"Die Corona-Proteste sind eine rechtsradikale Sammlungsbewegung"
Gespräch mit dem Gewerkschaftler und dju-Landesgeschäftsführer Jörg Reichel über die zunehmende Militanz der Querdenker und die Passivität der Polizei
Jörg Reichel ist ver.di Gewerkschaftler und Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in Berlin-Brandenburg. Er hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit den Corona-Demos befassen müssen. Telepolis sprach mit Reichel über die Erfahrungen von Journalisten bei der Berichterstattung über die Aufmärsche der sogenannten "Querdenker", die Haltung der Polizei sowie den demokratischen Zustand der Bundesrepublik.
Sie haben als Gewerkschaftler und Geschäftsführer der dju Berlin-Brandenburg die Pandemieproteste beobachtet, zu denen derzeit allwöchentlich sogenannte "Querdenker" mobilisieren? Wie gestaltet sich die Arbeit von Journalisten bei diesen Protesten?
Jörg Reichel: Die Berichterstattung und Recherche vor Ort ist schwierig, bis unmöglich, insbesondere dann, wenn man als Journalist:in oder TV Team an dem Equipment deutlich erkennbar ist. Wir haben 2020 in einem direkten Zusammenhang mit den Corona-Protesten bundesweit 281 Behinderungen in der Pressearbeit festgestellt, davon 56 tätliche Angriffe auf Journalist:innen. Das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) hat für 2020 konkret 69 tätliche Übergriffe bundesweit festgestellt, 71 Prozente der Angriffe fanden bei pandemiebezogenen Demonstrationen statt.
In der Regel arbeiten die Journalist:innen vor Ort bei Versammlungen in Gruppen und versuchen sich vor Übergriffen zu schützen. Die wenigsten Journalist:innen bekommen Sicherheitspersonal an die Seite gestellt, das sind vielleicht nicht mehr als 5 Prozent. Freelancer und TV-Produktionsfirmen müssen ohne Schutz arbeiten. Leider setzt sich die negative Entwicklung von 2020 fort, in dem 1.Quartal 2021 wurden bei Corona-Protesten schon 197 Journalist:innen in der Pressearbeit behindert, inkl. 62 tätliche Angriffe.
Beteiligen sich Rechtsextremisten an den Protesten? Generell gesprochen, wie ist der Einfluss der Neuen Rechten bei dieser Bewegung einzuschätzen?
Jörg Reichel: Die Corona-Proteste sind eine rechtsradikale Sammlungsbewegung mit unterschiedlichen Akteur:innen der Neuen Rechten. Die Proteste haben sich in den letzten 12 Monaten von Berlin über Baden-Württemberg in vier Phasen zu einem bundesweiten Protest entwickelt. Seit dem Beginn der Versammlungen in Berlin am 28.3.2020 haben zentrale Akteur:innen des Rechtsradikalismus, Reichsbürger:innen, Shoa-Leugner:innen und rechtsoffene bis rechtsradikale Influencer:innen die Versammlungen in ihrer Außenwirkung und politischen Botschaft geprägt.
Faktisch wird seit 12 Monaten bundesweit auf fast jeder Versammlung der Corona-Proteste die Shoa relativiert oder instrumentalisiert, um sich selbst zum Opfer zu erklären. Massive Verbreitung finden auch Verschwörungsmythen, die auf antisemitische Weltbilder aufbauen und Feindbilder markieren.
Viele "Querdenker" bestreiten den Vorwurf des Rechtsextremismus. Es heißt dann immer, es seien "normale" Leute, aber auch Linke an den Aufmärschen beteiligt.
Jörg Reichel: Es gibt die Auffassung, dass die Corona-Proteste auch eine linke Protestbewegung sind, weil auf den Versammlungen "Hippies" herumlaufen, sowie Theatermacher und Kapitalismuskritiker die ersten Demos organisiert haben. Bei einer nicht repräsentativen Befragung in Konstanz im Oktober und November 2020 gaben die Versammlungsteilnehmer:innen an, bei der Bundestagswahl 2017 die Grünen (23 Prozent) bzw. die Linke (18 Prozent) gewählt zu haben.
Dies ist nach unserer Auffassung eine Fehleinschätzung. Es gab und gibt bis heute bundesweit keine relevante aktive linke Gruppierung, die an diesen rechten Protesten in den vergangenen Monaten mitwirkte und heute mitwirkt - vereinzelte Protagonist:innen ja, aber keine Gruppe oder eine maßgebliche linke publizistische Stimme.
