Babyn Jar: Zwei Tage und zwei Jahre

Das Konzentrationslager Syrez bei Kiew. Bild: Public Domain

Am 29. und 30. September 1941 war die Schlucht von Babyn Jar der Schauplatz des größten Einzelmassakers des Holocausts. Tragischerweise wurden dort in den nächsten zwei Jahren der deutschen Besatzung noch zahllose weitere Menschen ermordet

Die Ermordung von 33.711 Juden innerhalb von zwei Tagen wurde am 80. Jahrestag (dem 29. September) auf Telepolis thematisiert und den wenigen Überlebenden dieses Massakers Gehör geschenkt.

An dieser Stelle soll nun, im zweiten von drei Teilen, die Geschichte Kiews unter deutscher Besatzung im Allgemeinen und die Morde an mehreren weiteren Zehntausenden Menschen in Babyn Jar, einer Schlucht am damaligen Stadtrand, dargestellt werden. Die unmenschlichen Verbrechen, die an den Bewohnern der Stadt begangen wurden, stehen ebenfalls stellvertretend für die außergewöhnliche Brutalität des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion.

Auch in diesem Artikel soll ein Hauptaugenmerk darin bestehen, die Überlebenden ausführlich zu Wort kommen und für die vielen Opfer sprechen zu lassen. Da diese Zitate entsprechend der Chronologie der beiden Jahren über den gesamten Artikel verteilt sind und teilweise an die Grenze des Erträglichen gehen, seien sensible Menschen vorab gewarnt.

Geflüchtete und versteckte Juden

Die deutschen Besatzer hatten öffentliche Verbote angebracht, die - jeweils unter Androhung der Todesstrafe - untersagten, Juden zu verstecken bzw. jeden Hausmeister aufforderten, alle Juden sowie Mitarbeiter der NKWD und Mitglieder der Kommunistischen Partei umgehend zu melden. Des Weiteren wurden Belohnungen für jeden denunzierten Juden ausgelobt.

Viele Juden, die versuchten in Kiew unterzutauchen, fanden nun nur noch selten Menschen, die bereit waren, die Gefahr auf sich zu nehmen, Juden zu verstecken. Eine Reihe von Juden wurden denunziert.

Die Konsequenz dieser ausweglosen Situation war, dass in den Wochen nach dem Massaker von Babyn Jar noch viele Hunderte Juden erschossen wurden. Dina Pronicheva, die wie durch ein Wunder das Massaker überlebt und geflüchtet war, wurde denunziert und abermals auf den Weg nach Babyn Jar gebracht. Sie überlebte nur mit viel Glück, da es ihr gelang, während der Fahrt unerkannt vom Lastwagen zu springen.

Andere, wie Rewekka Schwarzmann, waren auf der verzweifelten Suche, Menschen zu finden, die sich um ihr Baby kümmern würden, damit sie selber anschließend nach Babyn Jar in den Tod gehen könnten, weil sie alle Hoffnung aufgegeben hatten, ein Versteck zu finden.

Rewekka Schwarzmann jedoch hatte Glück. Sie konnte zwei Jahre lang in Kiew untertauchen (An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass trotz all dieser extremen Hindernisse viele Einwohner dennoch bereit waren, Juden das Leben zu retten. Beispielsweise der orthodoxe Priester Aleksei Glagolev. Die Anzahl der Einwohner Kiews, die die Auszeichnung "Gerechte unter den Völkern" erhalten haben, gibt hiervon beredet Zeugnis ab).

Weniger Glück hatten neun ältere Juden, die nach dem Massaker im Zentrum von Kiew auftauchten. Ein Zeuge berichtet:

Dort saßen sie Tage und Nächte lang. Die Leute gingen vorbei und hatten offensichtlich Mitleid mit ihnen, trauten sich aber nicht, auf sie zuzugehen. Dafür würde man hingerichtet werden. Dann starb einer (der Juden) vor Hunger. Wie furchtbar! Er starb vor Hunger, während eine große Stadt zuschaute. Nach einer Weile starb ein zweiter, ein dritter und ein vierter... Sie starben, und niemand entfernte die Leichen." Als nur noch zwei am Leben waren, "ging ein Kiewer auf einen deutschen Wachmann zu, der an einer Straßenecke stand. Er bat ihn, während er auf die Leichen zeigte, diese beiden zu erschießen. Der Wachmann überlegte einen Moment und tat es.

