Bombiger Erfolg oder peinliche Lügen?

Ein geheimgehaltener britischer Bericht weckt neue Zweifel an den offiziellen Trefferbilanzen der NATO-Luftangriffe im Kosovokrieg

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Nur etwa 40% der Bomben, die von der britischen Luftwaffe im vergangenen Jahr über Serbien und Kosovo abgeworfen wurden, trafen ihre Ziele. Die Trefferquote der ungelenkten "dummen" Bomben lag bei einem Typ sogar nur bei 2%, so das Ergebnis einer kürzlich bekannt gewordenen internen Studie des britischen Verteidigungsministeriums.

Der Bericht, der von der Abteilung für Untersuchungen und Analysen erstellt wurde, lag der Spitze des Ministeriums bereits zu Beginn des Jahres vor, wurde aber bisher unter Verschluss gehalten. Nun deckte die Fachzeitschrift Flight International in ihrer Ausgabe vom 15. August die Fakten auf und brachte die Presseabteilung der Militärs in Erklärungsnöte - offiziell galt der Kosovo-Luftkrieg bislang in Großbritannien als großer Erfolg. Die Luftwaffe musste zugeben, dass mit den insgesamt ca. 1000 Bomben, die von britischen Flugzeugen abgeworfen worden waren, nur 400 Treffer erzielt wurden. 300 Bomben trafen nachgewiesenermaßen daneben, und 300 konnten "nicht zugeordnet" werden.

Lasergesteuerte Probleme

Die 244 eingesetzten lasergesteuerten Bomben schnitten nach dem neuen Bericht sogar schlechter ab als in vorherigen Kriegen. Schon im Golfkrieg 1991 trafen nach Angaben des Herstellers der Zieleinrichtung (damals GECFerranti) 100% der Paveway II-Bomben ihre Ziele, die mit dem TIALD-System markiert wurden. Diese ungewöhnlich hohe Trefferquote, die auf wolkenloses Wetter und ein übersichtliches Zielgebiet in Wüstenumgebung zurückzuführen ist, ließ sich im Bosnien-Einsatz 1995 nicht halten. Aber auch dort erreichte die britische Luftwaffe mit ihren lasergesteuerten Bomben noch eine Erfolgsrate von 85%.

Die gleichen Paveway II-Bomben mit dem (heute von British Aerospace hergestellten) TIALD-Zielmarkierungssystem trafen im Kosovo-Krieg bei 226 Abwürfen lediglich knapp zwei Drittel ihrer Ziele, nämlich 65%. Diese Zahlen deuten auf einen bisherigen Tiefpunkt der Präzision lasergelenkter Bomben hin und wiedersprechen der eilig nachgelieferten Darstellung der Luftwaffe, diese Bomben hätten besser getroffen als im Golfkrieg 1991.

Die mit 2000 Pfund doppelt so starke Paveway III-Bombe machte den Briten noch mehr zu schaffen: Von Tornado-Jagdbombern abgeworfen, erreichte sie lediglich eine Trefferquote von 53%. Der Harrier GR7, eine britische Eigenproduktion (Hersteller: British Aerospace), kam mit der amerikanischen Bombe (Hersteller: Raytheon) überhaupt nicht klar. Wegen technischer Integrationsprobleme konnte das Flugzeug keine der Präzisionswaffen ins Ziel bringen. Insgesamt wurden von diesem Bombentyp auch nur 18 Exemplare eingesetzt. Der offizielle Bericht "Kosovo. Lehren aus der Krise" des britischen Verteidigungsministeriums, der im Juni dieses Jahres veröffentlicht wurde, spricht dagegen noch von "guten Ergebnissen" beider Bombentypen.

"Dumme" Bomben trafen kaum

Die ungelenkten "dummen" Bomben, von denen insgesamt 761 Exemplare abgeworfen wurden, hatten erwartungsgemäß noch geringere Trefferquoten. Von den 531 "Cluster"-Bomben RBL-755, die sich in viele kleine Explosivkörper zerlegen, trafen nur 40% ihre Ziele.

