Bundestag schließt Akademiker aus Russland aus
Regierungsvertreter warnen vor antirussischer Stimmung. Im Parlament gehen sie aber mit dem Holzhammer vor. Wie es anders geht, zeigt ein Hochschulverband
Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine und das massive Vorgehen der Invasoren sorgt im Westen für zunehmende Empörung. Vertreter von Bundesregierung und Opposition haben vor diesem Hintergrund vor einer undifferenzierten antirussischen Stimmung gewarnt.
Es sei "Putins Krieg", sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): "Wir wehren uns ganz entschieden dagegen, dass Menschen aufgrund ihrer russischen Herkunft (…) diskriminiert werden."
CDU-Generalsekretär Mario Czaja beklagte, so berichtete tagesschau.de eine "starke und zunehmende Russenfeindlichkeit in unserem eigenen Land". Die Christdemokraten jedenfalls stünden an der Seite russischsprachiger Menschen in Deutschland. "Die Angriffe auf sie sind nicht in Ordnung. Dagegen müssen wir gemeinsam vorgehen." Es wäre ein Erfolg der Politik von Wladimir Putin, wenn "eine solche Missgunst zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aufkommt", so Czaja.
Das Problem: Im Bundestag sorgen Regierung und Opposition zugleich selbst durch Ausgrenzung von Russen für Unmut. Nach Recherchen von Telepolis haben die Regierungsfraktionen SPD, FDP und Grüne mit Unterstützung der Unionsfraktion am 24. Februar, just am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, russischen Akademiker pauschal von einem zentralen Parlamentsprogramm ausgeschlossen.
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Noch während die ersten Meldungen über die Invasion über den Ticker liefen, bat das Referat WI4, zuständig für internationale Austauschprogramme, nach Telepolis vorliegenden Informationen in den zuständigen Abgeordnetenbüros um Aussetzung des Internationalen Parlamentsstipendium (IPS).
Betroffen von der Ad-hoc-Entscheidung sind keine Militärs, Putin-Freunde oder Oligarchen, sondern junge Studierende, aus deren Kreis viele gerade gegen den Feldzug des russischen Präsidenten im Nachbarland auf die Straße gehen.
Von den jährlich bis zu 120 Stipendien entfielen zuletzt jeweils acht geschlechterparitätisch auf Russland und die USA, es waren die größten Ländergruppen. Fünf der aktuellen Anwärterinnen und Anwärter aus Russland müssen nun zu Hause bleiben, alle künftigen auch.
Keine demokratischen Werte und Toleranz mehr für Russland
Man könnte ja argumentieren, dass ein Einblick in das parlamentarische Geschehen gerade in diesem Tagen für junge Russinnen und Russen wichtig wäre. In der Beschreibung des IPS-Programms jedenfalls heißt es, Ziel sei die Vermittlung "Demokratischer Werte und Toleranz in einer pluralen Gesellschaft" sowie "Verständnis für kulturelle Vielfalt".
Indem junge Menschen aus aller Welt nach Deutschland kommen, wolle man "das friedliche Zusammenleben in der Welt fördern" und "einen Beitrag zur Festigung der bilateralen Beziehungen Deutschlands mit den teilnehmenden Ländern leisten".
Als Sybille Koch, Leiterin des zuständigen Fachreferats, Abgeordnete übe die Aussetzung des Programms informierte, erklärte sie jedenfalls zunächst nicht, was die Praktikantinnen und Praktikanten mit dem russischen Angriff auf die Ukraine zu tun haben. Wiederholte Nachfragen von Telepolis zum Thema ließ die Referatsleiterin unbeantwortet.
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Die Entscheidung im Koch’schen Büro, das womöglich weisungsgemäß handelte, war offenbar so schnell gefallen, dass noch Tage später Konfusion über das Meinungsbild unter den Fraktionen herrschte: So hieß es zunächst, Russland werde "aufgrund des Angriffes auf die Ukraine" aus dem IPS-Programmjahr 2022 ausgeschlossen und die Entscheidung sei auf der politischen Ebene von allen Fraktionen außer der AfD gemeinsam getroffen worden.
Das stimmte offenbar nicht. Tatsächlich hatte der Berichterstatter der Linken für das IPS-Programm im Bundestag, Alexander Ulrich, nicht über den Antrag befinden wollen und die Anfrage an Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte weitergeleitet. Korte lehnte eine übereilte Entscheidung über den Rauswurf russischer Studierender aus dem Austauschprogramm ab.
