Aufkündigung der Zivilisation

Nach dem vermutlich größten Terrorakt aller Zeiten fordern Politiker Konsequenzen für die freiheitlichen Demokratien

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Was am 11. September in New York und Washington DC passierte, wird die Welt verändern. Führende Politiker in den westlichen Demokratien zerbrechen sich die Köpfe, wie sie vergleichbare Katastrophen verhindern können. Gefordert wird auch in Deutschland vor allem eine Verstärkung des Kampfs gegen den Terrorismus. Doch noch so viele Lauschgesetze und Geheimdienstaktionen können von langer Hand geplante Terrorakte in freiheitlichen Staaten nicht verhindern.

Als die ersten Nachrichten vom Crash zweier Großraumflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers in Manhattan und dem nachfolgenden Einsturz zuerst des einen und wenig später auch des zweiten Towers über die Ticker gingen und die Fernsehsender immer und immer wieder die Staubwolken zeigten, schien das Berichtete noch am ehesten an eine geplante Medientäuschungsaktion zu erinnern. Zu oft hatte man dergleichen Horrorbilder doch schon in Filmen wie Independence Day, in zahlreichen Sciencefiction und New-Age-Romanen oder aber auch in Cyberwar-Szenarien wie dem im Magazin Wired veröffentlichten Planspiel des Pentagon-Beraters John Arquilla gesehen und bis ins Detail beschrieben bekommen.

Doch mit dem Staubnebel an der Südspitze Manhattans lösten sich auch die Zweifel an den Eilmeldungen auf, die von den Agenturen mit höchster Priorität wie in einem Kriegszustand über die Ticker gejagt und in Echtzeit von den Nachrichtenmoderatoren vorgelesen wurden. Inzwischen hat sich herauskristallisiert, dass tatsächlich zwei mit hunderten Passagieren besetzte Maschinen von American Airlines nach ihrem Start am Flughafen in Boston zwischen 8.45 und 9.00 Uhr Ortszeit vermutlich von Selbstmordattentätern in die 400 Meter hohen Zwillingstürme gelenkt wurden, in denen sich gerade die Büros mit Leben zu füllen begannen. Insgesamt 100.000 Menschen arbeiteten täglich im World Trade Center. Wie viele davon bei den nach den Explosionen nach und nach in sich zusammenstürzenden Türmen getötet wurden, ist nach wie vor unklar.

Make no mistake: The United States will hunt down and punish those responsible for these cowardly acts.

Präsident Bush

Kurz darauf pflügte ein weiterer Jet, dieses Mal von United Airlines, sich mitten in das Zentrum des fünfeckigen, gigantischen Pentagons in Washington, in dem 20.000 Menschen arbeiten. Das US-Verteidigungsministerium brannte weitgehend aus, auch wenn die Gebäudeteile, in denen die Führungsstäbe sitzen, nicht betroffen waren. Das vom Kurs abgelenkte Flugzeug hatte sich im Anflug auf den Airport der amerikanischen Hauptstadt befunden, der nicht weit hinter dem Pentagon liegt. Bei drei weiteren Flugzeugabstürzen in Pittsburgh, Pennsylvania, beziehungsweise bei Fort Worth in Texas starben Hunderte Passagiere, doch wurden keine weiteren symbolträchtigen Gebäude zerstört.

Nach dem unglaublichen Terrorakt ist die (westliche) Welt geschockt und ratlos. US-Präsident George W. Bush, der sich während der vermutlichen Anschläge in Florida aufhielt, sprach von einer "nationalen Tragödie" und kündigte an, die Hintermänner ausfindig zu machen und zu richten. Der britische Premier Tony Blair bekundete sein Beileid und bezeichnete den "Massenterrorismus" als das größte "Übel dieser Zeit". Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder und Bundespräsident Johannes Rau bezeugten Bush ihre tiefe Anteilnahme.

Totales Versagen der amerikanischen Geheimdienste

Nach der ersten Fassungslosigkeit über den Angriff, der sich anscheinend gezielt gegen die Wirtschafts- und Militärmacht USA richtete, werden sich die Politiker in den Vereinigten Staaten, in Europa und letztlich in der gesamten hochindustrialisierten Welt mit zahlreichen unbequemen Fragen auseinandersetzen müssen. Wie kann es beispielsweise sein, dass der CIA und die National Security Agency (NSA), die immerhin als die besten Geheimdienste der Welt gelten, von dem Anschlag nicht die geringste Ahnung hatten? Zumal es aus Ägypten in den letzten Monaten wiederholt Warnungen gegeben haben soll, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn sich die USA nicht stärker im Nah-Ost-Friedens- beziehungsweise Kriegsprozess engagieren würden.

Die NSA beklagt sich zwar seit längerem, dass sie mit der Informationsrevolution nicht mehr mithalten könne und dringend mehr Mittel zur Verfügung haben müsse. Doch der als Staat im Staat agierende Supergeheimdienst verfügt bereits über ein Budget, das so mancher kleiner Nation alle Ehre machen würde. Am Geld allein kann es also zumindest nicht liegen.