Viele Opfergruppen

Babyn Jar (deutsch: Altweiberschlucht) ist nicht nur der Ort, an dem die Deutschen innerhalb zweier Tage die meisten Menschen während des Zweiten Weltkriegs ermordeten, sondern auch ein Ort, an dem neben dem "Holocaust durch Kugeln" auch andere Opfergruppen umgebracht wurden.

Sowjetische Kriegsgefangene

Sowjetische Kriegsgefangene wurden extrem schlecht behandelt. Wie bereits im ersten Teil der Artikelserie berichtet, waren am Kriegsende von den rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen 3,3 Millionen verhungert, erfroren, an Seuchen gestorben oder erschossen worden.

Auch in Kiew war die Überlebenschance für Gefangene gering. Rewekka Schwarzmann berichtet über eine Exekution von Kriegsgefangenen, die noch vor dem 29. September 1941 stattfand:

Ich habe gesehen, wie deutsche Wachen Kriegsgefangene über die Brest-Litowsker Chaussee jagten. Das waren Tausende - halbnackt und barfüßig, mit Schaufeln in den Händen. Es waren Ukrainer, Russen und viele Juden dabei. Sie wurden auf die Seite des Lukjanowski-Friedhofs getrieben. Die Leute warfen den gequälten, hungernden Gefangenen Brotstücke zu, aber wer sie aufhob, wurde erschossen. Die Kinder, die hinter den Kriegsgefangenen hergelaufen waren, erzählten, dass sie Gruben ausheben mussten, woraufhin die deutschen Soldaten sie erschossen und in diese Gruben geworfen hätten.

Die Gefangenenlager

"Bei der Verpflegung der bolschewistischen Gefangenen sind wir im Gegensatz zur Verpflegung anderer Gefangener an keine internationalen Verpflichtungen gebunden. Ihre Verpflegung kann sich daher nur nach den Arbeitsleistungen für uns richten", heißt es in einer Gesprächsnotiz von Hermann Göring und Herbert Backe am 16. September 1941. General Eduard Wagner, Generalquartiermeister im Oberkommando des Heeres, brachte die deutsche effiziente Unmenschlichkeit noch prägnanter auf den Punkt:

Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Lagern haben zu verhungern.

Nach dem Massaker an Juden in Babyn Jar wurden bald in der Nähe Kiews mehrere Kriegsgefangenenlager eingerichtet. Das berüchtigtste Gefangenenlager war Darniza, wo Zehntausende Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht zu leben gezwungen wurden. Anatoli Kusnezow, der den wichtigen autobiografischen Roman "Babij Jar" verfasste, beschreibt das Lager:

Jeder Gefangene bekam pro Tag einen Schöpflöffel dünner Rübensuppe. (…) Kommandeure, Politleiter und Juden (…) bekamen überhaupt nichts. Sie durchwühlten die Erde und verzehrten alles, was eßbar war. (…) kauten an ihren Gürteln, Riemen und Schuhen. Nach acht bis neun Tagen lag ein Teil von ihnen im Sterben, die anderen erweckten den Anschein, als hätten sie den Verstand verloren. (…)

Die Deutschen nahmen die Eßpakete entgegen, trugen sie aber zunächst in den Wachraum, wo sie das Bessere aussonderten. Sie trugen sie aus dem Wachraum, schrien: "Brot! Brot!" und warfen die Sachen auf die Erde. (…) Die ausgehungerten Menschen rauften sich, rissen einander das Brot aus den Händen, während die Wachtposten daneben standen und laut lachten.