Daran erinnerte man sich auch in der Bundestagsverwaltung – nachdem unsere Redaktion noch einmal nachfragte. Ohne weitere Ausführung hieß es zwei Tage nach der ersten E-Mail:
Zu Ihrer Nachfrage zum Abstimmungsverhalten im vorliegenden Fall kann mitgeteilt werden, dass dem Ausschluss der russischen Stipendiaten ein Mehrheitsbeschluss der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion zugrunde liegt.
Linke: Beschluss zu russischen Studierenden "nicht zielführend"
Ist der Bundestagsverwaltung und den betreffenden Abgeordnetenbüros ihre Entscheidung unangenehm? Den Eindruck kann man angesichts der Mauer des Schweigens und der Halbwahrheiten bekommen. Der Fraktionsgeschäftsführer der Linken immerhin äußerte sich auf Telepolis-Nachfrage zur Sache, auch aus Unmut über die anfänglich falsche Außendarstellung:
Die Darstellung der Verwaltung ist nicht korrekt. Ich habe in der Sitzung klar zum Ausdruck gebracht, dass man diese Frage nicht auf Zuruf beschließen kann, sondern darüber ausführlich beraten muss und Die Linke das Verfahren ablehnt. Der Beschluss ist auch nicht zielführend.
Das IPS-Programm dient ja explizit dazu das friedliche Zusammenleben in der Welt zu fördern. Und dieses Ziel ist durch den verbrecherischen Krieg Russlands in der Ukraine wichtiger und nicht unwichtiger geworden. Ein Austausch mit Russland ist allerdings derzeit allein schon auf Grund des Krieges logistisch nicht möglich, aber das ist natürlich etwas anderes, als ganz bewusst alle Brücken und Kontakte abzureißen.
Jan Korte
Hinter den Kulissen rumort es nun. Einzelne Abgeordnete sind bei aller Wut über den russischen Einmarsch in die Ukraine nicht mit der eilends getroffenen Sanktionierung ihrer Praktikantinnen und Praktikanten einverstanden. Öffentlich äußern will sich aber keiner von ihnen.
Ehemalige Absolventen des IPS-Programms haben sich inzwischen in einem Brief an die Bundestagsverwaltung gewandt. Öffentlich wollen auch sie keine Stellung nehmen. Man habe sich schließlich lediglich in einer informellen Vereinigung zur Kommunikation mit dem Bundestag zusammengeschlossen, zudem gebe es in dem Zusammenschluss verschiedene Meinungen, hieß es auf Anfrage.
Dass viele ehemalige IPS-Stipendiaten inzwischen in Bundestagsbüros arbeiten, mitunter von deutschen Behörden sicherheitsüberprüft, zeigt nebenbei, wie wenig belastbar das von der Verwaltung hinter vorgehaltener Hand geäußerte Argument angeblicher Sicherheitsbedenken ist.
Ehemaliger Stipendiat: "Großes Vertrauen motiviert mich bis heute"
Der Schaden durch den Rauswurf junger Russinnen und Russen aus dem Stipendienprogramm des Bundestags dürfte groß sein. Diesen Eindruck bekommt man jedenfalls im Gespräch mit Alumni: "Durch das IPS-Programm konnte ich eine für mich ganz neue Facette der deutschen Realität kennenlernen und in das politische Leben des Landes eintauchen", so ein ehemaliger Stipendiat in einer Stellungnahme gegenüber Telepolis: "Die gesammelten Erfahrungen haben mich sehr bereichert und angespornt, mich weiter gesellschaftlich zu engagieren."
Im Bundestag habe er als russischer IPS-Praktikant eine freundliche und sehr vertrauensvolle Atmosphäre genossen: "Dieses große Vertrauen gegenüber meiner Person motiviert mich bis heute, auch in den Zeiten der großen Irritationen zwischen Deutschland und Russland, daran zu glauben, dass die aktuelle Krise überwunden werden kann."
Die Fortsetzung des Programms für junge Menschen aus Russland unter den aktuellen Umständen wäre ein deutliches und ermutigendes Signal in die Richtung der russischen Zivilgesellschaft, dass Deutschland für den Dialog mit den Russinnen und Russen offen bleibt, fügte er an.
Wie es intelligenter geht, zeigte im Übrigen der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD). Der Hochschul- und Forschungsverband setzte angesichts des Angriffskrieges des Kremls zwar auch alle Projekte in Russland, zumal mit staatlichen Institutionen, aus.
Man habe auch die deutschen Hochschulen gebeten, laufende Kooperationsprojekte von Deutschland nach Russland auf Eis zu legen, hieß es aus der Pressestelle des DAAD. "Wir haben uns aber dazu entschlossen, den Weg von Russland nach Deutschland offenzuhalten", sagte ein Sprecher auf Telepolis-Nachfrage: "Wer kommen will, kann das weiter tun, wer da ist, der kann ohnehin bleiben."