Trotzdem werden die Anstrengungen der Politiker nach den Schlägen, die New York einer Augenzeugin zufolge in einen Zustand versetzten, "wie ich ihn mir nach einem Atomkrieg vorstelle", wie so häufig in die Richtung Erhöhung der nationalen Sicherheit sowie Aufstockung der Budgets für Geheimdienste und Militär gehen. Nicht umsonst waren die einzigen Kurse, die nach dem Desaster an den noch nicht geschlossenen Börsen nach oben zeigten, die von Rüstungsunternehmen.

Kampf gegen den Terrorismus soll verstärkt werden

Einzelne Kommentare von deutschen Spitzenpolitikern zeigen bereits, wie sich der Terror auch hier zu Lande auswirken könnte. Noch stehen zwar "alle politischen Handlungen unter diesem Schock", wie der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in der ARD sagte. Doch gleichzeitig murmelte er etwas von "unvorstellbaren Konsequenzen", die die einer Kriegshandlung gleich kommenden Anschläge auf die Freiheit nach sich zu ziehen hätten. CDU-Chefin Angela Merkel spekulierte gleichzeitig darüber, dass "mit Sicherheit der Kampf gegen den Terrorismus" zu verstärken sei. Dass über Jahre hinweg wenig Schlimmes passiert sei, dürfe "uns nicht zu falschen Tatsachen verleiten." In Straßburg forderte der englische Vorsitzende des Bürgerrechtsausschusses des Europäischen Parlaments zudem die Einführung von besseren Durchsuchungs- und Verhaftungsmöglichkeiten für die Strafverfolger in Europa.

Wie man genau auf die "Herausforderung für freiheitliche Staaten" (FDP-Spitzenmann Wolfgang Gerhard) agieren wolle, weiß in Deutschland noch keiner der Politiker zu sagen. Aber die gesetzgeberische Folgen scheinen unabdingbar zu sein und alle in dieselbe Richtung zu zeigen. Die "Aufkündigung der Zivilisation" ist laut Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) schließlich eine "Kampfansage an uns alle". Eine derartige neue Form des Terrorismus, der es auf die Störung des menschlichen Zusammenlebens anlege, könne allein als "Ankündigung einer großen Auseinandersetzung" verstanden werden.

Doch eine Verschärfung des Kampfs gegen den Terrorismus allein kann derartig vorbereitete Anschläge wohl kaum verhindern. "Man kann nicht alles sperren in einer Demokratie", erläuterte die Chefin des Berliner Aspen-Instituts, Cathrin Mc Ardle Kelleher in der ARD. Terrorismus sei der Preis, den eine Gesellschaft für ihre Freiheit zu zahlen habe.

Rätselraten um die Hintermänner

Über die Hintermänner der verkappten Kriegsansage an die USA und die westlichen Staaten wird derweil weiter gerätselt. Eine palästinensische Splittergruppe, die zunächst mit den Anschlägen in Verbindung gebracht wurde, wies die Vermutungen weit von sich. Der palästinensische Generalvertreter in der Bundesrepublik, Abdallah Fragi, sprach inzwischen von einem "schwarzen Tag für die Welt" und wies eine Verantwortung der Palästinenser "n ihrer Gesamtheit" zurück.

Einig sind sich die Experten bislang nur, dass hinter dem schrecklichen Szenario eine große Organisation mit viel Geld und Wissen stehen muss. Eine kleine terroristische Gruppe hätte schließlich nicht einmal über die Piloten verfügt, die es für die Durchführung der Attentate brauchte, meint Manfred Görtemaker, Geschichtswissenschaftler an der Universität Potsdam. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Terroristen die ursprünglichen Piloten zu der Aktion hätten zwingen können.

Ob damit Osama bin Laden, einer der bekanntesten gegen die USA kämpfenden Top-Terroristen, noch im Rennen ist? Die afghanische Taliban-Führung hat die Welle von Terrorakten jedenfalls rasch verurteilt. "Es ist ein terroristischer Akt, den wir aufs Schärfste verdammen", sagte der afghanische Botschafter in Pakistan, Mullah Abdul Salam Saif, der Nachrichtenagentur AIP. Afghanistan hat dem saudiarabischen Millionär bin Laden Aufenthaltsrecht gewährt und befindet sich deswegen im permanenten Streit mit den USA.

Im Internet, wo direkt nach den ersten Meldungen über die Anschläge zahlreiche News-Sites aufgrund des Informationshungers der Surfer kaum noch zu erreichen waren, kursieren derweil auch ganz andere Spekulationen über die eigentlichen Hintermänner: "Zwei Worte: Reichstag Feuer", schrieb ein Nutzer auf einer Mailingliste unter Anspielung auf den von den Nazis selbst gelegten Brand in den Dreißiger Jahren in Berlin. Daneben fragen sich auch einige Betreiber anonymer Remailer, ob sie ihre Dienste zwischenzeitlich einstellen sollen, um nicht etwa den Terroristen verdeckte Kommunikationsmöglichkeiten zu geben.