zurück zum Artikel

Automobiler Terrorismus

Ballard und Barcelona

Am 17. August 2017 fuhr ein Attentäter auf der beliebten Promenade Las Ramblas in Barcelona (erneut) in Fußgänger. Laut Zeugenaussagen fuhr er Zick-Zack, um möglichst viele potenzielle Opfer zu schaffen. An dieser Stelle zeigt sich ein Muster, das dieses Jahr bereits zum 6. Mal in Europa zugeschlagen hat: Attentat mit einem Automobil.

Vordergründig geht es um die Schlacht der Seelen: der Kampf der überzeugten Muslimterroristen gegen die ungläubige Welt und ihre Bewohner.

Hintergründig spielt eine Faszination des Todes eine Rolle. Sei es, dass das Risiko beim Attentat immer auch den eigenen Tod mit einbezieht, sei es, dass einem Gläubigen Dinge angeboten werden, die im hiesigen Leben nur schwer erhältlich sind. Nicht zu vergessen die zivilen Opfer.

Nur wenige Tage nach Barcelona fuhr ein Auto in eine Bushaltestelle in Marseille. Wie einfach es ist, das Auto zu einer tödlichen Waffe umzufunktionieren, hat Florian Rötzer auf Telepolis bereits ausgeführt (vgl. Wenn Autos zu Waffen werden [1]). Hier soll noch einmal ein Werk des britischen Science Fiction-Autors James Graham Ballard (vgl. Autounfälle und Klimakatastrophen [2]) als Prognoseinstrument eingesetzt werden.

Zur Ballardschen Methode wurde bereits im Artikel zur Grenfell Tower-Katastrophe geschrieben (vgl. Grenfell Tower [3]). Von der Gegenwart ausgehend schildert der Autor Möglichkeiten einer nahen Zukunft. Sein Werk "Crash" aus dem Jahr 1973 wirkt dabei wieder einmal ziemlich gegenwärtig.

Methode der Konfrontation oder "Crash"

Im Vorwort zu "Crash" (im Verlag Fourth Estate, London) schreibt Ballard, dass sich zunehmend Realität und Fiktion vermischen. Das war 1995. In den über 20 Jahren hat sich viel verändert, und zwar durchaus in Richtung Ballardscher Fiktion. Wenn Ballard schreibt, man müsse die Realität erfinden, dann spricht er bereits den Einfluss der Medien an. In seinem Roman "Crash" tauchen deutliche Szenen auf; die Lust am Nervenkitzel bleibt nicht unbeobachtet. Die Kameraleute halten mit ihren Geräten auf den Unfall, die Katastrophe, das Spektakel. Keine Sekunde des Schreckens soll entkommen.

Über ihm fiel das Motorrad aufs Dach des Wagens. Die Lenkstange stieß durch die ausgebrochene Windschutzscheibe und köpfte den Beifahrer. Vorderrad und die verchromte Gabel stießen durch das Dach, die zerspringende Kette trennte den Kopf des Motorradfahrers im Innern ab. Teile seines zerstückelten Körpers prallten vom hinteren Radgehäuse zurück und sanken in einem Wirbel aus Splittern zu Boden. Sicherheitsglas fiel wie Eis von dem Auto herunter, als wäre dieses nach einer langen Zeit des Kälteschlafs aufgetaut worden. Inzwischen war der Fahrer von der brechenden Lenksäule zurückgeschleudert worden und glitt in die tiefere Region des Autos. Seine geköpfte Frau, die die Hände hübsch vor dem Hals gekreuzt hatte, rollte gegen das Armaturenbrett. Ihr abgetrennter Kopf prallte an den Vinylpolstern der Sitze ab und wurde von dort zwischen den Körpern der Kinder hindurch weiter nach hinten geschleudert. Brigitte, das kleinere der beiden Kinder, wandte das Gesicht zum Dach des Autos und hob beide Hände zu einer aufgeschreckten Geste, während der Kopf der Mutter auf der Heckscheibe auftrat und wieder ins Wageninnere zurückgeschleudert wurde, bevor er zum linken Seitenfenster hinausschoß.

(James Graham Ballard: Crash, in der Übersetzung von Joachim Körber. Bergisch Gladbach 1986, S. 129)

1 [4]

Ballard geht von einer anderen Situation als die Terroristen aus:

Eine Clique von Autoliebhabern führt absichtlich Verkehrsunfälle herbei, weil sie von der Verletzung menschlicher Körper durch das Metall der Pkws fasziniert sind. Mehr noch: Die Protagonisten in dem Buch sehen einen unwiderstehlichen erotischen Reiz in dieser "Vermischung" von Autometall und Menschenfleisch.

