Big-Tech-Lobby: Wie Google und Co. die Politik der EU beeinflussen
- Big-Tech-Lobby: Wie Google und Co. die Politik der EU beeinflussen
- Lobbying 101: Diese Zutaten gehören in eine gute Kampagne
- Auf einer Seite lesen
Abgeordnete in Brüssel werden belagert von Vertretern der Technologie-Giganten. Sie benutzen verschiedene Taktiken der Beeinflussung. Was sie wollen, wie sie vorgehen.
Es war ein Musterbeispiel für die Gefahren des Lobbyismus für bürgerliche Freiheiten, der offengelegt wurde: Als EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am 25. Oktober vor dem Libe-Ausschuss des EU-Parlaments Rede und Antwort trat, standen schwerwiegende Vorwürfe im Raum.
Johansson soll sich bei einem Gesetzentwurf zur Chatkontrolle von einer US-Organisation beraten lassen haben, die finanziell direkt von dem Gesetz profitiert hätte. Der Entwurf bedeutet gleichzeitig einen gravierenden Einschnitt in die bürgerlichen Freiheitsrechte der EU-Bürger. Ein Fall von Big Business gegen Freiheit? Die Innenkommissarin wies diesen Vorwurf empört von sich.
"Will someone please think of the children?"
Zum Hintergrund: Der Libe-Ausschuss des EU-Parlaments ist der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Er ist dasjenige Organ der Europäischen Union, das ausdrücklich und vorrangig die Rechte der EU-Bürger verteidigen soll.
Dem Ausschuss waren Presseberichte zu Ohren gekommen, nach denen Johansson einem "Non-Profit-Startup" namens Thorn überschwänglich für seine Unterstützung gedankt haben soll. So weit nicht ungewöhnlich, doch Thorn ist eine zweifelhaftes Non-Profit-Organisation.
Thorn agiert in einem Graubereich zwischen Non-Profit und Technologie-Unternehmen. Es vertreibt eine Software zum Auffinden von Kinderpornografie und arbeitet dabei eng mit verschiedenen US-Technologiekonzernen zusammen.
Die Gehälter seiner Vorstände liegen im sechsstelligen US-Dollar-Bereich, was außergewöhnlich hoch für eine NGO (Non-Governmental-Organization) ist. Ebenso belaufen sich die Ausgaben für Lobbying in Brüssel auf mindestens 600.000 Euro jährlich.
2021 gab Thorn für Werbung über eine Million Dollar aus. Es nahm 2021 über drei Millionen Euro an Lizenzeinkünften für seine Software ein und investierte unter anderem in die Firma seines damaligen Vorstandes sowie in Krypto-Unternehmen.
Zumindest die Kombination wirtschaftlicher Interessen und dem dafür dienlichen Eintreten für ein ehrenwertes Ziel wie dem Schutz der Kinder kann Thorn vorgehalten werden. In der Tat hat das Start-Up seine Software in Treffen mit EU-Gesetzgebern als Lösung vorgeschlagen, wie Investigativjournalisten von Follow The Money recherchierten.
Zudem existieren persönliche Verknüpfungen. So sind ehemalige Europol-Beamte nun bei Thorn beschäftigt, einen Sitz im Vorstand hat eine ehemalige EU-Kommissarin, wie Netzpolitik.org herausgefunden hat.
Die EU-Innenkommissarin will in ihren Verbindungen zu Thorn nichts Verwerfliches erkennen können. Sie wirft Kritikern vor, den vermeintlichen "Chatgate-Skandal" fabriziert zu haben.
"Durch das Hervorheben dieser einen Gruppe in den Beratungen wird unfairerweise ein Eindruck der Vorteilsnahme erzeugt", so Johansson in ihrem Statement vom 3.10.2023.
Sie hat im gleichen Atemzug auch keine Bedenken, in den geistigen Fußstapfen einer berüchtigten Figur der TV-Serie "The Simpsons" zu treten und die sogenannte "Mrs. Lovejoy Fallacy" zu begehen: durch den Verweis auf das Wohlergehen der Kinder rationale Debatten um ein Thema unmöglich zu machen (der Fachbegriff hierfür wäre "Argumentum ad passiones").
Bei Johansson liest sich das so:
Die Antwort auf die Frage, wer von meinem Vorschlag profitiert, lautet: Kinder. Und wer profitiert von einer Ablehnung? Diejenigen, die missbrauchen, die ihre Verbrechen unerkannt begehen können.
Es ist sicher richtig, dass der Schutz vor Missbrauch eine wichtige Aufgabe jeder Gesellschaft ist. Doch das bedeutet nicht, dass jeder Vorschlag zu diesem Zweck gleich gut ist.
Gegen den Gesetzentwurf zur Chatkontrolle gibt es gute Argumente, die etwa in einem gemeinsamen Schreiben von rund 500 Wissenschaftlern dargelegt werden. Sie kommen zu dem Schluss, dass "diese oder ähnliche Maßnahmen mit der aktuellen und künftigen Technologie nicht zum Erfolg führen können, gleichzeitig aber das Potenzial zu großem Schaden bergen."
Nur ein Zwischenergebnis?
Die Verfechter der Chatkontrolle haben zuletzt einen Dämpfer erhalten, als das EU-Parlament sich auf eine gemeinsame Position einigte, welche viele der stärksten Eingriffe in das Recht auf Privatsphäre der EU-Bürger ablehnt. Der Abgeordnete des Europaparlaments Patrick Breyer (Piraten) konnte sich in einem Statement einen Seitenhieb auf die Rhetorik der EU-Innenkommissarin nicht verkneifen, als er ihre Worte benutzte: "Gewinner dieser Einigung sind [...] unsere Kinder, die viel wirksamer und gerichtsfest geschützt werden [...]"
Lesen Sie auch:
Europäische Friedenstruppen in der Ukraine: Eine Idee ohne Zukunft
Machtwechsel in Syrien: Wenn die Falschen für die Richtigen gewinnen
Ukraine-Krieg: Wenn kritische Stimmen verstummen müssen
Raucher-Paradies Deutschland: Wo Zigaretten noch erschwinglich bleiben
Wahlen in der politischen Eiszeit: Über Manipulationen in Rumänien
Doch der Weg des Gesetzentwurfs ist noch lange nicht zu Ende. In der Vergangenheit haben viele engagierte Vorschläge des EU-Parlaments im Austausch (Trilog) mit der Europäischen Kommission und dem Rat der Europäischen Union erhebliche Veränderungen erfahren.
Lobbyisten versuchen auch auf die Vertreter der anderen beiden hier vertretenen Gremien Einfluss zu nehmen. Oftmals unbemerkt – der Trilog selber kam nicht zuletzt wegen seiner Intransparenz unter Kritik.
Auch Breyer sieht die Einigung des EU-Parlaments als Etappenziel:
Die US-Internetkonzerne drängen auf weitreichende Ermächtigungen zur Chatkontrolle und Metadatendurchleuchtung, ohne aber Verpflichtungen eingehen zu wollen. Im Parlament haben wir dagegen gehalten. Wie sich der Trilog entwickelt, bleibt abzuwarten.