Beinaheunfall in Norwegen
Die Ursache einer im Januar bekannt gewordenen radioaktiven Wolke über Europa scheint auf kein Interesse zu stoßen
Ende Januar wurde die Öffentlichkeit mit spärlichen Meldungen über eine radioaktive Wolke informiert. Sie enthalte Jod 131 in geringer Konzentration und verteile sich über ganz Europa, wie Strahlenmessungen in Finnland, dann in Frankreich, Spanien und schließlich auch in Deutschland gezeigt hätten.
Anmerkung Nr. 1: In Deutschland zuletzt.
Die Wolke sei ungefährlich, hieß es, und "mysteriös", weil ihre Ursache unbekannt blieb. Immerhin schickte das US-Militär ein mit Messinstrumenten ausgestattetes Spezialflugzeug, um der Sache auf den Grund zu gehen. Verrieten die J131-Spuren vielleicht ein nukleares Experiment der Russen, möglicherweise sogar einen Atomtest?
Anmerkung Nr. 2: Die EU-Staaten unternahmen keine erkennbaren eigenen Anstrengungen, um die Ursache des Phänomens zu erkunden.
Am 3. März veröffentlichte die norwegische NGO Bellona einen Bericht über einen Störfall im Forschungsreaktor Halden nahe der Grenze zu Schweden. Er ereignete sich bereits am 24. Oktober 2016, wurde von einer Handvoll englischsprachiger Medien gemeldet und alsbald wieder vergessen.
Anmerkung Nr. 3: Keine Erwähnung in den deutschen Medien.
Bellona klärt nun darüber auf, dass dieser Störfall ziemlich bedenklich gewesen sei. Er habe sich beim Hantieren des Personals mit beschädigten Brennelementen ereignet. Über das Belüftungssystem dieses in einer Bergkammer errichteten, unterirdischen Forschungsreaktors sei Radioaktivität freigesetzt worden. Am nächsten Tag habe die norwegische Atomaufsicht verfügt, die Abgabe in die Außenluft zu sperren. Dadurch hätten sich weitere ernsthafte Probleme an dem Reaktor ergeben, nämlich eine Unterbrechung der Kühlwasser-Zirkulation, Temperaturfluktuationen und ein Ansteigen des Neutronenflusses im Core mit der Gefahr einer Bildung von Wasserstoffblasen.
Anmerkung Nr. 4: Fluktuation ist ein euphemistischer Begriff für Temperaturanstiege; erhöhter Neutronenfluss weist auf gestiegene Reaktivität hin.
Angesichts dieser "sehr speziellen Situation" habe die Atomaufsicht dann doch eingewilligt, das Belüftungssystem wieder einzuschalten, auch wenn dadurch weiter Radioaktivität in die Umwelt geblasen wurde. Damit dürfte auch das Geheimnis der Strahlenwolke gelüftet und ihre Herkunft gefunden worden sein.
Anmerkung Nr. 5: Keine öffentliche Resonanz für den Bellona-Bericht (allein die Webseite Energy News sorgte für seine Verbreitung). Angeblich ist ja auch alles innerhalb der Limits geblieben.
Mangelnde Sicherheitskultur
Bellona kritisiert, der Vorfall weise auf eine ärmliche Sicherheitskultur hin. Das Institut für Energietechnik habe als Betreiber von Halden die norwegische Atomaufsicht zu spät und unzureichend informiert und erst eine Woche später den Ernst der Lage eingestanden - das Standardverfahren der Nuklearindustrie.
Die mangelnde Sicherheitskultur zeigt sich freilich auch am Desinteresse der großen Medien, an ihrer Unfähigkeit, die Relevanz einer scheinbar alltäglichen Störung im Nuklearbetrieb zu erkennen sowie an der Untätigkeit der Umweltbehörden. Das Berliner Umweltministerium, das sich gern an grenznahen Atomkraftwerken abarbeitet, hat die Strahlenwolke nicht zu seinem Thema erkoren. Dabei war Frau Hendricks doch schon groß, als Tschernobyl passierte. Anmerkung Nr. 6: Auch im geografisch näher gelegenen Kiel konnte Herr Habeck offenbar keinen Handlungsbedarf erkennen.
Die Einschätzung eines Beinahe-Unfalls begründet der Bellona-Report mit der Gefahr der Wasserstoff-Bildung und einer anschließenden Explosion wie in Fukushima. Aber was konnte zu jener in der Tat sehr speziellen Situation führen?
Unter einem Brennstoff-Schaden, wie es der Betreiber nennt, stellt man sich vor, dass beispielsweise ein Brennstab an einer Stelle aufplatzt und einige Uran-Pellets verliert. Das sollte kein großes Problem sein und wird häufig erst beim Brennelemente-Wechsel während der nächsten Wartung bemerkt. Der hier vorliegende Schaden muss ein ganz anderes Ausmaß gehabt haben. Die im weiteren geschilderten Begleitumstände, insbesondere das Venting (Druckentlastung) durch die Operateure, deuten auf eine beginnende Kernschmelze hin. Das ist freilich das Wort, welches in den Mitteilungen der Reaktorbetreiber unter keinen Umständen enthalten sein darf.
In Halden werden Experimente zur Verwendung von Thorium als Spaltstoff in Reaktoren durchgeführt. Thorium kommt beim Hochtemperaturreaktor ebenso zum Einsatz wie bei futuristischen Konzepten eines Flüssigsalzreaktors. Auch der Europäische Druckwasserreaktor (EPR) soll später einmal mit Thorium-Anteilen betrieben werden können. Von Nuklearpopulisten werden diese Entwürfe gern als völlig unbedenklich bezeichnet. Ob das Thoriumprojekt von Halden eine Rolle bei dem Unfallhergang gespielt hat, erfahren wir jedoch nicht. Darauf hat die Öffentlichkeit wohl kein Recht.