Wie hängt ein solches (fiktionales) Szenario aus dem Jahr 1973 mit den aktuellen Attentaten zusammen? Lustgewinn durch Verletzung und Tötung oder zumindest Verletzung von ungepanzerten Menschen.

Und wäre es möglich? Die Menschen vor einer Auto-Attacke zu schützen? Mit einem Exoskelett, wie es in den Terminator-Filmen sehr popularisiert wurde? Höchst unwahrscheinlich, dass sich Zivilisten in solche Schutzanzüge zwängen. Die Polizisten von Spezialeinheiten, auch das Militär, das bei solchen Gefahrenlagen hinzugezogen wird, verfügen über eine Art Panzerung. Zudem tragen sie Schnellfeuergewehre. Vollständig ausgerüstet, weil es zu ihrem Aufgabenfeld gehört. Die Zivilisten bleiben ohne Panzerung. In Barcelona herrschen momentan sommerliche Temperaturen. Ein Großteil der Haut ist ungeschützt. Aber bei einem anrasenden Lieferwagen könnte der dickste Winterpullover nicht viel helfen.

Die Konfrontation nicht nur von Auto und Mensch, Atten-Tätern und Opfern, Metall und Haut, Westen und arabischer Naher Osten, Christentum und Islam, Kapitalismus und Terrorismus. In Ballards Werken lösen sich klare Oppositionen auf - in "Crash" wird der Protagonist Vaughan zunehmend in eine surreal wirkende Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten gezogen.

Genau wie in "Crash" eine Welt in der Welt geschildert wird. Eine Welt also, in der Unfälle mit dem Auto, dem Motorrad, dem Bus oder dem Lastwegen sexy sind und erstrebenswert. Ähnlich igeln sich die Auto-Terroristen in eine Weltblase ein:

Der Weg zum nächsten Thrill ist nicht weit. Dem fordernden Gott in der Höhe zu gefallen und Ungläubige zu töten, weil die Vorstellung herrscht: Der Gott sitzt mit dem Buch auf dem Schoß und zählt die Seelen des eigenen und des fremden Glaubens. Zu viele Christen und andere Religionen (in Spanien und sonst in Europa) darf es nicht geben. Aber wenn sie sterben, kommen sie dann nicht schneller ins Jenseits und die Rechnung zugunsten Allahs geht nicht auf, denn der christliche Gott wird bereits neue Mitglieder begrüßt haben, die Opfer aus Barcelona? Oder aber: Es ist die Rache für die Einmischung europäischer Armeen in den heiligen Krieg im Nahen Osten.

Die Diskussion um Religion verschleiert möglicherweise einige wesentliche Punkte, die die Attentäter bei ihren Aktionen begleitet haben können.

Die These hier ist, dass James Ballard in "Crash" Szenen beschreibt, die in ihrer zugespitzten Art auf die Auto-Attentäter zutreffen könnten. Es bleiben jedoch viele Fragen offen.

Crash Theory aus einem Buch

Das Wort "Theorie" ist vielleicht etwas übertrieben, denn Ballard beschreibt keine Theorie in seinem Roman "Crash", wohl aber den Zustand einer spezifischen Kultur. Eine Kultur, die sich auf eine Clique, eine Interessensgruppe beschränkt: die Faszination für Autos, dem Material, aus dem sie bestehen und dem Thrill, mit Blech zusammen geschoben zu werden und durch den gewaltigen Kontakt mit Kraftfahrzeugmaterial erotisch ungeahnte Höhen zu erklimmen. Die Ideologie weicht der Materialkunde: Welches Teil des Autos korrespondiert mit welchem Teil des Körpers? Welche Verletzung bringt den höchsten Orgasmus?

Die Crash-Touristen stammen aus der Filmbranche; durch Stuntmen und -women wird die Gefahr simuliert, aber häufig genug bleibt ein Restrisiko. Die Stuntmenschen werden für dieses Risiko bezahlt. In "Crash" ist das Ziel eben die Karambolage, die Verletzung, möglicherweise der Tod. Der größte Traum: mit einer Filmdiva einen Unfall produzieren, um aus ihren Schenkeln Blut zu spüren. Wenn man den Unfall mit dem richtigen Winkel und der ausgerechneten Geschwindigkeit berechnet hätte, dann wäre ein Zusammenschieben nicht nur der verunglückten Pkws, sondern auch ihrer Fahrer möglich. Vielleicht wäre Lady Di ein lohnendes Ziel gewesen.

