Brexit: Streiks, neue Gewerkschaften, Selbstorganisation
Die ungeschriebene Geschichte - Teil 2
Was in der vorherrschenden, inhaltsleeren Brexit-Berichterstattung unerwähnt blieb, aber der vermeintliche "Antisemitismus" des linken Labour-Vorsitzenden Corbyn hochgespielt wurde: Seit einem Jahrzehnt regenerieren sich viele Gewerkschaften, neue Formen der Selbstorganisation entstehen.
In neuen Bereichen prekärer und digital organisierter Arbeit, in denen die traditionellen Gewerkschaften kaum präsent sind, bilden sich zahlreiche kleine, kämpferische Gewerkschaften und Initiativen. Sie setzen sich in der Mitgliedschaft teilweise neu zusammen, mit mehr Frauen und Migranten.
Teil 1: Vorreiter der Rechtsentwicklung in Europa: Wer den Brexit finanzierte, sich als Klassenkämpfer ausgab und die späte Rache am Wohlfahrtsstaat. Brexit: Die ungeschriebene Geschichte
Studenten: Aktionen gegen Studiengebühren
Die Arbeiterklasse wurde auch durch den Ausschluss aus der höheren Bildung gedemütigt. Die Tory-Regierung führte 2010 nach dem Vorbild ihrer Eliteuniversitäten in Cambridge und Oxford - dort haben auch Cameron, May und Johnson studiert - Studiengebühren für alle Hochschulen ein.
Dagegen entwickelte sich über viele Monate eine landesweite Protestbewegung von Studenten. Viele Zehntausend demonstrierten wiederholt durch London. In allen Hochschulstädten wurde demonstriert und besetzt. Auch die Büros der Tory-Partei in London wurden besetzt. Die Regierung ließ immer wieder Polizei auf die Studenten los. Die Proteste zogen sich noch zwei Jahre hin. Ergebnislos. Ein spontanes, wenn auch massenhaftes Aufbegehren reicht als Gegenwehr nicht aus. Der Ausbau der neuen Klassengesellschaft in allen Gebieten ist gnadenlos.
Das Studium der billigen Sozial- und Geisteswissenschaften kostet ab 11.500 Euro im Jahr, das geht bis zum teuren Medizinstudium mit 38.000 Euro. Dazu kommen die Kosten für Wohnplatz und sonstige Lebensbedürfnisse ab 12.000 Euro im Jahr, in London noch wesentlich mehr (How Much Does it Cost to Study in the UK?). Nicht nur die Arbeiterklasse wird ausgeschlossen. Auch die bisher zum Erhalt der kapitalistischen Gesellschaft so geförderte middle class kann ihre Kinder oft nicht zum Studieren schicken, oder man muss sich verschulden und möglichst schnell was für die Prüfungen auswendig lernen.
Mehrere Gewerkschaften erfolgreich gegen Auslagerungen
Anders ist es bei professioneller Gegenwehr. Erfolge sind möglich, auch wenn es sich um kleinere Dimensionen handelt. Für die unmittelbar Betroffenen geht es aber um viel.
Labour- wie Tory-Regierungen hatten die Auslagerung von Diensten - Reinigung, Sicherheit, Transport, Büro - aus der öffentlichen Verwaltung vorangetrieben, aus Ministerien, Universitäten, Krankenhäusern. Dagegen bildete sich beispielsweise 2012 die neue Gewerkschaft Independent Workers Union of Great Britain ( IWGB). Sie vertritt vor allem migrantische Beschäftigte, auch in den Bereichen Pflege, Fahrradkuriere und Gig Economy. Sie organisiert auch Sprachkurse und Fortbildung.