Die sogenannte "Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand" (KDW), die in diesem Zusammenhang oft genannt wurde, ist keine linke Gruppierung. Die KDW vertritt in Theorie und Praxis antidemokratische und antisemitische Positionen und arbeitet damit der extremen Rechten zu.
"Polizei verhält sich passiv bis wegschauend"
Wie ist das Verhalten der Polizei einzuschätzen? Greifen Polizeikräfte ein bei Übergriffen auf Journalisten oder bei Verstößen gegen Demo-Auflagen?
Jörg Reichel: Bundesweit verhält sich die Polizei passiv bis wegschauend bei Übergriffen auf Journalist:innen. Das Bedrängen von Journalst:innen ist nach Auffassung der Polizei keine Straftat. Die Eingriffsschwelle der Polizei, sich schützend vor eine Journalistin oder einen Journalisten zu stellen, ist hoch. In Berlin mussten wir in den vergangenen Monaten immer wieder laut die Polizei vor Ort auffordern, die Journalist:innen zu schützen. Zuletzt haben am 28.3.2021 auf dem Rosa Luxemburg Platz ca. 40 Polizist:innen passiv zugeschaut, wie es innerhalb von 15 Minuten zu 11 Übergriffen kam, inkl. Bedrängungen und zwei körperlichen Angriffen und Griffen an den Kopf von Journalist:innen.
Seit Monaten befinden sich einzelne Journalist:innen und Gewerkschaften mit den Polizeien der Länder im Gespräch über die Gewalt gegen Journalist:innen. Als Folge dieser Gespräche wurde beispielsweise in Sachsen ein Schutzkonzept entwickelt, bei dem Beamte des Kommunikationsteams der Polizei Journalist:innen bei Versammlungen "zur Verfügung" stehen.
In Berlin wurden auf unsere Anregung als dju Medienschutzbereiche für Journalist:innen eingerichtet, ein runder Tisch, Schulungen und die Anwendung des Bundeseinheitlichen Presseausweises mit der Polizei vereinbart. Das Modell der Kommunikationsbeamt:innen wurde jetzt auch in Wien von der Polizei übernommen. Seit einigen Wochen wird zudem in Berlin faktisch den Journalist:innen bei einer stationären Kundgebung ein Polizeitrupp "zur Seite gestellt".
Gibt es Anzeichen einer breiten Sympathie seitens der Polizei für diese Corona-Demos und das Milieu, das sich dort versammelt?
Jörg Reichel: Die Corona-Proteste versuchen seit Beginn, die Polizist:innen zu Ihren Verbündeten zu erklären - mit mäßigem Erfolg. Bisher sind nach unserer Wahrnehmung nur wenige Polizist:innen in der Bewegung aktiv, die aber alle vom Dienst befreit wurden oder sich im Ruhestand befinden.
In den vergangenen 12 Monaten hat die Polizei bundesweit i.d.R. Ordnungswidrigkeiten, Shoa-Relativerung und offenen Antisemitismus auf den Corona-Protesten hingenommen und nur in Einzelfällen strafrechtlich verfolgt. Die Polizei verhielt sich bei zentralen bundesweiten Versammlungen in den letzten Monaten defensiv, sie war auch mit viel zu wenigen Polizist:innen vor Ort aufgestellt.
Monatelang war die zuständige Staatsanwaltschaft nicht in der Lage, einen der zentralen Akteure aus Berlin wegen Volksverhetzung anzuklagen, bis er vor wenigen Wochen in die Türkei vor der Verhaftung flüchtete. Ein Offenbarungseid für den Rechtsstaat.
Wieso wird bei dieser rechten Bewegung so eine defensive Linie verfolgt? Bei linken Demos oder Protesten eskaliert die Polizei in der Regel sehr schnell.
Jörg Reichel: Die defensive Einsatztaktik der Polizei bewerten wir als ein Zugeständnis der verantwortlichen Innenminister*innen an die sich von Monat zu Monat weiter radikalisierende, rechte Querdenker-Bewegung. Übergriffe, Angriffe auf Polizist:innen, Holocaust-Leugnung und offener Antisemitismus werden politisch in Kauf genommen, um einer offenen Auseinandersetzung auf der Straße mit dem sich oberflächlich bürgerlich gerierenden Protest aus dem Weg zu gehen. Dies steht tatsächlich im Gegensatz zu dem Vorgehen der Polizei bei den G20-Protesten in Hamburg.