Wie verhält es sich mit den Auto-Attentätern? Den Anschlag überleben sie. Mehrmals haben sie fluchtartig das umfunktionierte Auto verlassen. Während der Fahndung geraten sie häufig in eine Falle und werden von Polizisten oder Sicherheitskräften erschossen. Was denken und fühlen die Attentäter, wenn sie die Passanten an- und überfahren? Das müsste man erforschen. Für Laien wäre es möglich, den Ballard-Roman als Lesebrille der Ereignisse zu nutzen. Was heißt das? Selbst wenn Ballard ein anderes Milieu beschreibt, so lassen sich bei den Assassinen einige Verhaltensmuster aufweisen, die sich mit den Crash-Protagonisten überschneiden.

a. Beschäftigung mit Fortbewegungsmittel;
b. konspirative Treffen mit dem Ziel, Aktionen des Unglücks und des Unfalls zu planen;
c. Fetischisierung eines Willens zur Zerstörung und damit einhergehend
d. Kopflisten: Wer schafft mehr Opfer in weniger Zeit?

Die "Hitlisten" im Sinne von "töten" und "erfassen" mögen eventuell die Wände der Kämpfer und Kämpferinnen schmücken. Welcher Terrorist hat die meisten Opfer auf dem Gewissen?

In "Crash" ist das Leid überschaubar, die Interessensgruppe plant ihre Karambolagen genau und nicht als Massentötung. Die Auto-Terroristen sind an hoher Stückzahl interessiert. Je mehr der "Feinde" mitgenommen werden, desto besser. Auto weist nicht nur auf die Abkürzung von Automobil hin, das Selbsttätige wird zudem angesprochen. Ein Automatismus, der anspringt, sobald das Signal aus dem Osten kommt: Benutzt Messer, benutzt Autos oder Busse, die sind leicht im Westen verfügbar und wenn sie auf Menschenhaut treffen, oh ihr wisst: sie tun schrecklich weh!

Ballard schildert ein Fotoalbum, in dem die Crash-Clique die Unfälle dokumentiert. Selbiges wäre auch für die IS-Terroristen vorstellbar: die IS-Krieger beim Gebet in der Moschee, bei konspirativen Treffen, beim Autokauf oder beim Unterschreiben des Leasingvertrags, beim Fälschen der Dokumente, bei den Abschiedstelefonaten (Moment, das fällt zu sehr auf! Abschiedsbriefe müssen genügen, aber jetzt überleben sie häufiger.) - für die Crash-Clique wären allein die niedergefahrenen Passanten und die möglichen Schäden am Pkw oder Lkw interessant.

Die Auto-Terroristen verfolgen ideologische Ziele: der Terrorismus wird zum Selbstläufer. Wenn die Situation in den Nahost-Kriegen unübersichtlich wird, die westlichen Armeen sich dort ebenfalls in den Krieg mischen, soll der Krieg in die Heimatländer der Nato-Nationen gebracht werden. Ob aber die wahllose Ermordung von zivilen Personen etwas in der Strategie der Nato-Armeen ändert? Ob das gerechtfertigt ist?

Kann man zivile Opfer in Syrien, Libyen, im Jemen mit Opfern in Frankreich, Spanien und Berlin gegen rechnen?

Spüren die jungen Männer aus dem arabischen Kulturraum doch eine geheime Lust am Töten? Am Ineinanderschieben von Menschenfleisch und Automobilen?

Ballards Roman verkörpert die Feindbilder der Auto-Terroristen wie auch die verborgene Struktur ihrer Aktivitäten und Pläne.

Ich betrachtete die Farbfotos in den Magazinen. Jede hatte in der einen oder anderen Form als zentrales Motiv ein Automobil - erfreuliche Bilder junger Paare beim Gruppensex um eine große amerikanische Limousine herum, die inmitten einer blühenden Wiese geparkt war; ein nackter Geschäftsmann in mittleren Jahren vergnügte sich auf dem Rücksitz eines Mercedes mit seiner Sekretärin; Homosexuelle entkleideten einander im Verlauf eines Picknicks am Wegesrand; Teenager befanden sich in einer Orgie von motorisiertem Sex auf einem Motorrad, mit dem sie zwischen geparkten Wagen durchfuhren. Auf allen Bildern reflektierten schimmernde Armaturenbretter oder Fensterscheiben, ebenso wie das Schimmern eines überpolierten Chromteils, die sanften Wölbungen eines Magens oder eines Schenkels oder den Urwald von Schamhaar zwischen den Winkeln der abgebildeten Autokabinen.