Kommunisten

Eine weitere Opfergruppe bestand aus Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Franz Halder, Chef des Generalstabes des Heeres, schrieb in seinem Kriegstagebuch:

Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf (…) Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz.

Kein Blatt vor den Mund nahm auch Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts, der bereits eine Woche nach Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion befahl:

Zu exekutieren sind alle Funktionäre der Komintern (wie überhaupt die kommunistischen Berufspolitiker schlechthin), die höheren, mittleren und radikalen unteren Funktionäre der Partei, der Zentralkomitees, der Gau- und Gebietskomitees, Volkskommissare, Juden in Partei- und Staatsstellungen, sonstigen radikalen Elemente (Saboteure, Propagandeure, Heckenschützen, Attentäter, Hetzer usw.), soweit sie nicht im Einzelfall nicht oder nicht mehr benötigt werden, um Auskünfte in politischer oder wirtschaftlicher Hinsicht zu geben, die für die weiteren sicherheitspolizeilichen Maßnahmen oder den wirtschaftlichen Wiederaufbau der besetzten Gebiete besonders wichtig sind.

Ukrainische Nationalisten

In Kiew und in Babyn Jar wurden auch ukrainische Nationalisten Opfer der deutschen Besatzer. So wurden 621 Mitglieder der "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN) von den deutschen Besatzern ermordet.

Inwiefern ukrainische Nationalisten beim Holocaust im Allgemeinen und in Babyn Jar insbesondere auch Mittäter waren, ist eine extrem komplexe Frage, die gerade angesichts des aktuellen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine ein politisch hart umkämpftes Thema darstellt. Es kann daher nicht verwundern, dass es gerade, weil der politische Druck auf die historische Erforschung dieser Frage so hoch ist, nur wenige differenzierte Studien gibt.

Die Tendenz, ukrainische Nationalisten pauschal als Faschisten zu bezeichnen, weil sie zu Beginn des Krieges in gewisser Weise mit den deutschen Besatzern kollaborierten, ignoriert die Tatsache, dass die ukrainischen Nationalisten verständlicherweise auf eine Befreiung durch das Dritte Reich vom Joch des stalinistischen Terrors hofften.

Die Gegentendenz, die ukrainischen Nationalisten pauschal in positives Licht zu rücken, weil sie gegen Moskau und für die Unabhängigkeit kämpften, ist in seiner Pauschalität aber ebenso verzerrt, weil es Fälle von aktiver Unterstützung der grausamen deutschen Besatzungspolitik ignoriert.

In welchem Ausmaß sich konkret in Babyn Jar unter den 300 ukrainischen Hilfspolizisten am 29. und 30. September 1941 auch ukrainische Nationalisten befanden, ist nach dem Wissensstand des Autors umstritten. Unumstritten ist, dass an den konkreten Exekutionen die Hilfspolizei nicht beteiligt war, sondern ihre Aufgabe darin bestand, Wertsachen und Kleidung der jüdischen Opfer zu sammeln und die Juden weiter in Richtung der Schlucht zu treiben.

Überlebende und Zeugen beschreiben das Verhalten der Hilfspolizei unterschiedlich. Einigen erschienen sie als gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Juden, andere beschreiben sie als sadistisch. Aber es sind auch Fälle von Lebensrettung bekannt. So verdankt die Familie von Viktor Alperin ihr Leben dem ukrainischen Nationalisten Roman Bida, der im Winter 1941 selber in Babyn Jar erschossen wurde.

Während die ukrainischen Nationalisten also definitiv Opfer waren und in Babyn Jar ermordet wurden, ist die Frage, inwiefern sie auch eine gewisse Mittäterschaft betrifft, extrem komplex und der Versuch einer differenzierten Antwort übersteigt, trotz einer breiten Lektüre, die Möglichkeiten des Autors.

Jeder Leser, der hierzu jedoch eine eindeutige Position zu haben vermeint, sollte sich etwas Zeit für eine Recherche nehmen. Studien anerkannter Historiker geben wichtige Argumente, die dieses scheinbar eindeutige Bild zu differenzieren helfen.

