Bandenkrieg in Dijon: Alter Senf in der "neuen Normalität"
Es geht um Drogenreviere, Selbstjustiz und tribalen Kämpferstolz. Politisch sucht die Rechte Geländegewinne bei der Diskussion über die Polizeigewalt
In Dijon gab es die letzten Tage Bilder wie aus einem Bürgerkriegsland. Tschetschenen, zusammengerufen aus ganz Frankreich, manche sollen sich sogar aus Deutschland in Bewegung gesetzt haben, trafen sich dort in bedeutender Menge, am Sonntag waren es angeblich über 200 "with violent intent" - um eine Rechnung zu begleichen. Mehrere Nächte hintereinander versetzten sie ein Viertel in den Ausnahmezustand. Spezialkräfte der Polizei wurden eingesetzt. Mittlerweile soll die Kontrolle wiederhergestellt sein. Am Dienstag, so Le Monde, waren die Spannungen noch spürbar.
Jetzt tobt der politischen Streit über den Kontrollverlust, er führt die Diskussion über die Polizeigewalt weiter - wie es aussieht, nicht gerade zum Nachteil von Marine Le Pen, die sich gegen die Kritik der Polizei gestellt hatte und darin eine Schwächung der Ordnungskräfte ausgemacht hatte, um sich selbst als deren Verteidigerin zu profilieren. Sie begab sich nach Dijon und machte Wahlkampf - in Frankreich steht die zweite Runde der Kommunalwahlen an, die politisch einen Barometereffekt haben. In den Medien ist schon immer öfter von den nächsten Präsidentschaftswahlen die Rede. So schaltete sich auch Präsident Macron ein, seine Regierung übte sich ebenfalls darin, Entschlossenheit zu zeigen und harte Ansagen zu machen.
Möglichst viel Menschen für die Straße zu mobilisieren, war schon in der Zeit vor der Corona-Epidemie wichtiger geworden, in der jungen "neuen Normalität" hat das Präsenzzeigen auf den Straßen noch deutlich an Gewicht zugelegt, wie anderseits die Regierungspolitik Lücken und Fehler zeigt, die sie eingestehen muss. Jedenfalls ziehen Straßenaktionen momentan besondere Medienaufmerksamkeit auf sich, nicht nur der traditionellen Medien, sondern auch und ausführlich in den sozialen Netzwerken. Ähnlich wie in den echten Kriegen etwa in Syrien oder Libyen posten die Lager ihre Sicht der Dinge ungefiltert und das hat seine Effekte, die noch nicht wirklich absehbar sind.
Die zentralen Fragen, um dies es bei dem Schauauftritt der tschetschenischen Kolonnen in Dijon geht, lauten: Wie viel Kontrolle hat der Staat, wie viel kann er haben, wie viel soll er haben, wo schaut er zu sehr weg? Oder wie es neben der extremeren, auch die bürgerliche Rechte zuspitzt: Ist er zu lax?
Tote gab es keine in den gewalttätigen Nächten, die am Wochenende begannen und bis Anfang der Woche andauerten, aber Schwerverletzte, zum Beispiel bei einem Unfall, bei dem ein Raser verunglückte, der auf eine Menschenmenge zugeschossen kam; zig Autos wurden in Brand gesetzt, es gab Zerstörungen, Prügeleien und martialische Auftritte wie aus einem Gang-Film. Demgegenüber die vergleichsweise glimpfliche Bilanz: Die SZ zählt 6 Verletzte bei den Kämpfen. Das Ganze fand in einem Viertel von Dijon statt, das häufig als Problemviertel geschildert wird: "le quartier des Grésilles".
Um die eigenartige Atmosphäre widerzuspiegeln, ein Absatz aus dem ausführlichen Bericht des öffentlich-rechtlichen Lokalsenders France 3 zu den Vorgängen - dort stellt man fest, dass unter den häufig mit Eisenstangen bewaffneten, vorwiegend jungen Männern, die sich als Tschetschenen bezeichneten, bemerkenswerte Höflichkeit gegenüber den Journalisten vorherrschte:
Ihr einziges Ziel, so bekräftigten sie, sind die Dealer. "Sie haben uns beleidigt, sie haben einen von uns verprügelt, jetzt sind wir da, um sie zu verdreschen, sagt einer von ihnen. Ihre Aussagen machen keine Umwege. Derselbe Mann sagt: "Das Gesetz in Frankreich erlaubt uns nicht, auf Leute (sic) zu zielen, wir sind nicht hier, um Leute zu töten." Einer seiner Begleiter fügt in dieser befremdlichen Atmosphäre hinzu: "Wir wollen den Leuten in Dijon keine Scherereien machen, das tut uns leid, wir haben ihnen Angst gemacht, aber besser ist es, wenn sie Angst haben, als dass es einen Toten gibt, der am nächsten Tag im Erdgeschoss ihres Wohnhauses liegt."