Erstmals taten sich ab 2018 für Streiks gegen Auslagerungen mehrere Gewerkschaften zusammen, so mit der IWGB auch die United Workers of the World (UVW) und die ältere Public and Commercial Services Union (PCS). Nach punktuellen Streiks, Blockaden, Besetzungen und monatelangen Verhandlungen erreichten tausend Hausmeister, Kantinen- und Reinigungskräfte im Londoner Gesundheitskonzern Imperial Healthcare NHS Trust mit seinen fünf Krankenhäusern, dass sie direkt und fest angestellt wurden - das erste Mal, dass durch einen Arbeitskampf eine Auslagerung dieses Ausmaßes zurückgenommen wurde. Löhne und Arbeitsbedingungen wurden den Festangestellten angepasst.
UVW-Mitgründer Petros Elia wies darauf hin: Der Kampf war auch zum Vorteil der Patienten! Bei der Auslagerung von Diensten hat sich gezeigt: Infektionen breiten sich viel schneller aus!1 Ähnliches erreichten der IWGB in der Universität London, unterstützt zudem von Universitätspersonal2 und der PCS im Justizministerium und der Königlichen Steuerbehörde.3
Schon 2006 hatten sich ausgelagerte Reinigungskräfte der Londoner School of Oriental and African Studies SOAS unter dem Motto justice for cleaners zusammengetan. Schrittweise schlossen sich Ausgelagerte der Bereiche Catering, Hausmeister, Empfang, Bewirtung, Reparaturen, Sicherheit, Postdienste an. 2018 erreichen sie durch Streiks und andere Aktionen ihr Ziel: Die Verträge mit den beauftragten Subunternehmern wurden gekündigt. Die Beschäftigten wurden den Festangestellten gleichgestellt, bei Lohn, Bezahlung von Urlaubs- und Krankheitstagen, Rente. Die Initiative benannte sich um: justice for workers. Sie ist jetzt auch in anderen Institutionen und Unternehmen aktiv.4
"Kopflose Hühner werden gefressen"
Andere beginnen ganz unten und ganz von vorne, so die Angry Workers of the World. Sie schreiben:
"Eine Menge Menschen sind verzweifelt - sie hoffen auf Kämpfe für eine bessere Welt, aber sie fühlen sich isoliert und unsicher, wo sie anfangen sollen ...
*Wir können nicht da anfangen, wo wir gerade sitzen, wir müssen unseren Arsch bewegen. Wir sind erstmal wenige. Wir gehen dahin, wo sich working class people treffen, täglich. Wo viele Arbeitsplätze sind, das ist zentral, Nachbarschaften sind auch wichtig.
*Grab dich ein, nimm einen Job an und lerne. Oder gehe zu neuen Plätze und frag dich durch. Entdecke, wie andere Menschen sich organisieren - und auch, warum sie es nicht tun! Hilf dabei, langsam Strukturen aufzubauen. Unsere Initiative SolNet fängt gerade an. Wir treffen uns wöchentlich, bei McDonalds, in einem indischen Teehaus, im 24-Stunden Asda-Café. Bilde kleine Gruppen bei der Arbeit.
*Und halte das alles in einer Publikation für die Gegend fest - das ist wichtig! Werde ein Spiegel der Klasse, hilf beim Blick nach oben. Vergiss Twitter. Verfasse selbst working class papers. Schreib die kleinen Geschichten des Widerstands in der Verpackungsabteilung auf.
*Gib Arbeitsplatz-Berichte weiter. Schau dich um: Wo werden Unternehmen fusioniert, wo spielen sich Konflikte ab?
*Wir brauchen diesen Verwurzelungs-Prozess. Kopflose Hühner werden gefressen.
Gig worker organisieren sich - aber mit Soros' Hilfe
Plattform-Konzerne der Gig Economy - Essensauslieferer wie Deliveroo, Foodora, UberEats, Taxidienste wie Lyft, Grab, Uber - vermitteln mithilfe von Apps Aufträge zwischen Kunden und Ausführenden. Die Konzerne sehen sich als reine Vermittlungsdienste. Die Beschäftigten sind nicht angestellt und bringen möglichst selbst ihre eigenen Fahrräder, Autos und sonstige Utensilien mit. Vielfach Arbeit auf Abruf, bezahlt pro Lieferung, unbezahlte Wartezeiten, keine Versicherung. Doch gegen diese mies bezahlte Schein-Selbständigkeit regt sich seit 2015 vielfältiger Widerstand.