Wenig differenziert war die Haltung der Deutschen zu den ukrainischen Nationalisten und einem ukrainischen Staat. Reichskommissar Erich Koch brachte dies im August 1942 ungeschminkt auf den Punkt:

Es gibt keine freie Ukraine. Das Ziel unserer Arbeit muss sein, dass die Ukrainer für Deutschland arbeiten und nicht, dass wir das Volk hier beglücken. Die Ukraine hat das zu liefern, was Deutschland fehlt. Diese Aufgabe muss ohne Rücksicht auf Verluste durchgeführt werden… Für die Haltung der Deutschen im Reichskommissariat ist der Standpunkt maßgebend, dass wir es mit einem Volk zu tun haben, das in jeder Hinsicht minderwertig ist (…) Das Bildungsniveau der Ukraine muss niedrig gehalten werden (…) Es muss ferner alles getan werden, um die Geburtenrate dieses Raumes zu zerschlagen. Der Führer hat besondere Maßnahmen hierfür vorgesehen.

Sinti und Roma

Generalmajor von Bechtoltsheim erklärte lapidar: "Zigeuner sind beim Aufgreifen sofort an Ort und Stelle zu erschießen." Dies ist eines der wenigen Dokumente, die die Behandlung von Sinti und Roma betreffen. Massaker an Sinti und Roma dokumentierten die Deutschen zudem so gut wie nie. Eine Aussage Otto Ohlendorfs, Befehlshaber der Einsatzgruppe D, während des Nürnberger Prozesses verdeutlicht das Schicksal, das Sinti und Roma während des Zweiten Weltkrieges erwartete:

Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden. Für beide galt damals der gleiche Befehl.

Im Frühjahr 1942 begannen in Kiew Sicherheitspolizei und Militär mit der systematischen Ermordung der Sinti und Roma. Hier wurden mindestens 150 Menschen ermordet.

Patienten der Psychiatrie

In der Nähe von Babyn Jar befand sich eine Psychiatrie. Mitte Oktober 1941 wurden dort jüdische Patienten erschossen. Im Folgejahr kamen die deutschen Besatzer insgesamt dreimal mit einem Gaswagen dort an und ermordeten auf diese Weise alle 800-820 Patienten.

Stadtbewohner und Verbote

Bewohner Kiews konnten aber auch Opfer der Deutschen werden, ohne dass sie Teil einer bestimmten Gruppe waren. So wurden als Vergeltungsmaßnahme für Sabotageakte im Herbst 1941 einhundert, dann dreihundert und schließlich noch einmal vierhundert Bewohner, die willkürlich in der Straße aufgegriffen wurden, erschossen.

Daneben bestraften die Deutschen auch einen Verstoß gegen die Sperrstunde mit dem Tod. Es wurden auch immer wieder verschiedene Befehle veröffentlicht, deren Unkenntnis den Menschen das Leben kosten konnte. Beispielsweise, dass Taubenbesitzer an einem bestimmten Tage ihre Tauben abzugeben hatten. Anatoli Kusnezowschreibt hierzu:

In diesen Befehlen und Anordnungen drängte sich alles Wichtige zusammen, von ihnen hingen Leben und Tod ab. Nach der Tragödie der Taubenhalter wurde nur noch gefragt: Was ist der neueste Befehl?

Hungerkatastrophe

In den "Wirtschaftspolitischen Richtlinien" vom 8. November 1941 heißt es:

Versorgung der Bevölkerung: (...) Die städtische Bevölkerung kann nur ganz geringfügige Lebensmittelmengen erhalten. Für die Großstädte (Moskau, Leningrad, Kiew) kann einstweilen überhaupt nichts getan werden. Die sich hieraus ergebenden Folgen sind hart, aber unvermeidlich (...) Die in unmittelbarem deutschen Interesse arbeitenden Menschen sind durch unmittelbare Nahrungsmittelzuteilungen in den Betrieben so zu ernähren, daß ihre Arbeitskraft einigermaßen erhalten bleibt.

