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Ausschluss von Russen aus Bundestag: Sperren, schweigen, schönreden

Bundestag: Sicherer Hafen oder Sperrzone für junge Russinnen und Russen? Bild: Thomas Quine, CC BY 2.0

Telepolis hatte den Stopp eines Stipendienprogramms publik gemacht. Nun soll die Entscheidung vor ein Parlamentsgremium kommen

Der Ausschluss junger russischer Akademiker aus einem Stipendienprogramm des Bundestags [1] sorgt parlamentsintern weiter für Debatten. Nun wird die umstrittene Entscheidung, die von Vertretern der Regierungsfraktionen und der Unionsfraktion am 24. Februar – dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine – getroffen worden war, den Ältestenrat des Bundestags befassen. Wie Telepolis aus Oppositionskreisen erfuhr, wird das Gremium eine mögliche Wiederaufnahme beraten.

Telepolis hatte in der vergangenen Woche exklusiv berichtet, wie das für internationale Austauschprogramme zuständige Parlamentsreferat fast zeitgleich zum russischen Einmarsch in die Ukraine in den zuständigen Abgeordnetenbüros um Aussetzung des Internationalen Parlamentsstipendium (IPS) gebeten hatte.

Weltweite Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine (0 Bilder) [2]

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Betroffen von der Ad-hoc-Entscheidung, an der Referatsleiterin Sybille Koch führend beteiligt war, sind keine Militärs, Putin-Freunde oder Oligarchen, sondern junge Akademiker, aus deren Kreis viele gerade unter erheblichen persönlichem Risiko gegen den Feldzug des russischen Präsidenten im Nachbarland auf die Straße gehen.

Von den jährlich bis zu 120 Stipendien entfielen zuletzt jeweils acht geschlechterparitätisch auf Russland und die USA, es waren die größten Ländergruppen. Fünf der aktuellen Anwärterinnen und Anwärter aus Russland müssen nun zu Hause bleiben, alle künftigen auch – obgleich man mit einem akademischen Job die Zwangsrekrutierung für den Ukraine-Krieg vermeiden kann.

Über die Entscheidung gab es weder eine Debatte noch eine stimmige inhaltliche Begründung. Und dies, obgleich es auf der entsprechenden Bundestagsseite heißt, das Programm sei "offen für hochqualifizierte, engagierte, aufgeschlossene und politisch interessierte junge Frauen und Männer, die den Willen haben, die demokratische Zukunft ihres Landes aktiv und verantwortlich mitzugestalten".

Man könnte davon ausgehen, dass dies in Russland, wo unter dem Eindruck von Kriegsgesetzen die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, ein solches Programm wichtiger als je zuvor ist. Eine Aussprache darüber soll nun auf Initiative des parlamentarischen Geschäftsführers der Linksfraktion, Jan Korte, nachgeholt werden.

Berliner Projektpartner wurden nicht gefragt

Fragen dürfte es auch an anderer Stelle geben, denn offenbar waren die drei Berliner Universitäten, die Teil des IPS sind, nicht in die Ad-hoc-Entscheidung eingebunden. Man könne weder die Folgen der Aussetzung des Programms für junge Russinnen und Russen einschätzen, noch sei man an der Entscheidung beteiligt gewesen, hieß es auf Nachfrage aus der Pressestelle der Humboldt-Universität.

Die Traditionsuniversität hatte Anfang März zwar auch jedwede institutionelle Kooperation mit bisherigen russischen Partnern ausgesetzt und die Zusammenarbeit in gemeinsamen Forschungsprojekten auf Eis gelegt.

Dabei unterscheide die Humboldt-Universität jedoch zwischen Institutionen und Personen, hieß es in einer Erklärung, die weiter ausführt:

Das bedeutet: Für russische Studierende in Bachelor-, Master- oder Promotionsstudiengängen an der HU haben diese Maßnahmen keine Konsequenzen – sie sind Studierende der HU. Allerdings hat der Beschluss Auswirkungen auf gemeinsame Promotions- und Double Degree-Programme. Für Studierende und Doktorand:innen, die in solchen Programmen eingeschrieben sind, werden individuelle Lösungen erarbeitet, ebenso für Programmstudierende von russischen Partneruniversitäten, die sich gegenwärtig in Deutschland aufhalten.