France 3
Man werde so lange wiederkommen, wie es nötig sei, heißt die Parole. "Bis die Tschetschenen in Dijon in Sicherheit leben."
"Kämpferstolz"
Das sind Aussagen wie aus einem Skript für einen Film über Selbstjustiz. Es geht um Ehre und eine Art tribalistischer Solidarität - und um Drogenhandel. Anlass für die Wagenkolonne in Dijon, aus denen Männer mit Eisenstangen und anderem Schlagwerk stiegen, war ein Vorfall vergangener Woche, bei dem ein junger Tschetschene von Drogendealern schwer verprügelt wurde, so dass er ins Krankenhaus musste. Mobilisiert wurde viel über WhatsApp und Twitter.
Da gibt es zum Beispiel den Account al chechnya, wo erklärt wird, dass alle Medien zum Kotzen falsch berichten und die Faust zum Spaß auch Richtung Kameramann stößt. Auf der Twitter-Seite finden sich eine ganze Reihe Clips, die vorführen, wie gut sich Tschetschenen in Straßenkämpfen schlagen. Erklärt wird auch, dass es nicht gegen die "Araber" gehe, weil man doch traditionell brüderlich gut befreundet sei wie auch mit Nordafrikanern, nein, es gehe, um ganz konkrete einzelne Typen.
Aber dafür wurde ein ganzes Viertel terrorisiert. Die Bewohner seien traumatisiert, hieß es in mehreren Berichten.
(Ergänzung: Nach internen Polizeiberichten, über die Le Figaro und Le Parisien berichten, haben sich schon seit längerem Auseinandersetzungen zwischen "Tschetschenen und anderen Gemeinschaften, vorwiegend aus Nordafrika" entwickelt. Als Gründe werden Kämpfe um die Ehre, die im Fall Dijon laut zitierten Polizeiaussagen im Vordergrund stehen sollen, und Schwarzmärkte genannt, als Stichwort fällt auch organisierte Kriminalität).
Bei RT France liest man von einem "tschetschenisch-algerischen Krieg", der, so der Kommentar, anraten lasse, weniger behutsam mit dem Thema "ethnische Gangs" umzugehen. Berichtet wird bei RT von chaotischen Szenen, die an eine Kriegszone erinnern. Die Frage sei, ob es um einen Kampf um die Herrschaft über ein Territorium gehe, zumal Drogenhandel im Spiel ist.
Nun waren Auseinandersetzungen über Reviere, wie sie etwa in Marseille immer wieder aufflammen und meist mit Toten, den Medien zwar immer schon Nachrichten und Hintergrundberichte wert, aber wie sehr die Vorfälle in Dijon (und es gab auch welche in Nizza) nun die politischen Spitzenvertreter erfasst hat, ist ein neues Phänomen.
Dabei spielen sicher die Bilder eine Rolle, die vermummte Gestalten an einer Haltestelle zeigen, die mit Sturmgewehren hantieren und in die Luft schießen. Ähnliches kennt man aus anderen Ländern, eben den Kriegszonen.
Heiße Luft?
Bezeichnend für die Lage und deren Einschätzung ist der Kommentar von Wassim Nasr, der als Experte für Dschihadisten und Milizen im Nahen Osten und Afrika viele Clips und Bilder aus den dortigen Kriegszonen postet. Der Spezialist lässt wissen, dass es sich bei den Kalaschnikow-ähnlichen Sturmgewehren um Airsoft-Waffen handelt, keineswegs um "schwere Bewaffnung" - wobei er einräumt, dass die Handfeuerwaffen, die hier und da auf Bildern zu sehen waren, sehr wahrscheinlich schon echt sind.