Tatsächlich nahm die Hungerkatastrophe in Kiew tragische Ausmaße an, die fast die Dimension der Einwohner des blockierten Leningrads erreichte, wo fast eine Millionen Menschen verhungerte. Der Hungertod ist ein ständiger Begleiter in Kiew. Eine Nahrungszufuhr aus den umliegenden Regionen untersagten die deutschen Besatzer.

Die Lehrerin L. Nartova, schreibt in ihr Tagebuch:

Die Deutschen feiern. Sie gehen alle satt und zufrieden, alle haben Lichter in den Weihnachtsbäumen. Aber wir bewegen uns alle wie Schatten, es herrscht totale Hungersnot. Die Leute kochen eine wässrige Suppe, die sie ohne Brot essen, denn Brot gibt es nur zwei Mal pro Woche, 200 Gramm. Und diese Ernährung ist das beste Szenario. Diejenigen, die etwas haben, tauschen es auf dem Land ein, aber diejenigen, die nichts haben, schwellen vor Hunger an, sie sterben bereits. Viele Menschen haben Typhus.

Zwangsarbeiter

Im Frühjahr 1942 begannen die deutschen Besatzer mit blumigen Versprechen Freiwillige aus Kiew zur Arbeit im Deutschen Reich zu gewinnen. So wurde beispielsweise im "Neuen Ukrainischen Wort" am 3. März geworben:

DEUTSCHLAND RUFT EUCH! Fahrt ins schöne Deutschland. 100.000 Ukrainer arbeiten bereits im freien Deutschland. Und du?

Menschen, die der Notlage in Kiew entkommen und an die Verheißungen glaubten, fanden sich alsbald als Zwangsarbeiter weit entfernt von ihrer Heimat wieder. Als alsbald die Freiwilligkeit endete (auch weil einige Briefe von Zwangsarbeitern an ihre Familien der Zensur entgingen und die wahren Zustände beschrieben), wurde offener Druck von den Deutschen ausgeübt. Razzien in der Stadt, panische Fluchtversuche und untröstliche Abschiede gehörten bald zum Alltag in der Stadt.

Am 13. März 1942 schrieb Nina Gerasimowa in ihr Tagebuch:

Als sich das Auto näherte, sah ich Polizisten darauf, die ein Auto voller Mädchen bewachten. Sie waren alle jung und hübsch. Sie waren leger gekleidet. Ihre Mäntel waren aufgeknöpft, fast alle ohne Kopftuch und mit wallendem Haar. Sie haben verzweifelt geweint und geschrien. Die ganze Straße wurde durch ihr Stöhnen und Schreien ohrenbetäubt.

Vor allem ein hübsches Mädchen stand an der Seite. Ihr Haar war lang, blond und windzerzaust. Sie war buchstäblich verrückt vor Verzweiflung. Das Bild war atemberaubend. Alle blieben auf der Straße stehen, als ob sie stillstehen würden. Heute wurde mir gesagt, dass sie "Freiwillige" aus der Süßwarenfabrik nach Deutschland nehmen. Die Deutschen und die Polizei nahmen die schönsten und jüngsten Mädchen ohne jede Vorwarnung mit. Was für ein Horror!

Die Wirklichkeit der Zwangsarbeiter in Deutschland beschreibt stellvertretend ein von der Zensur aussortierter Brief eines Mädchens:

Als wir vorbeigingen, schaute man uns an wie Tiere. Sogar die Kinder hielten sich die Nase zu und spuckten uns an. (…) Wir begannen zu warten, wir wollten, daß man uns möglichst schnell kauft. Wir russischen Mädchen kosten nämlich in Deutschland nicht allzu viel: für fünf Mark stand jede zur Auswahl.

Am 7. Juli 1942 kaufte uns ein Fabrikant. Um sechs Uhr abends führte man uns essen. Mami, bei uns essen die Schweine so etwas nicht, wir aber mussten das essen. (…) Liebe Mama, man behandelt uns wie Tiere. (…) Ich glaube, ich komme nicht wieder, Mami.