In England gingen Fahrradkuriere vor Gericht und klagten sich als regulär Beschäftigte ein. Das nützte allerdings nichts, denn sie wurden danach nicht angestellt. 2016 begannen 200 Kuriere (Rider) in London einen wilden Streik, unterstützt von der IWGB, ausgelöst durch die Umstellung vom Stundenlohn auf Stücklohn. Der Streik war erfolgreich: Rückkehr zum Stundenlohn und ein Pfund Prämie zusätzlich pro Lieferung.
Ähnliche Gänge vor Gericht, Streiks, Demonstrationen von Ridern folgten, teilweise nach englischem Vorbild, in Italien, Spanien, Belgien, den Niederlanden, Deutschland. Einige Ex-Rider haben inzwischen eigene Kooperativen mit Festanstellung gegründet, so Mensakas im spanischen Barcelona. Freilich ist das feste Einkommen gering.5 Deliveroo & Co beherrschen mit ihren Großinvestoren den Markt.
Soros/Open Society Foundation organisieren die neue Arbeiterklasse
Es geht um viele Millionen gig worker in der EU und rund um den Globus. Der Aufbruch bei den Fahrradkurieren entwickelte sich in den letzten Jahren auch unter schein-selbständigen Fahrern bei den Taxikonzernen Uber, Lyft, Grab und Bolt.
So berief die IWGB für den 29./30. Januar 2020 eine internationale Konferenz nach London ein. Organisatorin Nicole Moore von der Rideshare Drivers United (RDU) aus den USA erklärte:
Wir sind alle der Ausbeutung durch die multinationalen Konzerne wie Uber ausgeliefert. Sie schöpfen Milliardengewinne, indem sie die Arbeitsrechte unterlaufen und wir mit dem Armutslohn um unser Überleben kämpfen. Globale Ausbeutung verlangt nach einer globalen Strategie des Widerstands, und genau das wollen wir mit unserer Konferenz.
RDU
Dass da eine politisch wichtige Bewegung im Gange ist, hat auch die herrschende Klasse verstanden. Sie ist seit Jahren global intensiv auf der Suche nach Initiativen, die mit dem gegenwärtigen Kapitalismus vereinbar sind und ihn freundlich erneuern: Stichwort "Umwelt". Dazu gründete die Open Society Foundation des US-Hedgefonds-Spekulanten George Soros neuerdings auch die Abteilung Fair Work Initiative. Deren Direktorin begrüßt die Konferenz: Dort sollen "Strategien für neue Formen globaler kollektiver Aktion" diskutiert werden.6
Dafür stehen einige Millionen bereit: Initiativen aus 23 Ländern waren eingeladen, aus allen Kontinenten, aus Großbritannien, Frankreich genauso wie aus Australien, Bangladesh, Indien, Kambodscha, Indonesien, Malaysia, Pakistan, aus den USA und Kanada, aus Panama, Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Uruguay, aus Südafrika, Kenia und Nigeria.
Soros und seine Stiftungen, die Organisatoren des extremen kapitalistischen Individualismus, die schon manchen Staat wie zuletzt die Ukraine für das westliche Kapital und Militär geöffnet haben, organisieren nun die neue Kollektivität der neuen Arbeiterklasse. Sie versuchen es.
Letzte Buchveröffentlichung von Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure. 2. Auflage mit aktuellem Vorwort, Köln 2020, 360 Seiten, 19,90 Euro. (Englisch: The Capitalists of the 21st Century. An Easy-to-Understand Outline on the Rise of the New Financial Players. Tredition publishers, hardcover, paperback, eBook).