(James Graham Ballard: Crash, in der Übersetzung von Joachim Körber. Bergisch Gladbach 1986, S. 106-107)

2 [5]

Die IS-Terroristen könnten allein aus diesem Absatz ihr gesamtes Programm ableiten: die unislamische Kultur der Pornographie und technologischer Dekadenz des Westens, aber zugleich die tödlichen Möglichkeiten eben dieser Technik. Das Auto als Gefährt der Dekadenz und Zerstörung. Die schizophrene Doppelung des technologischen Fortschritts. Ein bisschen unverständlich, diese gewagte Fremdwörterhäufung. Ein paar Worte wären noch nötig. …

Katastrophische Technologie

Der Fortschritt beschert zivilisatorische Vorteile. Zugleich steigt die Gefahr. Illustres Beispiel: Atomenergie. Das Auto sollte man nicht vergessen. Wenn diese Attentate geschehen, wird ein nützliches "Device" zweckentfremdet. Das Auto wird zur mobilen Schnellfeuerwaffe, ganz ohne Waffenschein. Einen Führerschein werden die Attentäter mit sich führen, um möglichst unauffällig bis zur Aktion vorgehen zu können. Aber wer sagt, dass sie bei einer Polizeikontrolle kurz vor dem geplanten "Attentat" nicht durchdrehen. Kurz vor dem Autoschlüsselumdrehen, die Kupplung kommen lassen, da gibt es kein Zurück mehr. (Es sei denn, man tritt auf die Bremse.)

Ballard führt in seinem Aufsatz "Autopia" aus, wie für ihn das Auto das 20. Jahrhundert verkörpere. (Er spricht sogar von "Autogeddon", also ein durch Autos verursachtes Armageddon. Dieses apokalyptische Motiv passt wiederum zum religiösen Terrorismus.)

"A man in a motor car driving along a concrete highway to some unknown destination."

Dieser Satz hat sich im 21. Jahrhundert leicht verändert, weil die tödliche Kraft eines benzingetriebenen Gefährts eben ein ganz konkretes Ziel (und Zweck) gefunden hat. Ballard sieht die positiven Effekte des Autos - ein Gefühl von Freizeit, Möglichkeiten, Freiheit und Initiative - vom Todesrisiko überschattet. Keine Frage, dass ein bewusstes Attentat im Auto diese Werte verneint und aufhebt.

Das Buch "Crash" legt die Frage nah, ob die tötenden Islamisten nicht eine Spur von Lust verspüren und durch den Einsatz der Automobil-Technologie die Freuden der verachteten westlichen Welt teilen?

Das wird Schläfer des Terrors nicht davon abhalten, aufzuwachen und wieder zu töten. Es kann jedoch den Blick etwas öffnen. Insofern nicht die Männer hinter dem Steuer allein die Katastrophe verursachen. Hinter ihnen stehen Kolonnen von Autos, Lkws auf den Autobahnen beladen mit Dutzenden Neuwagen, hinter ihnen stehen Arbeitsplätze und daher auch Politiker, die sich gern der Automobil-Lobby andienen, denn wer viel Arbeit schafft, verdient Respekt.

Fragen bleiben. Fragen, die man an die Politiker jetzt im Wahlkampf stellen kann, die aber sicher auch dem Automobilhändler auf der Seele liegen:

Zählen die Terroropfer zu den Verkehrstoten? Sind die jungen Auto-Terror-Männer Gesinnungsgenossen der Raser, die in deutschen Innenstädten Rennen veranstalten? Rauscht bei all diesen Männern die Droge Geschwindigkeit durch die Synapsen? Mit dem Nervenkitzel des eigenen oder fremden Todes. Dabei fällt auch Paul Virilios Werk Der eigentliche Unfall [6]3 [7] aus dem Jahr 2009 (in deutscher Übersetzung) ein. Virilio versucht in dem Buch, den Unfall als Leitkategorie des 20. Jahrhunderts zu etablieren. Der Unfall soll notwendig sein, um das am Unfall beteiligte Ding erst erfahrbar zu machen. Klingt wie die philosophische Interpretation des Mottos: Ohne Schmerz kein Gewinn! ("no pain - no gain") Erst durch den konfrontativen Kontakt wird das innewohnende Potenzial enthüllt.

Ballard gibt den Anflug einer Antwort:

If we really feared the crash, most of us would be unable to look at a car, let alone drive one. (Und ich möchte ergänzen: let alone kill by car.)

The Normal

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3836414

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Wenn-Autos-zu-Waffen-werden-3807083.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Autounfaelle-und-Klimakatastrophen-3380928.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Grenfell-Tower-3760614.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Automobiler-Terrorismus-3836414.html?view=fussnoten#f_1
[5] https://www.heise.de/tp/features/Automobiler-Terrorismus-3836414.html?view=fussnoten#f_2
[6] http://www.f-lm.de/allem-anfang-wohnt-ein-unfall-inne/
[7] https://www.heise.de/tp/features/Automobiler-Terrorismus-3836414.html?view=fussnoten#f_3