In Kiew hingen immer mehr Plakate, die die Altersstufen der Einwohner bestimmten, denen die Zwangsarbeit im Deutschen Reich drohte. Im Sommer 1943 schrieb ein deutscher Journalist, dass für die Ukrainerinnen eine Schwangerschaft die einzige Möglichkeit sei, sich vor der Deportation zu schützen. Allerdings wurden Frauen häufig zur Abtreibung gezwungen.

Insgesamt ereilte 120.000 Kiewer Einwohner das Schicksal der Zwangsarbeit im Deutschen Reich. Zu Beginn der Besatzung schätzten die Deutschen die Bewohnerzahl auf 400.000.

KZ am Stadtrand

Das Konzentrationslager Syrez wurde 1942, nur wenige hundert Meter von Babyn Jar entfernt, als Nebenlager des KZ Sachsenhausen gebaut. Mehrere Tausend Menschen waren hier, direkt am Stadtrand Kiews, eingesperrt. Die grausamen Lebensbedingungen unter der Lagerleitung von SS-Sturmbannführer Paul Radomsky sind mit denen anderer KZs vergleichbar. Ziama Trubakov erinnert sich:

Wir hatten Glück, dass wir uns auf der Baustelle befanden, weit weg vom Lager: Die Situation im Lager verschärfte sich von Tag zu Tag. Radomsky wurde absolut biestig. Er wollte nicht nach Hause gehen, bevor er nicht zwei, drei Menschen erschossen hatte.

Er liebte es, früh am Morgen zu kommen und eine der Staffeln zu einem barbarisch anstrengenden Training zu zwingen. Wenn er jemanden aus irgendeinem Grund nicht mochte, hetzte er seinen Hund auf ihn. Rex stürzte sich auf ihn und riss dem armen Kerl ein Stück Fleisch vom Leib. Dann würde sich Radomsky wieder beruhigen.

Folgende Erinnerung Trubakows macht die Grausamkeit im Lager in seiner ganzen Extremität deutlich:

Brigadiere haben diese Grausamkeit erfunden: Sie wählten mehrere Gefangene im letzten Stadium der Dystrophie aus und banden sie an eine Walze, mit der unbefestigte Straßen gerammt wurden. Als einer von ihnen hinfiel und nicht mehr aufstehen konnte, befahlen sie den anderen zehn Häftlingen, ihn mit der Walze zu überfahren.

Es war eine grauenhafte Szene. Die Walze rollte immer wieder zurück und der arme Kerl schrie sich die Seele aus dem Leib. Die Brigadiere wurden immer verärgerter und peitschten die Gefangenen, damit sie die Walze vorwärts zogen. Obwohl die Gefangenen ihren Kameraden von seinem Elend befreien wollten, hatten sie keine Kraft mehr, die Walze zu bewegen. Also brachten die Wachen zehn weitere Gefangene. Alle zusammen, laut weinend, ließen die Walze über den todgeweihten Mann laufen.

Sein Blut spritzte in Strömen über den ganzen Platz. Sein Leichnam wurde genau dort begraben, auf der Straße, die dann mit eben dieser Walze plattgefahren wurde... Nichts blieb von ihm übrig - nur ein flacher Fleck auf der Straße... unmarkiert... als ob er nie existiert hätte...

Erzwungene Spurenbeseitigung

327 Insassen des KZ Syrez wurden gezwungen, in Babyn Jar die Leichen zu exhumieren, auf Wertsachen zu durchsuchen und zu verbrennen. Es gibt zwei dringend empfohlene Bücher zu diesem Ereignis: Ziama Trubakovs Autobiographie: "The Riddle of Babi Yar" und "Babij Jar", herausgegeben von Erhard R. Wiehn, der die Beschreibungen weiterer KZ-Insassen beinhaltet, die die Spuren des Grauens beseitigen und aus der Geschichte tilgen sollten: Dawid Budnik und Jakow Kaper.

