Bidens Kehrwende: Rückkehr des "ideellen Gesamtkapitalisten"?
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Der Covid-Katastrophe in der Peripherie des Weltsystems scheint Washington mit einer stärkeren Rolle des Staates begegnen zu wollen
Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.
Friedrich Engels, MEW 19, S.222, 1880
Indien stellt derzeit - neben Brasilien und Nepal - eins der von der Pandemie besonders hart betroffenen Länder dar, deren Leiden Deutschlands rechtsoffene Querdenker, Verschwörungsideologen und "Pandemieskeptiker" tunlichst ignorieren müssen, um ihre Wahngebilde noch aufrechterhalten zu können.
Das indische Gesundheitsministerium meldete kürzlich mehr als 412.000 Neuinfektionen pro Tag - bei 3.980 Todesfällen. Die Dunkelziffer in dem durch bitterste Armut geprägten Land dürfte besonders hoch sein, da eine medizinische Versorgung vor allem in ländlichen Regionen Indiens nur rudimentär gegeben ist. Viele Menschen erkranken und sterben an dem Virus, ohne dass sie von der Statistik erfasst werden.
Inzwischen treten in den "Hotspots" Indiens aufgrund der zunehmender Verbrennungen von Toten Engpässe bei Feuerholz auf. Da die Krematorien Indiens längst am Limit sind, werden die Pandemieopfer mitunter auf freien Flächen wie etwa Parkplätzen verbrannt.
Wettlauf gegen die Zeit
Mit der explosiven Ausbreitung der Pandemie in Indien treten - ähnlich der Situation in Brasilien - vermehrt Covid-Mutanten auf, wodurch die Gefahr einer höheren Ansteckungsrate und Sterblichkeit zunimmt. Vor allem könnten vermehrte Mutationen des Virus dazu führen, dass die bisherigen Impfstoffe ihre Wirksamkeit bei neuen Varianten verlieren.
Die in Indien entstandene Covid-Mutante B.1.617 wurde bereits von der britischen Regierung als "besorgniserregend" eingestuft, da sie im Verdacht steht, ansteckender zu sein und auch Geimpfte wie Genesene erneut zu infizieren.
Zeit ist bei der globalen Impfkampagne ein entscheidender Faktor, da derzeit nur rund 8 Prozent der Weltbevölkerung geimpft sind und des Virus folglich aufgrund des Selektionsdrucks weiter mutieren kann. Es handelt sich faktisch um einen Wettlauf gegen die Ausbildung neuer Virus-Mutanten, deren etwaige Resistenzen die milliardenschweren Investitionen von Streugeldern in die Impfstoffentwicklung entwerten würden.
Die kapitalistischen "Märkte" samt der Pharmabranche versagten bekanntlich jahrelang bei der Erforschung und Herstellung von Impfstoffen, da dies nicht profitabel genug war. Die Staaten mussten folglich nach Pandemieausbruch mit vielen Milliarden in die Breche springen, die in Gestalt von Forschungsaufwendungen, Subventionen und exklusiven, geheimen Lieferverträgen der Pharmabranche in den Rachen geworfen worden sind.
Patentpoker
Dabei wirken die besonders stark betroffenen Länder und Regionen in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems als Brutstätten neuer Covid-Mutanten - dies gerade aufgrund der bisherigen Pandemiepolitik der Zentren. Das langsame globale Impftempo ist wesentlich auf die bisherige Weigerung der Länder des Zentrums zurückzuführen, einer Aufhebung des Patentschutzes "ihrer" Pharmakonzerne zuzustimmen.
Die Pharmabranche wurde nach Pandemieausbruch nicht nur mit Milliarden überschüttet, um die jahrelange Vernachlässigung der Impfstoffforschung auszugleichen, sie sollte auch Extraprofite durch Patentschutz für die weitgehend mit Steuergeldern erforschten Impfstoffe generieren.
Hierdurch - da die globalen Kapazitäten zur Impfstoffherstellung nicht voll genutzt und die Forschungsergebnisse nicht offengelegt werden - verzögert sich die weltweite Impfkampagne, so dass in vielen Ländern des globalen Südens die Massenimpfung nicht vor 2022 oder 2023 umgesetzt werden kann. Viel Zeit für das Virus, um weitere, eventuell resistente Mutanten auszubilden. Die Profite der Pharmabranche waren der politischen Klasse in den Zentren des Weltsystems offensichtlich wichtiger als Menschenleben in der Peripherie und eine effiziente, globale Bekämpfung der Pandemie.
Die globalen Auseinandersetzungen um die Freigabe der Impfstoff-Patente traten ab Oktober 2020 in die heiße Phase, als Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation (WTO) einen Antrag eingebracht haben, der die Aussetzung der Patentrechte durch Staaten im Rahmen der Covid-19-Pandemie forderte.
Konkret geht es um die Modifizierung entsprechender Bestimmungen des in der Hochzeit des Neoliberalismus zwischen 1986 und 1994 ausgehandelten TRIPS-Vertragswerks (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) der WTO, das Maßnahmen zum Schutz "geistigen Eigentums" mit den Erfordernissen eines möglichst ungehinderten Welthandels in Übereinstimmung zu bringen versucht.
Die Kehrtwende Bidens
Bislang weigerten sich alle Industriestaaten, die über eine starke Pharmalobby verfügen, den Forderungen nach einer Aussetzung des Patentregelungen nachzukommen, während mehr als hundert Entwicklungs- und Schwellenländer sich der Initiative Indiens und Südafrikas angeschlossen haben - bislang. Die jüngst vollzogene, spektakuläre Kehrtwende der US-Regierung unter Joe Biden scheint indes die Frontverläufe bei diesen Auseinandersetzungen grundlegend zu verschieben.
Die Entscheidung der Biden-Regierung, der Aufhebung des Patentschutzes für Impfstoffe im Rahmen der Pandemiebekämpfung zuzustimmen, sei aufgrund entsprechender Forderungen von mehr als 100 Entwicklungs- und Schwellenländern, wie des zunehmenden Drucks aus der Demokratischen Partei erfolgt, erklärte die Nachrichtenagentur Reuters. Doch zugleich habe diese Weichenstellung die "Pharmaunternehmen verärgert".
Tatsächlich gingen die Aktien vieler Pharmakonzerne nach Bekanntgabe der Kehrtwende Washingtons auf Tauchfahrt, während Lobbyverbände von einer fehlgeleiteten Politik des US-Präsidenten warnten. Der sozialistische US-Senator Bernie Sanders, während des Vorwahlkampfes der schärfste linke Konkurrent Bidens, begrüßte die Entscheidung hingegen, indem er sie als eine Frage "der Vernunft und der Moral" bezeichnete.