In dem Kommentar wird die Ambivalenz sehr anschaulich sichtbar: Wie viel heiße Luft steckt in dem Geschehen, was ist ernstzunehmen, was wird hochgespielt, nicht nur von den Medien, sondern auch von den "stolzen, ehrbewussten Kämpfern", die im Mercedes vorfahren und als einschüchternde Schläger aussteigen und sich dabei allzu gerne filmen lassen?
Unübersehbar ist auch, wie sehr die Ereignisse in Dijon - und zum Teil auch in Nizza - die Politik in Zugzwang gebracht hat. Würde man die vielzitierte Frage stellen, wem das abgesehen von den Angebern auf Twitter politisch nützt - cui bono?-, so kommt man schnell auf Marine Le Pen. Sie hatte sich in der Diskussion über neue Richtlinien der Vorgehensweise der Polizei und den Vorwurf der Polizeigewalt und des Rassismus deutlich auf die Seite der Polizeivertreter und Polizisten gestellt, die sich ungerecht behandelt fühlen. Immerhin geht es um eine traditionelle Wählerschaft ihrer Partei.
Marine Le Pen fuhr an den Ort des Geschehens und deutete in Dijon auf die Gefahr hin, die entstehe, wenn man die Polizei entschärft und an ihren Ruf demontiert. Sie argumentierte mit dem im rechten Milieu beliebten Topos des drohenden Bürgerkriegs. Doch auch der Staatssekretär im Innenministerium, Nunez, bekannt für seine für Law and Order-Linie, sprach von extremer Entschlossenheit, mit der man weiter vorgehen würde.
Und schließlich äußerte sich auch Macron im Konzert der entrüsteten und schockierten Politiker-Stimmen: Die für die Gewalt Verantwortlichen müssten das Land verlassen, wenn sie keine französische Staatsangehörigkeit haben. Problematisch ist, dass unter den Tschetschenen nicht wenige sind, denen Frankreich nach dem Tschetschenenkrieg Asyl gewährte, auch aus politischen Prestigegründen, und dies offenbar nicht so leicht zu widerrufen ist.
Zumal es, wie erwähnt, zwar zu Sachschäden kam, aber die Verletzten, abgesehen vielleicht von dem Mann, der sich bei einem selbstverschuldeten Unfall schwer verletzte, nicht wirklich eine Kriegsbilanz hergeben. Tatsächlich verhinderte die Polizei schwere Ausschreitungen.
Als Lösungsmöglichkeit schlägt eine französische Publikation, die auf Raymond Aaron zurückgeht und politisch zwischen liberal und libertär angesiedelt ist, vor, den Drogenhandel zu entkriminalisieren, um der Schattenwirtschaft, die mit brutalen Mitteln arbeitet, den Geschäftsboden zu entziehen. Ob das so funktioniert, ist eine weitere Diskussion. Im "Zweikampf" zwischen dem Lager von Macron und Le Pen kommt das Thema nicht vor.
Kipplage und Krise
Was anhand der Ereignisse und vor allem ihrer medialen Aufbereitung erneut spürbar wird, ist eine eigenartige Kipplage. Macron ist in der Krise, das Land bewegt sich auf eine schwere Rezession zu. Dass sich gerade neue Öffentlichkeiten bilden mit Themen, die nicht zu seinem Repertoire passen, macht die Situation noch schwieriger.
Hatte er zuvor die Geringverdiener, die aufs Auto angewiesen sind, ignoriert, bis ihn die Gelbwesten deutlich auf ihre Existenz aufmerksam machten, so blendete er ganz ähnlich die Angestellten im Pflegebereich aus seiner Agenda aus, bis ihn die Corona-Pandemie, die in Frankreich vergleichsweise schwer zuschlug, darüber belehrte, wie systemrelevant diese "Schattenexistenzen" sind.
Nun zeigt sich die nächste, ganz andere "Schattenwelt". Sie wurde bislang weitgehend nur in den sozialen Netzwerken beachtet, in den Kommentaren unter Artikeln, in den Programmen der Rechten - und auf der Straße und in den Wohnvierteln, die im Kanon der Zeitungen, die in Frankreich überwiegend von Milliardären verlegt oder finanziert werden, nur hier und da Aufmerksamkeit bekommen.
Hält man sich vor Augen, dass Jugendliche tendenziell immer mehr Informationen aus den sozialen Netzwerken beziehen, liegt da ein große Aufgabe vor den traditionellen Medien. Mit bequemen, nicht selten realitätsfernen Großwertekategorien ist da nicht viel zu gewinnen.