Neben der Exhumierung und Verbrennung der Leichen in selbst gebauten Öfen, kamen täglich sechs bis sieben Gaswagen, die je 110 ermordete Menschen transportierten. Kaper beschreibt:

Ich habe gesehen, wie ein Gaswagen in die Schlucht kam, ein paar Minuten mit laufendem Motor stehen blieb und wir dann Leichen aus dem Wagen ausladen und in den brennenden Ofen werfen mussten. Oft starben die Menschen in den Gaswagen nicht, sondern wurden lebendig ins Feuer geworfen.

Die Flucht

Die KZ-Insassen, die in Babyn Jar zur Arbeit gezwungen wurden, erkannten bald, dass sie selbst die letzten Opfer von Babyn Jar sein würden, sobald sie ihre Arbeit getan hatten. Als sie die Leichen der Psychiatrie ausgraben und verbrennen mussten, deutete ein deutscher Soldat an, dass sie am nächsten Tag exekutiert werden würden.

In der darauf folgenden Nacht, dem 29. September 1943, genau zwei Jahre nach dem Massaker von Babyn Jar, gelang es den Insassen die Tür ihrer Unterkunft zu öffnen und im Kugelhagel zu fliehen. Nur Fünfzehn von 327 überlebten.

Ende

Am Ende der Besatzungszeit lebten in Kiew noch 186.000 Menschen, also weniger als die Hälfte der Bevölkerung zu Beginn der Besatzung. Der Filmregisseur Aleksandr Dovzhenko schrieb gleich nach der Befreiung Kiews:

In Kiew gibt es praktisch keine Bevölkerung. Es gibt nur ein paar armselige, verarmte Menschen, die Hilfe brauchen. Es gibt keine Kinder, keine jungen Mädchen, keine jungen Burschen. Es gibt nur alte Frauen und Krüppel.

Juristische Aufarbeitung

1946 war das Massaker von Babyn Jar u. a. Gegenstand eines Prozesses in Kiew, in dem sich insbesondere der Höhere SS- und Polizeiführer für Russland-Süd Friedrich Jeckeln verantworten musste. Im Prozess von Nürnberg fand Babyn Jar Eingang in die Anklageschrift.

Allerdings war unter den dort Angeklagten niemand, der direkt an diesem Massaker beteiligt war. Von den SS-Führern, die direkte Verantwortung für das Massaker trugen, mussten sich dann drei in dem sogenannten Einsatzgruppenprozess, einem Nachfolgeprozess in Nürnberg, verantworten: Paul Blobel, Waldemar von Radetzky und Otto Rasch.

Paul Blobel, Befehlshaber des Sonderkommandos 4a (jenes Sonderkommandos, das u. a. am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar die Exekutionen durchgeführt hatte) machte während des Prozesses folgende menschenverachtende Aussage:

Das menschliche Leben war für sie nicht so wertvoll wie für uns. Es machte ihnen nicht so viel aus (getötet zu werden). Sie kannten ihren eigenen menschlichen Wert nicht.

Später antwortete er auf die Frage "In anderen Worten, Sie bemitleideten eher die Männer, die geschossen haben als die Opfer?":

Unsere Männer mussten versorgt werden. (…) Diese Männer haben viel durchgemacht, psychologisch.

In der DDR gab es zwar einige Prozesse wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine, es kam aber zu keiner Verurteilung für die Beteiligung am Massaker von Babyn Jar. In der Bundesrepublik dauerte es bis 1967, bis Babyn Jar im sogenannten Callsen-Prozess in Darmstadt erstmals konkret im Mittelpunkt stand.

Dort erschien mit Dina Pronicheva eine Überlebende des Massakers, die im Detail über die Grausamkeit der Exekutionen berichtete. Das mediale Interesse an dem Prozess war jedoch schlicht nicht vorhanden.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete unter der Rubrik "Zwischen Taunus und Odenwald". Einzig die Verkündung des Urteils schaffte es zu einem längeren Beitrag im Politikteil. Die Aussage von Dina Pronicheva fand allein das Darmstädter Echo einer Erwähnung wert.

