Bildung und Schulen: Wer unten ist, bleibt unten?

Grundschul-Klasse mit Kindern auf der Schulback von hiinten aufgenommen.

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Im Bereich der Bildung werden Machtkämpfe ausgetragen. Was durch Sparen erodiert, was zur Begabtenförderung gehört und warum die Deutschen mehr Bildung nötig haben. Analyse.

Bildung spiegelt stets die zentralen Prioritäten einer Gesellschaft wider. Für die Glaubwürdigkeit einer Demokratie ist zum Beispiel das Versprechen der Chancengerechtigkeit zentral.

Nicht die Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand, sondern die individuellen Leistungen sollen darüber entscheiden, welche gesellschaftliche Position man erlangt. Reibungslos geschieht diese Zuweisung allerdings nicht.

Machtkämpfe in der Bildung

Im Bereich der Bildung werden Machtkämpfe ausgetragen. Einerseits werden ungleiche soziale Rollen durch erreichte Bildungsgrade legitimiert. Andererseits will man durch mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem Benachteiligungen abbauen.

Wie ist in diesem Zusammenhang die Bildungspolitik z.B. im Bundesland Berlin zu bewerten? Im laufenden Schuljahr kam es zu folgenden Maßnahmen:

• Die Brennpunktzulagen für Pädagogen sind ersatzlos gestrichen.
• Das Berliner Bonusprogramm, vom Leibniz-Institut wissenschaftlich begleitet, schrieb sich auf die Fahnen, den Einfluss familiärer Herkunft für den Bildungserfolg zu verringern. Es wurde kurzfristig massiv gekürzt. Für 33 von 218 Schulen entfallen die Mittel sogar komplett. Engagierten Sozialarbeitern musste vielfach urplötzlich gekündigt werden.
• In den neuen Zumessungsrichtlinien ab dem Schuljahr 2025/26 wird die verlässliche Grundausstattung nur noch pauschal pro Kopf berechnet. Alle Schulen erhalten für Sprache, Lernen und emotional-soziale Entwicklung unabhängig von dem tatsächlichen Bedarf 0,16 Stunden pro Schüler zur sonderpädagogischen Förderung. Wer die unterschiedlichen schulischen Bedingungen kennt, dem stößt das auf. Grundschulen in schwierigem Umfeld haben nicht selten in einer Klasse acht und mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf der oben genannten Kategorie. Während in Klassen aus Schulen in besserer Lage oft nur ein Kind sitzt. Es gibt zwar die Möglichkeit, mehr Stunden zu beantragen, aber das führt zu mehr bürokratischem Aufwand und planerischer Unsicherheit. Trotz der geharnischten Kritik des Fachbeirats für Inklusion hält die Berliner Bildungssenatorin an ihrer Reform fest.
• Hinzu kommen massive Kürzungen der außerschulischen Kinder- und Jugendhilfe. Wichtige Kooperationspartner für Schulen verschwinden. Gerade in Stadtteilen mit sozialen Brennpunkten zerstört das mühsam aufgebaute Präventions- und Unterstützungsstrukturen. Familien verlieren wichtige Vertrauenspersonen, Kinder wichtige Beziehungspartner. Schulen werden diese Löcher nicht stopfen können. Schon jetzt ist die Aufgabenlast für schulische Pädagogen nicht bewältigbar.

Chancengerechtigkeit als realitätsfremde Idee?

Eine Ressourcenverteilung nach Bedarf findet immer weniger statt. Chancengerechtigkeit wird behandelt, als sei sie eine realitätsfremde Idee und bedürfe insofern keiner Berücksichtigung. Ob Zebra oder Giraffe, die Blätter hängen nun für alle Schulen gleichermaßen hoch.

Um im Bild zu bleiben: Insgesamt wachsen am Baum von vorneherein viel zu wenig Blätter, ein "Futterneid" droht gegeneinander auszubrechen.

Konkurrenz um das beste Personal und pflegeleichte Schüler

Unter den Bedingungen der Knappheit sind Schulen in eine Dynamik der Konkurrenz gezwungen, wie wir sie aus der kapitalistischen Ökonomie kennen. Sie konkurrieren um das beste Personal und vor allem um die möglichst "pflegeleichten" Schülerinnen und Schüler.

Das trifft vor allem Kinder mit hohem Unterstützungsbedarf. Eltern unternehmen enorme Anstrengungen, um einen Schulplatz für ihr Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu finden.

Der Landesverband der Lebenshilfe e.V. geht in Berlin von "etwa 1000 bis 2000 Schülerinnen und Schülern aus, die nicht oder nur verkürzt beschult werden, insbesondere im Autismus-Spektrum oder mit hohen Unterstützungsbedarfen".

Thomas Schenk, Leiter des Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentren (SIBUZ) in Tempelhof-Schöneberg, vermutet, wie seine Aussagen im Berliner Tagesspiegel nahelegen, gar, dass die Bildungsverwaltung die Anerkennungsverfahren verzögert und damit die Eltern in der Warteschleife hält.

Die Einstellung der Lehrer

Zugleich wirkt sich die Verknappung der Ressourcen auch auf die Einstellung der Schulbeschäftigten aus. Aus dem Schulbarometer 2024 der Robert-Bosch-Stiftung geht hervor, dass eine Mehrheit der Lehrkräfte (71 Prozent) die Aufgaben eines inklusiven Unterrichts als große Belastung erlebt und die zu geringe Unterstützung kritisiert.