Die Beobachtung der Corona-Proteste durch den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Berlin kommt viele Monate zu spät, insbesondere da die Corona-Proteste sich bundesweit verstetigt haben und die Programmatik und Akteur:innen seit Monaten bekannt sind.
Hier etablieren sich neue Netzwerke und Influencer:innen des Rechtsradikalismus. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz mündet aber nicht in Strafverfolgung und etwaige Anklagen, sondern zunächst zum Aufbau von V-Leuten und dem Zufluss "staatlichen Geldes" in die rechten Strukturen, wie der NSU-Komplex gezeigt hat.
Polizei und Journalisten: Bedrohung für die Pressefreiheit
Generell, auch außerhalb der aktuellen Protestwelle betrachtet: Wie verhält sich Polizei gegenüber Journalisten, gibt es zunehmende Spannungen oder sind Übergriffe eher als Einzelfälle einzuordnen?
Jörg Reichel: Polizeigewalt gegen Journalist:innen ist kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem. Die aktuellen Zahlen sind alarmierend. Im Jahr 2020 haben wir bundesweit 91 Behinderungen in der Pressearbeit durch die Polizei, inkl. 30 tätlicher Angriffe auf Journalist:innen festgestellt. Im 1.Quartal 2021 gab es bundesweit 33 tätliche Angriffe der Polizei auf Journalist:innen.
Unabhängige Journalist:innen, die über Rechtsradikalismus berichten, sind von zwei Seiten gefährdet. Zum einen werden sie offen von Rechtsradikalen mit dem Tode bedroht und sie finden sich auf Todeslisten, wie z.B. bei einem Rechtsradikalen aus Berlin/Neukölln wieder. Zum anderen sind sie unter der permanenten Beobachtung und dem Druck der Polizei. Der polizeiliche Staatsschutz versucht regelmäßig, Journalist:innen anzuwerben und Einblick in die journalistischen Erkenntnisse zu gewinnen.
Die journalistische Tätigkeit auf Versammlungen wird in Einzelfällen polizeilich "wahrgenommen". Wir haben den Eindruck, dass die Polizei z.T. eine sehr vertiefte Kenntnis von journalistischen Netzwerken hat - und insbesondere wer sich für welche Themen interessiert. Einige Journalist:innen rechnen damit, eine Hausdurchsuchung vom Staatsschutz zu erhalten, i.d.R. unter dem Vorwand der Beschlagnahme von Beweismitteln.
Die Corona-Proteste können nur gesellschaftlich mit antifaschistischem überparteiIichen Protest beantwortet werden. Die Polizei als Institution ist bis heute ein Teil des Problems, wenn es um die gesellschaftliche Bekämpfung des Rechtsradikalismus geht.
Wenn wir schon einen Blick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung wagen wollen, die solche Zustände hervorbringt - wo Rechtsextreme von der Polizei unbehelligt regelrechte Superspreader-Events abhalten und Journalisten angreifen können: Wie gefährlich ist Ihrer Meinung nach die politische Lage in der Bundesrepublik? Sehen wir uns in der gegenwärtigen Krisenphase einer präfaschistischen Dynamik ausgesetzt oder ist das Alarmismus, ist diese Einschätzung übertrieben, da die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik stärker sind, als es den Anschein hat?
Jörg Reichel: Die Corona-Proteste sind in keiner Weise eine Bedrohung für das politische System der BRD mit Parlamentarismus, Gewaltenteilung und Parteiensystem. Die Gefahren, die in den Corona-Protesten liegen, sind die der weiteren Normalisierung von Antisemitismus, der Vernetzung von unterschiedlichen Akteur:innen des Rechtsradikalismus und der Radikalisierung des Protestes bis hin zu Anschlägen.
In Berlin kann man zurzeit konkret beobachten, wie Reichsbürger:innen, rechte Esoteriker:innen, Abgeordnete der AfD, verurteilte Rechtsterroristen, Aktivisten der Identitären Bewegung und rechte Medienaktivist:innen mit Zeitung, Zeitschrift, Telegram- und YouTube-Kanälen ein Netzwerk aufbauen, das nach Corona sicherlich weiter zusammenarbeiten wird.
Die bundesweite Passivität der Polizei bei Übergriffen auf Journalist:innen ist eine Bedrohung für die Pressefreiheit. Die Innenminister der Länder stehen in der Verantwortung, die Polizei so aufzustellen, dass Journalist:innen bei Corona-Protesten niedrigschwellig geschützt werden und eine freie Berichterstattung möglich ist, anstatt um ihr Leben zu bangen. Da schlagen wir Alarm!