewehr für den Terror-Akt vorbereitet. Die Polizei war die ganze Nacht über auf der Suche nach dem Flüchtigen. Am Morgen stellte sie ihn und erschoss ihn.

Warnungen, aber keine Schritte unternommen

Es stellt sich heraus, dass der Attentäter der Polizei schon lange bekannt ist: wegen "Menschenhandel, illegalem Aufenthalt und Gefährdung der Staatssicherheit", so der belgische Justizminister. Laut Vincent Van Quickenborne wurde bereits im Juli 2016 "unbestätigte Informationen von einer ausländischen Polizeibehörde übermittelt" wurden, der Mann "ein radikalisiertes Profil hatte und in ein Konfliktgebiet für den Dschihad ausreisen wollte".

Damals, kurz nach den Anschlägen vom 22. März 2016 in Brüssel, bei denen 35 Menschen getötet wurden, gab es eine große Menge solcher Informationen, ergänzte der Minister (Le Monde). Die Behörden hätten diese Informationen überprüft, "aber keine weiteren Schritte unternommen".

Dies wurde laut Zeitungsbericht nicht näher erläutert. Jedenfalls wurde der Mann aus Tunesien, einem Land, das zu jenen Zeiten den Ruf eines Exportlandes fanatischer Dschihadi-Rekruten hatte, nicht auf die Liste der Personen gesetzt, die als extremistisch eingestuft werden.

Aus Tunesien hatten die belgischen Behörden "die Information erhalten, dass der Mann dort nicht wegen Terrorismus, sondern wegen gewöhnlicher Straftaten verurteilt worden war".

"Nicht ausfindig gemacht"

Im November 2019 hatte Abdesalem L. Asyl in Belgien beantragt. Das wurde im Oktober 2020 abgelehnt. Laut der Staatssekretärin für Asyl und Migration sei er am 12. Februar 2021 von den lokalen Behörden "aus dem Nationalregister gestrichen" worden. Man habe ihn aber nicht für eine Rückführung in sein Herkunftsland ausfindig machen können: "Aufgrund dessen konnte die Ausreiseaufforderung, die im März 2021 ausgestellt wurde, nie ausgestellt werden."

Anscheinend aber war bekannt, dass er sich zeitweise in einem Asylzentrum in der Region Kempen aufgehalten haben muss. Denn von dort erhielt die Polizei eine Anzeige, dass Abdesalem L. einen anderen Bewohner bedroht habe.

Die Bundeskriminalpolizei in Antwerpen hatte für diesen Dienstag sogar eine Sitzung des "Joint Information Center" - eine nach den Anschlägen vom März 2016 geschaffene Struktur zur Verfolgung von Fällen im Zusammenhang mit Terrorismus - zu seinem Thema einberufen.

Le Monde

Die finsteren Menschen im Boot

Der Fall, der die Behörden wenig wachsam und ziemlich behäbig aussehen lässt, bringt die künstliche Intelligenz der AfD ins Laufen. Die Bilderfabrik spuckt dunkle Wesen in Booten auf dem wilden Meer aus, die nach Europa wollen.

Abdesalem L. war einer der Migranten, die aus Nordafrika Richtung Europa ablegen, sie sind alle gefährlich und finster, suggeriert das große Bild mit dem Lob an Belgien - nach der Meldung vom Tod des Attentäters: "Die einzig vernünftige Antwort auf den islamischen Terror." Hervorgehoben wird, dass der Täter ein abgelehnter tunesischer Asylbewerber ist und polizeibekannt war.

Die Überforderung der Überwacher

Wie sich in Frankreich vergangene Woche bei einem tödlichen Terrorakt gegen einen Lehrer zeigte, kommen fanatisierte Mörder nicht unbedingt mit dem Boot nach Europa. Die Familie des Täters stammt aus Inguschetien, der Täter selbst soll sich nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Tass in Frankreich radikalisiert haben.

Auch in diesem Fall hatten die Geheimdienste Informationen, der 20-Jährige hatte eine Akte als Gefährder, sie konnten den Mord an den Lehrer nicht verhindern.

Überwachen ist sehr zeitaufwendig. Wie die Publikation Europe 1 im September angesichts ausstehender Freilassungen von 80 wegen islamischen Terrorismus verurteilter Personen berichtete, wurden innerhalb von fünf Jahren "über 350 Terroristen, die ihre Strafe verbüßt hatten, wieder auf freiem Fuß" gesetzt. "Etwa 80 Prozent werden nach ihrer Inhaftierung ein Jahr lang auf Radikalisierung hin überwacht."

Ein leitender Angestellter des Place Beauvau rechnet vor: "Wir brauchen drei Teams von acht Polizisten, um eine radikalisierte Person ständig zu überwachen. Wir bräuchten also mehr als 8.000 Beamte, um die aus dem Gefängnis Entlassenen permanent zu überwachen". Dies ist ein Bedarf, der weit über die 5.000 Mitarbeiter der DGSI hinausgeht.

Europe 1

Für die offene Gesellschaft sind das schwere Zeiten. Herausgefordert wird sie nicht nur durch fanatisierte Dschihadisten, die den Radar der Überwachung unterlaufen, sondern auch durch eine sich verstärkende Radikalisierung in den Debatten. Einfache Lösungen gibt es nicht.