Big-Brother-Preis in Deutschland
Payback, Senator Werthebach, Deutsche Bahn AG, GMX, Ausländerzentralregister, Stadwerke Bielefeld und Apache Konsortium wurden für Schwächung der Privatsphäre und der persönlichen Grundrechte "ausgezeichnet". Veranstalter: Preise sollen den Diskurs mit den Preisträgern anregen und Dinge in Bewegung bringen
Heute wurde in Bielefeld erstmals der deutsche "Big-Brother-Award" verliehen. Seit 1998 wird der Preis in Großbritannien, den USA und Kanada, seit 1999 auch in Österreich ausgelobt. Deutschland, Schweiz und Frankreich stießen in diesem Jahr in die Runde dazu.
Während sich bislang die Big-Brother-Preisverleihungen vor allem durch Humor auszeichneten, geht es bei der deutschen Preisverleihung recht ernst zu. Wie die Veranstalterin Rena Tangens in ihrer Eingangsrede betonte, will der Preis vor allem den Diskurs mit den Preisträgern anregen und Dinge in Bewegung bringen.
Die außerordentlich ästhetisch gestaltete Preisskulptur, die vom Bildhauer Peter Sommer entworfen wurde, lädt die Ausgezeichneten direkt dazu ein, sich den Preis persönlich abzuholen: Denn wer würde sich solche Kunst nicht gerne auf den Schreibtisch stellen? Tatsächlich fehlt der deutschen Preisverleihung das Spektakuläre. Das Echelon-System wurde beispielsweise nicht bedacht. Als Auswahlkriterium galt nämlich die Frage der Diskursfähigkeit, so der Bielefelder Veranstalter und Künstler padeluun gegenüber Telepolis. Die Preise gingen an...
...Payback
Den Preis in der Kategorie "Business und Finanzen" erhielt Payback. Rena Tangens begründete dies damit, "weil hier unter dem Deckmantel der Rabattmarke ein System geschaffen wurde, mit dem im großen Umfang für Marketing verwertbare Daten erhoben, gespeichert, ausgewertet und weitergegeben werden". Dies sei jedoch den meisten NutzerInnen völlig unklar.
"Besonders perfide" fand die Jury die unverlangte Zusendung von Payback-Karten beispielsweise an Kunden und Kundinnen von Stromerzeugern, die beim ersten Gebrauch aktiviert werden. Das heißt, die allgemeinen Geschäftsbedingungen werden implizit damit anerkannt. Ein Kunde, der nicht auf den Rabatt verzichten will, hat keine Möglichkeit die Erstellung eines Profils seiner Kaufgewohnheiten zu verhindern. Beim Payback-System sind zahlreiche Unternehmen beteiligt, unter anderem auch die Lufthansa.
...Herrn Senator Werthebach
In der Kategorie "Politik" wurde der Berliner Senator für Inneres, Eckardt Werthebach, ausgezeichnet. Er plante die Erweiterung und Erneuerung der Telefonüberwachungsanlage in der Bundeshauptstadt. "Damit soll in Berlin die Telekommunikation in zunehmendem Maße ohne jede Erfolgskontrolle abgehört werden", so Rechtsanwalt und Jurymitglied Rolf Gössner.
Anfang September hatte der Senator beim Berliner Abgeordnetenhaus die Beschaffung weiterer Gerätetechnik beantragt. Bereits bis zum letzten Jahr waren hierfür drei Millionen Markt investiert worden, und damit die Erweiterung auf 70 Aufzeichnungsgeräte und 55 Auswertungsgeräte erreicht. Bis 2003 sollen nach dem Willen von Werthebach weitere 4,7 Millionen Mark ausgegeben werden. Außerdem wurde die Genehmigung für die Mobilfunküberwachung mit Hilfe von Imsi-Catchern gefordert - zu einem Kostenpunkt von 500.000 Mark. Da mit Imsi-Catchern auch Bewegungsprofile erstellt werden können, sind diese bislang rechtlich äußerst umstritten.
Die Jury nahm vor allem an der undifferenzierten Forderung nach immer mehr Telefonüberwachung Anstoß. Eine von den Datenschutzbeauftragten seit Jahren geforderten Evaluierung der Effektivität wurde bis heute weder in Berlin noch in anderen Ländern vorgenommen. Auch fehlt jede richterliche Kontrolle.
...Bahnchef Mehddorn
In der Kategorie "Behörden und Verwaltung" wurde die Deutsche Bahn AG ausgezeichnet. Wie Jury-Mitglied padeluun ausführte, erhält Bahnchef Hartmut Mehdorn den Preis, da die Videoüberwachung durch die Deutsche Bahn AG mittlerweile "undurchschaubar" geworden sei. So sei unklar, wer jeweils für die Überwachung zuständig ist: Die Bahn AG, der Bundesgrenzschutz oder der Sicherheitsdienst der Deutschen Bahn AG. Dabei hat sich der Bundesgrenzschutz in den letzten Jahren von einer militärischen Truppe zur Bundespolizei entwickelt. Er darf nicht nur Schleierfahndungen, Ermittlungen, Observationen, sondern auch Lauschangriffe durchführen. Länderkompetenzen wurden dazu zwangsläufig aufgeweicht.
