Autounfälle und Klimakatastrophen

Zum Tod von James Graham Ballard

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Am Sonntag starb James Graham Ballard, einer der wichtigsten britischen Science-Fiction-Schriftsteller. Ballard war ein New-Wave-Held in zweierlei Hinsicht: Einmal für das SF-Subgenre, das er in den 1960er Jahren mit prägte, zum anderen für die Musik der späten 1970er: Warm/Leatherette von The Normal etwa adaptierte das Szenario aus seinem Autounfallerotikroman Crash und auch Joy Divisions Atrocity Exhibition geht auf ein Ballard-Buch zurück.

Der 1930 geborene Engländer, der in Schanghai aufwuchs, schrieb in den 1960er Jahren dystopische Erzählungen über Katastrophen, denen das Verschwinden von Technik und eine Reprimitivisierung entwickelter Gesellschaften folgten. Die Schauplätze, die sich häufig besser als entstellte Gegenwarten, denn als Zukunftsszenarien beschreiben ließen, waren - wenn man so will - Lichtjahre entfernt von den in den 1950er Jahren beliebten Space Operas.

1962 schilderte er beispielsweise in The Drowned World ein heißes, überflutetes London in dem Alligatoren leben und Menschen regredieren. Schon damals waren viele den Erzählungen zugrunde liegende Ideen erkennbar Surrealismus, Psychoanalyse und medizinischen Zeitschriften entnommen:

These are the oldest memories on earth, the time-codes carried in every chromosome and gene. Every step we've taken in our evolution is a milestone inscribed with organic memories - from the enzymes controlling the carbon dioxide cycle to the organisation of the brachial plexus and the nerve pathways of the Pyramid cells in the mid-brain, each is the record of a thousand decisions taken in the face of a sudden physico-chemical crisis. Just as psychoanalysis reconstructs the original traumatic situation in order to release the repressed material, so we are now being plunged back into the archaeopsychic past, uncovering the ancient taboos and drives that have been dormant for epochs. [...] Each one of us is as old as the entire biological kingdom, and our bloodstreams are tributaries of the great sea of its total memory.

Solche Schilderungen fanden in einem Großbritannien, das nach dem Ende des Empire und dem Verlust praktisch aller Kolonien seine Ökonomie unter Schwierigkeiten umstellen musste, großen Anklang. Im Jahrzehnt darauf entstanden dort auffällig viele populäre Serien und Filme mit entsprechenden Motiven, darunter No Blade of Grass, Survivors, The Changes, Children of the Stones oder die Quatermass-Serie von 1979.

Zu dieser Zeit war Ballard allerdings schon einen Schritt weiter und hatte die Grenzen des Genres erneut hinter sich gelassen. Das 1970 erschienene The Atrocity Exhibition, sein experimentellstes Werk, besteht aus Textfragmenten. Der Leser weiß nicht genau, ob er es mit mehreren Hauptfiguren zu tun hat, oder mit einem psychotischen Irrenarzt, der ständig seinen Namen wechselt, Ikonen der amerikanischen Populärkultur begegnet, seine Frau wieder und wieder umbringt und in seinem Kopf den Dritten Weltkrieg anzetteln will.

Ballards berühmtester Roman wurde der 1973 erschienene Crash in dem die Erotik des Eindringens von Technik in den menschlichen Körper anhand einer Gruppe von Autounfallfetischisten geschildert wird. Mit diesem Inhalt war der Roman prädestiniert für eine Verfilmung von David Cronenberg, die 1996 auch entstand, aber unerwartet langweilig geriet. Ebenfalls um den Automobilverkehr geht es im Crash-Nachfolger Concrete Island: Dort verunglückt der Architekt Maitland mit seinem Jaguar und wird zu einem Gestrandetem in einem Meer von Straßen.

Freiwillig abgekapselt haben sich dagegen die Protagonisten im 1975 veröffentlichten Roman High-Rise, denen ein Hochhauskomplex alles vom Supermarkt bis zum Friseur bietet. In dieser dorfartigen Struktur lässt Ballard auch dörfliche Verhaltensweisen entstehen: Gruppenidentitäten und Gewalt gegeneinander, bis eine Reprimitivisierung in einem Ausmaß entsteht, für das es ein Jahrzehnt vorher noch einer von Außen kommenden Katastrophe bedurfte.

Ballards Meisterwerk ist The Unlimited Dream Company, in dem aus einem Flugzeugabsturz eine Weltbegattungsphantasie wird und das viele Elemente der Serie Lost vorwegnahm: Ein Ich-Erzähler namens Blake stürzt mit einem gestohlenen Flugzeug in die Themse. Anschließend gelangt er in eine Kleinstadt, die er nicht mehr verlassen kann. Dafür merkt er nach und nach, dass er mit seltsamen Kräften ausgestattet ist.

Während im Zuge des Klimanwandels mahnend-kulturpessimistische Lesarten von Ballards Werken zunahmen, äußerte sich der Schriftsteller in Anmerkungen zu einer Neuauflage von The Atrocity Exhibition kritisch über "Ökopuritaner" und lobte stattdessen Pornographie als "mächtiges Werkzeug für sozialen Wandel". Zudem zeigte er sich auch dankbar für den Abwurf der Atombombe auf Hiroschima, der er seine Befreiung aus einem japanischen Internierungslager und damit sein Überleben zuschrieb. Bis Sonntag.