Diese geringe Genauigkeit erklärt sich aus der großen Flughöhe von bis zu 10.000 Metern, die aus Angst vor der serbischen Flugabwehr zur Vermeidung eigener Verluste angeordnet worden war. Dazu kommt, dass die Piloten die Erlaubnis hatten, auch durch eine undurchsichtige Wolkendecke hindurch ihre Bomben abzuwerfen, sofern sie ihre Flugposition mittels GPS-Navigation verifizieren konnten. Weil ein Teil der Explosivkörper aus den "Cluster"-Bomben nicht explodiert ist und bis heute als tödliche Gefahr auf dem Boden liegt (der Guardian spricht von bis zu 35.000 Stück), geriet dieser Bombentyp besonders in die öffentliche Kritik. Das Verteidigungsministerium testet daher seit März dieses Jahres die amerikanische "Maverick"-Anti-Panzer-Rakete als mögliche präzisionsgelenkte Alternative.

Am schlechtesten war die Trefferquote bei den ungelenkten 1000-Pfund-Bomben. Von den 150 abgeworfenen Exemplaren mit Aufschlagszündung trafen nur ganze drei Stück nachgewiesenermaßen ihr Ziel, während 89% nicht zugeordnet werden konnten. Von den 80 luftgezündeten 1000 Pfund-Bomben trafen immerhin noch 30%, während 35% sicher daneben gingen und der Rest nicht zugeordnet werden konnte.

Informationspolitik der Militärs unter Druck

Als Reaktion auf die Veröffentlichung des internen Berichtes kamen erneut Vermutungen auf, dass die Opfer in der Zivilbevölkerung höher seien als behauptet. Der verteidigungspolitische Sprecher der Konservativen, Iain Duncan Smith, verlangte eine unabhängige Untersuchung. Die Regierung hatte diese bereits seit einem Jahr erhobene Forderung bislang zurückgewiesen. "Jetzt wissen wir warum: Weil sie die Wahrheit unterdrücken wollten", so Smith.

Auch der Labour-Abgeordnete Tam Dalyell, ein Kritiker des Krieges, der sowohl Serbien als auch das Kosovo besucht hatte, sagte: "Sie müssen gewusst haben, dass das, was sie der Presse erzählten, falsch war. Jeder, der dort unten war, muss die Kollateralschäden gesehen haben."

Das Verteidigungsministerium versuchte laut "Guardian", die Veröffentlichung des Berichtes durch Flight International zu verhindern. Dazu wurde der Ausschuss für Presse- und Rundfunkberatung eingeschaltet, ein System der medialen Selbstzensur bei Informationen, die für die "nationale Sicherheit" gefährlich sind. Dieser sogenannte D-Notice-Ausschuss bat Flight International, das Verteidigungsministerium zu kontaktieren, weil der Bericht "unausgewogen" sei und Informationen für einen "potentiellen Gegner" enthalte.

Die britische Presse reagierte empört auf diese Zensurversuche und die neuen Hinweise darauf, dass die Öffentlichkeit von den Militärs nicht korrekt unterrichtet wurde. Der Bericht mit den geringen Trefferquoten war bereits am 11. Februar in einer geschlossenen Sitzung des Royal United Services Institute zitiert, aber nie veröffentlicht worden. Einen Tag vorher hatte das Verteidigungsministerium auf einer Pressekonferenz noch verkündet, die Luftkriegsführung sei die beste gewesen, die die britische Luftwaffe jemals durchgeführt habe. Auch Versuche der Presse, mittels des "Open Government"-Gesetzes Daten über die Auswertung des Luftkrieges zu erhalten, die dem Verteidigungsausschuss des Parlamentes bereits vorlagen, wurden abgeblockt. Streitkräfteminister John Spellar behauptet weiterhin, man habe die Öffentlichkeit nicht getäuscht mit der Einschätzung, dass der Luftkrieg ein Erfolg gewesen sei. Im offiziellen Bericht des Ministeriums wird lediglich die im September 1999 veröffentlichte Studie der NATO zitiert, während eigene Trefferquoten nirgends auftauchen.

Die Zahlen der NATO sind selber bereits heftig kritisiert worden. Unmittelbar nach Kriegsende hatte der Vorsitzende des US-Generalstabes, Henry M. Shelton, die Zerstörung von 120 Panzern, 220 gepanzerten Truppentransportern und 450 Stück Artillerie bekannt gegeben. Eine genauere Untersuchung im Auftrag des NATO-Oberbefehlshabers Europa, Wesley Clark, ergab jedoch ein anderes Bild: Wie Newsweek am 15. Mai berichtete, fand das 30-köpfige Munitions Effectiveness Assessment Team (MEAT) im Sommer 1999 lediglich 14 zerbombte Panzer, 18 zerstörte Truppentransporter und 20 Stück getroffene Artillerie. Von den 790 "bestätigten" Treffern von Shelton waren so nach wochenlangem Durchsuchen des Gebietes nur noch 52 Nachweise übrig. Laut Newsweek wies Clark, dem diese Zahlen überhaupt nicht gefielen, daraufhin die US-Luftwaffe an, einen neuen Bericht zu schreiben.