Wenn der Unterrichtsalltag in unerfüllbare Bedingungen hineingestellt ist, kann das zum Einfallstor für neurechte Propaganda werden. Die Taktik ist immer dieselbe: Man erklärt Schwächere zum Sündenbock, um deren Marginalisierung als scheinhafte Lösung des Problems darzustellen. Aussonderung wird dabei positiv dargestellt.

Förderschulen werden pauschal als pädagogisch besser geeignet gepriesen. Das gibt die Datenlage aber gar nicht her. Trotz des miserablen Ist-Zustands der Inklusion ist der Lernzuwachs zumindest bei Kindern mit dem Förderbedarf "Lernen" höher als an Förderschulen.

Gleichzeitig haben sich dadurch die Leistungen der Mitschülerinnen und Mitschüler nicht verschlechtert. Dass es dennoch Förderzentren weiterhin für besonders betreuungsintensive Gruppen geben muss, ist unbestritten.

Unter § 1 des Berliner Schulgesetzes wird als Ziel genannt: die Heranbildung von Persönlichkeiten, die demokratisch handeln und entschieden gegen demokratiefeindliche Ideologien auftreten.

Schriftsprachkompetenz aller 18- bis 64-Jährigen deutschlandweit

Die LEO-Studie (Leben mit Literalität) von 2018 überprüfte bevölkerungsrepräsentativ die Schriftsprachkompetenz aller 18- bis 64-Jährigen deutschlandweit.

"Hochgerechnet auf die Bevölkerung verbleiben rund 6,2 Millionen Erwachsene im Bereich geringer Literalität", ist dort zu erfahren1. Das heißt, sie schafften es nur bis zum dritten Alphabetisierungs-Level:

"Auf diesem Alpha(betisierungs, Einf. d. Red.)-Level sind Personen in der Lage, einzelne Sätze zu lesend zu schreiben, sie scheitern aber an der Ebene zusammenhängender – auch kürzerer – Texte."

Dies wird zum Niveau des "funktionalen Analphabetismus" gerechnet.

10,6 Millionen erreichen das vierte Level, das zwar nicht mehr zum funktionalen Analphabetismus zählt, aber dennoch auf oder unter dem Grundschulniveau bleibt: "Kompetenzen auf dem Alpha(betisierung)-Level 4 beschreiben eine auffällig fehlerhafte Rechtschreibung auch bei gebräuchlichem und einfachem Wortschatz." 2

Jemand mit derart geringer Lese- und Schreibkompetenz ist nicht nur in seinem demokratischen Handeln stark eingeschränkt, sondern auch in der Wahl seines Arbeitsplatzes äußerst limitiert.

Schule als Lernort

Wenn die Schule die Voraussetzungen für politische und berufliche Teilhabe schaffen soll, hilft es nicht, hastig eine Deutschstunde mehr zur Steigerung der Textkompetenz einzurichten. Der Bildungsprozess muss umfassender gedacht werden.

Wird in der Schule persönliche Unterstützung erfahren, schafft das Vertrauen. Sobald Schule als zugewandter Lebensort erlebt wird, kann sie auch zum Lernort werden. Dann können kognitive Kompetenzen und Fertigkeiten aufgebaut werden.

Emotion, Motivation und Kognition sind eng verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Viele Schulkritiker wollen wieder mehr Leistung in den Schulen sehen. Sie schließen dabei aus ihrem Erwachsenenbewusstsein auf ein Leistungsvermögen, das angeboren oder kulturell bedingt ist und bloß noch abgerufen zu werden braucht.

Arbeitet man mit jungen Menschen, erfährt man tagtäglich, dass Leistungsvermögen und Anstrengungsbereitschaft in einer unterstützenden Lebenswelt bei motivierenden Erfahrungen sich erst noch entwickeln muss.

Leistungsförderliche Bedingungen schaffen Pädagoginnen und Pädagogen nicht aus dem Nichts. Voraussetzung ist eine den Schülerbedürfnissen angepasste Personalausstattung und angemessene räumliche Verhältnisse.

Notwendige Begabungsförderung

Vielleicht ist es wichtig, Selbstverständliches zu betonen: Spricht man von Schülerbedürfnissen, geht es nicht nur um Förderung der Schwachen, sondern ebenso um Begabungsförderung im weitesten Sinne.

Durch die fortgesetzte Sparpolitik im Bildungsbereich ist eine Chancengerechtigkeit unerreichbar geworden. Schülerinnen, Schüler und Eltern sind Ängsten vor sozialem Abstieg und beruflicher Chancenlosigkeit ausgesetzt. Konkret bedeutet das:

Überall dort, wo Menschen dafür sorgen sollen, dass es Kindern gut geht, wird gekürzt.

Oliver Dierssen, Kinder- und Jugendpsychiater, Tagesspiegel

Bleibt es bei den entsolidarisierenden Kürzungen oder werden sie gar noch ausgeweitet, reduziert sich das Bildungssystem auf die Funktion, einer zunehmenden gesellschaftlichen Hierarchisierung den Schein von Legitimität zu verleihen.

Aber ebenso muss klar sein: Setzen wir uns für chancengerechtere Bedingungen ausschließlich innerhalb des Bildungssystems ein, wäre bei Erfolg der alleinige Effekt, dass der Verteilungskampf um die wenigen Stühle zunähme.

Aussichtsreich ist eine Veränderung zu einer gerechteren Gesellschaft erst dann, wenn insgesamt die Anzahl der Sitzplätze am großen Tisch zunehmen, damit alle mitessen können (siehe Mythos Bildung).

Gabriele Heller ist Grundschullehrerin und Fachseminarleiterin für Mathematik.