Stellungnahme der Humboldt-Universität Berlin [4]

Hinter den Kulissen des Bundestags rumort es seit der Aussetzung des Programms. Einzelne Abgeordnete sind bei aller Wut über den russischen Einmarsch in die Ukraine nicht mit der eilends getroffenen Sanktionierung ihrer Praktikantinnen und Praktikanten einverstanden. Öffentlich äußern will sich aus Gründen der Fraktionsdisziplin aber keiner von ihnen.

Ehemalige Absolventen des IPS-Programms hatten sich indes in einem Brief an die Bundestagsverwaltung gewandt. Öffentlich wollen auch sie keine Stellung nehmen. Man habe sich schließlich lediglich in einer informellen Vereinigung zur Kommunikation mit dem Bundestag zusammengeschlossen, zudem gebe es in dem Zusammenschluss verschiedene Meinungen, hieß es auf Anfrage.

SPD-Berichterstatter: Akademikern "sicheren Hafen bieten"

Auf Telepolis-Nachfrage bei allen Regierungsfraktionen und der Union reagierte lediglich der SPD-Abgeordnete Ruppert Stüwe, als zuständiger Berichterstatter für das IPS-Programm.

In der aktuellen Situation sei die Bundesrepublik gefordert, verfolgten Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einen sicheren Hafen zu bieten, so Stüwe:

Dafür wollen wir die Hochschulen, Wissenschaftsorganisationen und Schutzprogramme – zum Beispiel des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander von Humboldt Stiftung – stärken. Wer sich heute in Russland und Belarus kritisch äußert, zeigt besonders großen Mut. Hier ist unsere Solidarität ebenso gefordert: Wir müssen Verfahren stützen und finden, die insbesondere kritischen Kräften in autoritären Staaten helfen. Eine Fortführung bestehender institutioneller Kooperationen mit Russlands Wissenschaftseinrichtungen würde eine Normalität bedeuten, die im Lichte der Invasion in der Ukraine nicht mehr vertretbar ist.

Ruppert Stüwe

Das allerdings spräche für eine Wiederaufnahme des Programms im Bundestag, denn die Stipendiaten bewerben sich persönlich und nicht im Namen einer staatlichen Stelle, wie auch aus der Eigendarstellung hervorgeht:

Die Stipendiatinnen und Stipendiaten werden von einer unabhängigen Auswahlkommission des Deutschen Bundestages unter Beteiligung der Berliner Universitäten aufgrund fachlicher, sozialer, sprachlicher und interkultureller Kompetenzen ausgewählt.

Eigendarstellung des IPS-Programms [5]

Nach Informationen des Nachrichtenmagazins Der Spiegel hat das Bundeskriminalamt (BKA) hunderte Straftaten gegen russische oder russischsprachige Menschen in Deutschland [6] erfasst. Besorgt zeigte sich angesichts der Zahlen die Antirassismusbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD).

Dokumentiert hatte das BKA nach dem Bericht seit dem russischen Angriff auf die Ukraine 318 Taten von Sachbeschädigungen über Beleidigungen bis hin zu Bedrohungen im Internet und im öffentlichen Raum.


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Bundestag-schliesst-Studierende-aus-Russland-aus-6541321.html?seite=all
[2] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6545246.html?back=6571374;back=6571374
[3] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6545246.html?back=6571374;back=6571374
[4] https://www.hu-berlin.de/de/pr/nachrichten/maerz-2022/nr-2232
[5] https://www.bundestag.de/ips_global#url=L2V1cm9wYV9pbnRlcm5hdGlvbmFsZXMvaXBzL2Jld2VyYnVuZy9iZXdlcmJ1bmctMjQ0OTky&mod=mod462170
[6] https://www.heise.de/tp/features/Der-Russe-der-Feind-6549002.html