Brigadegeneral John Corley, der mit dieser Aufgabe betraut wurde, zog Informationen aus Raketenvideos, Satellitenaufnahmen, Piloteninterviews und anderen Quellen hinzu und war in der Lage, einen Bericht abzuliefern, der den Befehlshabern gefiel: Demnach hat die NATO 93 Panzer, 153 gepanzerte Truppentransporter und 389 Stück Artillerie zerstört. Diese Zahlen wurden im September 1999 der Öffentlichkeit präsentiert und gelten bis heute als die offizielle Trefferstatistik des NATO-Luftkrieges. Bei mehr als der Hälfte der von Corleys Team genannten "bestätigten Treffer" gab es jedoch nur eine Quelle - ein verwackeltes Cockpit-Video oder ein Blitz auf einem Satellitenbild. Darauf ist jedoch in der Regel nicht zu erkennen, ob ein echter Panzer oder eine der von den Serben vielfach eingesetzten Attrappen getroffen wurde - oder gar ein ziviler Bus. Hohe NATO-Militärs wie der Stellvertreter von Oberbefehlshaber Clark, Brigadegeneral Sir Rupert Smith, und sein Stabschef, der deutsche General Dieter Stockmann, warnten Clark intern davor, Corleys Zahlen zu akzeptieren. Auch die US-Geheimdienste haben Zweifel geäußert.

Der Bericht, der im Januar dem US-Kongress vorgelegt wurde, enthielt zwar noch die offiziellen Zahlen der Luftwaffenstudie, aber mit der Anmerkung: "Die Abschätzung liefert keine Daten über die absolute Trefferquote bei mobilen Zielen oder über die dabei verursachte Schadenshöhe." Die Übersetzung, so ein hoher Pentagon-Beamter: "Hier ist die Tabelle von der Luftwaffe. Wir glauben nicht, dass sie irgendetwas bedeutet."

Windows-Bomben abgestürzt

Nicht nur die Militärs betreiben eine - vorsichtig ausgedrückt - zurückhaltende Informationspolitik. Wie die Computerzeitung bereits im Juni 1999 berichtete, haben neben den NATO-Streitkräften und den klassischen Rüstungsfirmen auch viele Computerunternehmen den Krieg genutzt, um ihre neuen Systeme zu testen. Probleme hatte dabei vor allem Microsoft: Die Miniversion von Windows für mobile Kleingeräte, Windows CE, ist für die Steuerung der "intelligenten" Bomben nicht geeignet. Einerseits erfüllt Win CE nicht die erforderlichen Echtzeitbedingungen, zum anderen ist das es zu instabil. Die Bomben stürzen im Anflug ab und können nicht mehr gesteuert werden. Auch diese Information ist von dem Softwaregiganten aus Redmont bislang nicht veröffentlicht worden.

Ralf Bendrath ist Mitbegründer der Forschungsgruppe Informationsgesellschaft und Sicherheitspolitik (FoG:IS) und betreibt die Mailingliste Infowar.de.

Quellen

Tim Ripley/Stewart Penney: Kosovo bombing misses the target, says MoD report, Flight International, 15.8.2000
BBC News, 14.8.2000: Bombs missed Kosovo tragets
Richard Norton-Taylor: MoD leak reveals Kosovo failure, The Guardian, 15.8.2000
Alison Little: Half our bombs in Kosovo missed the targets, Daily Express, 15.8.2000
John Barry / Evan Thomas: The Kosovo Cover-Up, Newsweek, 15.5.2000
NATO Press Conference on the Kosovo Strike Assessment by General Wesley K. Clark, Supreme Allied Commander, Europe and Brigadier General John Corley, Chief, Kosovo Mission Effectiveness Assessment Team, 16.9.1999
UK Ministry of Defence: Kosovo. Lessons from the Crisis, presented to Parliament by the Secretary of State for Defence by Command of Her Majesty, Juni 2000
US Department of Defense: Report to Congress: Kosovo/Operation Allied Force After-Action Report, 31.1.2000.