...Start-up GMX
In der Kategorie "Kommunikation" wurde die Firma GMX ausgezeichnet. Wie Jury-Mitglied und Journalist Patrick Goltzsch vom Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft e. V., Fitug, ausführte, erhält GMX den Preis, da sie die elektronische Post ihrer NutzerInnen ungenügend gesichert hat: Im Juli verloren etwa 118.000 GMX-Kunden ihre E-Mails, da die Firma intern die Software erneuerte.
GMX hatte den Vorfall damals damit kommentiert, dass es "im Freemail-Bereich leider nur bedingt Datensicherungen" gäbe. Wenige Tage später gelang es Hackern die Passwörter von 1.625 Kunden zu ändern. Damit konnten die Angreifer nicht nur die Emails der Kunden lesen, sondern auch unter deren Adressen Mails verschicken.
Obwohl Web.de und Lycos wenige Tage zuvor einer ähnlichen Attacke zum Opfer gefallen waren, hatte GMX keine Vorkehrungen getroffen. Goltzsch: "Die Beteuerungen von GMX, man unternehme alle Anstrengungen, um die Sicherheit der ihnen anvertrauten Daten zu gewährleisten, erscheinen unter diesen Umständen wenig glaubwürdig." Auch in den allgemeinen Geschäftsbedingungen heißt es bei GMX: "Der Nutzer stellt GMX AG von jeglicher Haftung für die von ihm übermittelten Inhalte frei." Dabei bleibt die Verpflichtung, das Briefgeheimnis zu wahren und zu schützen, unberücksichtigt.
...das Ausländerzentralregister
Den Preis für das Lebenswerk, den "Lifetime-Award", wurde dem Ausländerzentralregister verliehen. Dieser Preis geht an Personen oder Organisationen, die sich seit vielen Jahren um die Schwächung der Privatsphäre und der persönlichen Grundrechte "verdient" gemacht haben. Wie Jury-Mitglied Thilo Weichert von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (DVD) ausführte, führt das Bundesverwaltungsamt in Köln eine Datenbank mit den Angaben zu mehr als zehn Millionen Personen. Sie dient vor allem der Überwachung von Ausländerinnen und Ausländern, "um diese im Zweifel außer Landes schaffen zu können". Dabei handelt es sich, so Weichert "um eine institutionalisierte behördliche Diskriminierung von nicht-deutschen BürgerInnen in der Bundesrepublik."
Der Betrieb des Ausländerzentralregisters sowie das hierzu erlassene Ausländerzentralregister-Gesetz sind laut Weichert wegen des Verstoßes gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und gegen den Gleichheitsgrundsatz verfassungswidrig. Die Erfassung von nicht-deutschen EU-Staatsangehörigen verstößt zudem gegen Europarecht. Nicht-Deutsche gehören zu der am intensivsten und besterfassten und überwachten Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Neun Betroffene haben deshalb 1995 Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht. Bis heute wurde die Beschwerde nicht verhandelt. Auch nach dem Regierungswechsel wurde nicht versucht, das Ausmaß der Kontrolle durch das Ausländerzentralregister zurück zu nehmen. Vielmehr verfolgt das Bundesinnenministerium weiterhin das Ziel, den Datenumfang sowie die Befugnisse des Registers auszuweiten.
...die Stadtwerke Bielefeld
Einen Sonderpreis erhielten die Stadtwerke Bielefeld, da sie in vier Linienbussen eine Zwangsbeschallung mit dem Programm des lokalen Radiosenders "Radio Bielefeld" einrichteten. Jury-Mitglied Sebastian Lisken von der Verkehrsgruppe der Universität Bielefeld kritisierte dies als "akustische und gedankliche Besetzung eines bisher freien Raums". Das Bürgerrecht auf Privatsphäre werde damit verletzt.
...und Apache
Auch ein ganz besonderer Preis, der Szenepreis, wurde verliehen. Der Preis richtet sich an Menschen mit Fachkenntnissen und ging in diesem Jahr an das Apache Konsortium für die mangelhafte Beachtung von Belangen der Privatsphäre in der Standard-Konfigurationsdatei des Apache Webservers. Der Apache Webserver ist mit geschätzten 40 bis 60 Prozent Marktanteil einer der beliebtesten Webserver im Internet. Als Open-Source-Software ist er kostenlos verfügbar.
Die Konfiguration des Servers erfolgte bei einer Textdatei, in der alle Parameter einstellbar sind. In der Standard-Konfiguration protokolliert der Server unter anderem die IP-Adresse des Abfragenden und die Namen der abgerufenen Webseiten. Damit werde die Privatsphäre der Benutzer verletzt, argumentierte Jury-Mitglied Hans Hübner vom Chaos Computer Club. Mit Hilfe der Informationen sei im Nachhinein ermittelbar, welche Anwender welche Seiten in welcher Reihenfolge abgerufen und wie lange sie sie sich angesehen haben. Hübner kritisierte, dass Protokollinformationen nur dann erzeugt werden sollten, wenn sie für den Betrieb der Einrichtung technisch unabdingbar sind.