Baerbock und die Desinformationskampagne: Aber sie hat es doch gesagt

"… egal, was meine deutschen Wähler denken". Kontext, Faktenfuchs und die Frage, wer und was die deutsche Ukraine-Politik bestimmt.

Was ist wichtig an der Debatte über die Äußerungen der Außenministerin Annalena Baerbock beim Prager Forum 2000?

Der Kontext

Die politisch hochkarätigen Teilnehmer sollten auf die Frage antworten, wie "wir" auf gegenwärtige Gefahren der Demokratie antworten. "Democracy’s Clear and Present Danger: How Do We Respond?" lautet das Dach-Thema der diesjährigen Konferenz. Die deutsche Außenministerin nahm am Tag eins bei einer Diskussion teil. Das Video dazu wird vom Forum 2000 auf YouTube mit "Ukraine: A Vision for success" betitelt.

"We are with you", "Wir sind auf Ihrer Seite", sagt der Moderator zum ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba, der gerade gesprochen hatte. Er sagte unter anderem: "Putin hat den Westen als Konzept angegriffen", "Die traurige Wahrheit ist: Das Zeitalter des Friedens in Europa ist zu Ende, das Zeitalter der halbherzigen Maßnahmen ist auch vorbei", "Wir müssen entschlossen sein, uns verpflichten, und ja, es wird hart sein. Das ist der einzige Weg, um einen Krieg zu gewinnen." Am Ende sagte Kuleba: "Wir müssen den Krieg gewinnen und wir werden ihn gewinnen."

Der ukrainische Außenminister machte noch eine launige Replik zur Bemerkung des Moderators, man sei dankbar, dass er der EU Ratschläge gegeben habe, was zu tun sei, die das Publikum hörbar heiter stimmte: Er habe la als "incoming member" der EU gesprochen.

Dann kam Annalena Baerbock an die Reihe, eingeleitet mit der Frage, wie denn die deutsche Vision einer erfolgreichen Ukraine aussehe (im fast vierstündigen Video ab 1:22:57). Nach etwa vier Minuten (1:26:41) war ihr Beitrag zu Ende, es gab es freundlichen Beifall.

Baerbock gab ein Versprechen auf ein Versprechen ab:

Aber wenn ich den Menschen in der Ukraine zugleich das Versprechen gegeben habe: Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht – dann möchte ich es einlösen, egal, was meine deutschen Wähler denken.

Annalena Baerbock

In Deutschland musste danach der Faktenfuchs ran. Twitter war wieder voll mit Erregungen, diesmal über die Aussage der Grünen-Politikerin und Außenministerin, dass ihr ihre Wähler angesichts ihres Versprechens gegenüber der Ukraine egal sind, was man ja auch als erfrischend unpopulistisch verstehen könnte; der Rücktritt von Baerbock trendete als Hashtag und die AfD hatte mal wieder eine Chance, sich als Randpartei bemerkbar zu machen.

Die Desinformationskampagne

Anlass des Eingreifens des BR-Faktenfuchses: eine Desinformationskampagne im Zusammenhang mit dem Auftritt Baerbocks. [Der ist hier auf Telepolis schriftlich in voller Länge und deutscher Übersetzung dokumentiert.]

Der Vorwurf: Es würde ein Ausschnitt von Baerbocks Auftritt "in einigen Telegram-Gruppen" kursieren, der ein ziemliches Echo hat. Verbreitet von Gruppen, "die russische Propaganda verbreiten", versehen mit einer "irreführenden Behauptung". Vorwurf: Es sei ein "Baerbock-Zitat verfälscht und instrumentalisiert" worden.

Nicht nur der Faktenfuchs spürte der Desinformationskampagne nach, auch andere Aufklärer beschäftigten sich mit einer "Pro-Putin-Fake-Kampagne", die mit einem manipulativ zugeschnittenen Video "aus dem Kontext" betrieben werde.

Beim Faktenfuchs heißt es:

Unter dem Videoclip heißt es in einer Gruppe etwa: "Die deutsche Außenministerin verspricht, dass die Ukraine an erster Stelle komme 'egal, was deutsche Wähler denken', oder wie hart ihr Leben wird."

BR-Faktenfuchs

Bei Fefe fand sich gestern ein Link zu einem Videozusammenschnitt, der diesen Vorwürfen entspricht und auch den Bildern im BR-Beitrag. Dort steht über dem Clip in englischer Sprache:

German FM: I will put Ukraine first "no matter what my German voters think" or how hard their life gets.

Ignorance, the root and stem of all evil

Die deutsche Übersetzung ist im obigen Zitat des BR-Faktenfuchses wiedergegeben – mit einem kleinen Unterschied: Die Außenministerin sagte nicht, "egal, was deutsche Wähler denken", sondern "egal, was meine(!) deutschen Wähler denken". Das ist ein wichtiger Unterschied in der Referenz, den auch die Welt in ihrem Beitrag korrigieren musste.

Im Kommentar zum Clip der Twittergruppe "Ignorance, the root and stem of all evil" ist das "my" korrekt wiedergegeben. Ob das im Nachhinein geschah, wie es der Faktenfuchs nahelegt, oder bezieht er sich doch auf einen anderen Tweet, ein anderes Posting?

Der Satz German FM: I will put Ukraine first "no matter what my German voters think" ist ein Kommentar zum Clip, ist er schon Propaganda? Solche kommentierenden Zusammenfassungen von politischen Absichten aus einer Rede sind täglich zu lesen in reichweitenstarken Medien in Frankreich, UK, USA etc., nicht selten auch zu Reden Putins. Auch sie haben ihre Wirkungen und ihr Echo.

Angelastet wird auch, dass der Clip ausschneidet, dass sich Baerbock sich über die sozialen Konsequenzen der Sanktionen bewusst ist und sich darum kümmere, dass sie "mit sozialen Maßnahmen" helfen werde. Dieser Teil der Rede der Außenministerin wird allerdings erst in einem zweiten Teil des Clips wiedergegeben.

Peter Ptassek twitterte eine Reaktion des Auswärtigen Amts. Auch er zeiht prorussische Accounts der Desinformation. Mit einem deutschsprachigen Tweet als Referenz, der dem oben genannten ähnelt.

Der Klassiker: Sinnenstellend zusammengeschnittenes Video, geboostert von prorussischen Accounts und schon ist das Cyber-Instant-Gericht fertig, Desinformation von der Stange. Ob wir uns so billig spalten lassen? Glaube ich nicht.

Peter Ptassek

Ist die Aussage von Baerbock zu ihren Wählern nur eine unglückliche Formulierung, die im Hintergrund Champagnerkorken im russischen Propagandaministerium hören lässt?