Einige Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen vier und 15 Jahren. Andere wurden freigesprochen.

Die Historikerin Franziska Davies fasst die juristische Aufarbeitung in Deutschland so zusammen:

Aus den Reihen der Wehrmacht wurde niemand juristisch belangt. Aber auch die meisten Angehörigen des Sonderkommandos und der mindestens 700 Mann starken Einsatzgruppe, die an den Massenmorden beteiligt waren, blieben straffrei.

Kalte Zahlen

Der sowjetische Staatsanwalt bezifferte bei der Anklage im Nürnberger Prozess 1946 die Zahl der Opfer in Kiew im Allgemeinen und in Babyn Jar im Besonderen:

Mehr als 195.000 Menschen wurden in Kiew zu Tode gefoltert, erschossen und in Mordwagen vergast, darunter:

  • Über 100.000 Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen in Babyn Jar.
  • Über 68.000 Sowjetkriegsgefangenen und Zivilisten in Darniza.
  • Über 25.000 Zivilisten und Kriegsgefangene in einem Panzerabwehrgraben in der Nähe und auf dem Gelände des Konzentrationslagers Syrez
  • 800 Patienten auf dem Gelände des Kirillo'vschen Krankenhauses
  • Ungefähr 500 Zivilisten auf dem Gelände des Klosters Kiewo-Peschersk
  • 400 Zivilisten auf dem Friedhof von Lukjanovsk.

Tragischerweise wird sich weder die exakte Anzahl der Opfer, noch deren Namen und Identitäten jemals genau bestimmen lassen. Die Zeugen der Verbrennung der Opfer nennen für Babyn Jar Zahlen zwischen 70.000 und 127.000 Menschen.

Bei einem Treffen mit Nikita Chruschtschow sollte die Opferzahl eine besondere Bedeutung zukommen, wie Trubakow berichtet:

Die ukrainische Regierung und der Bürgermeister von Kiew, Dawydow, planten auf Anweisung von Chruschtschow, in Babyn Jar einen Vergnügungspark und ein Stadion zu bauen.

Wir fuhren mit einer Kommission dorthin, die von der verehrten ukrainischen Lehrerin Nina Iwanowna Burnichenko geleitet wurde. Nikita Chruschtschow war damals ein Mitglied dieser Kommission. Unser kämpferisches Trio: Jakow Kaper, Dawid Budnik und ich vertraten den Standpunkt, dass es undenkbar sei, in Babyn Jar etwas zu bauen, das dieser Ort unantastbar bleiben müsse: 127.000 Menschen starben hier....

"Und woher wissen Sie das?", fragte Chruschtschow.

"Sie waren Gefangene des Lagers Syrez und von Babyn Jar", erklärte einer der Anwesenden.

Aber Chruschtschow ließ nicht locker:

"Und woher weiß man, dass es 127.000 sind?"

"Durch die Zahl der Öfen. Wir waren in dem Team, das gezwungen war, Leichen zu exhumieren und zu verbrennen."

Die komplexe Erinnerungs- und Gedenkgeschichte an und in Babyn Jar, die sich in dieser Szene andeutet, soll Gegenstand des dritten und letzten Teil der Artikelserie sein.

Benutzte Literatur:

Karel Berkhoff: Harvest of Despair.

Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine.

Anatolij Kusnezow: Babij Jar, Osteuropa, Heft 1-2 (2021): Babyn Jar. Der Ort, die Tat und die Erinnerung.

Ziama Trubakow: The Riddle of Babyn Yar.

Erhard Roy Wiehn (Hg.), Babij Jar 1941 - Das Massaker deutscher Exekutionskommandos an der jüdischen Bevölkerung von Kiew 60 Jahre danach zum Gedenken.

Boris Zabarko: Nur wir haben überlebt.