Bruchlinien im Vereinigten Königreich
Reise in ernster Mission: Premierminister Johnson durch schottische Unabhängigkeitsbestrebungen aufgeschreckt
In der Woche, in der Großbritannien die Marke von 100.000 gezählten Corona-Toten überschritt, machte sich Premierminister Boris Johnson auf die Reise in Richtung Schottland. Nur selten überschreiten englische Politiker die nördliche Grenze zur zweitgrößten Nation des britischen Königreichs. Im großen Stil war dies zum letzten Mal im Jahr 2014 geschehen, als es galt, eine drohende Mehrheit für die schottische Unabhängigkeit bei der damals durchgeführten Volksabstimmung abzuwenden. Nun ist Johnson nach Schottland gereist, um zu verkünden, ein neues Unabhängigkeitsreferendum stehe nicht zur Debatte; frühestens im Jahr 2050 könne es wieder eines geben.
Dafür, dass dem angeblich so ist, wird in Großbritannien aber zur Zeit ziemlich viel über das Thema geredet. Die Financial Times schrieb am 28. Januar in einem Leitartikel gar von einer "Schlacht zur Rettung der Union", also des Vereinigten Königreichs, die nun begonnen habe.
So es die epidemische Lage erlaubt, finden am 6. Mai die Wahlen zum schottischen Regionalparlament statt. Die Prognosen ergeben das recht stabile Bild eines Wahlsieges für die nach Unabhängigkeit strebende schottische Nationalpartei SNP. Hinzu kommt laut einer Umfrage, die am 24. Januar vpn Londoner Tageszeitung Times veröffentlicht wurde, dass 71 Prozent aller Schotten unter 34 Jahren die Unabhängigkeit befürworten. Es war die 20. Meinungsumfrage in Folge, die für den Fall eines neuen Referendums eine Mehrheit für das Unabhängigkeitslager vorhersagte.
Durch Meinungsbild alarmiert
Solche Umfragen sind es, die Boris Johnson trotz aller wegen der Pandemie in Großbritannien geltenden Reisebeschränkungen zwangen, sich nach Schottland zu begeben. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete den Trip sarkastisch als "nicht essenziell".
Doch auch die SNP steht unter Druck. Mit dem endgültigen Austritt Großbritanniens aus der EU hat die Londoner Zentralregierung mit der Beschneidung von Befugnissen für die Regionalverwaltungen der nicht-englischen, unter dem Dach des Vereinigten Königreichs zusammengefassten Nationen begonnen. So wurde unter anderem ein neues Binnenmarktgesetz eingeführt, welches Westminster die alleinige Kontrolle über die Vergabe von Strukturförderprogrammen in den verschiedenen Landesteilen Großbritanniens gibt.
Als Großbritannien noch EU-Mitglied war, flossen derartige, teilweise aus EU-Töpfen stammende Gelder an die Regionalverwaltungen von Wales, Schottland und Nordirland. Nun will die Londoner Regierung die Regionalverwaltungen umgehen und Fördermittel gezielt für Projekte vor Ort ausgeben. So soll angeblich die Popularität des Vereinigten Königreichs gefördert werden. Wie dies konkret aussehen könnte, zeigte Premierminister Johnson mit seiner Schottlandreise. Dort ließ er sich gemeinsam mit britischen Soldaten ablichten, um deren Rolle bei der Verteilung von Covid-19 Impfstoffen an die Bevölkerung hervorzuheben.
Ohne Großbritannien keine Impfstoffe für Schottland, so die eindeutige Botschaft. Es ist zu bezweifeln, dass sie in Schottland gehört wird. Was das erstarkende Unabhängigkeitslager in Schottland aber hören möchte, sind konkrete Pläne für die Gestaltung der Loslösung von Großbritannien. Schließlich legitimiere eine SNP-Alleinregierung die Einleitung eines Unabhängigkeitsprozesses, so eine zunehmend gehörte Argumentation.
Nur Pandemie hält von Massenprotesten ab
Zehntausende sind dafür in den Monaten vor Ausbruch der Pandemie auf die Straße gegangen. Diesem Bedürfnis versuchte die SNP mit einer am 24. Januar veröffentlichten "Roadmap" Rechnung zu tragen Diese "Roadmap" verursachte im britischen Blätterwald einiges Rauschen. Die Rede war von einem "Wildcat-Referendum", einem "wilden" Referendum also, welches Nicola Sturgeon plane. Die Wirklichkeit ist freilich weitaus weniger wild.
Im Großen und Ganzen bleibt die SNP bei ihrer Strategie der vergangenen Jahre. Gefordert wird die Erlaubnis zur Durchführung eines zweiten Referendums durch die britische Regierung. Sollte sie das verweigern, will die SNP diese Forderung vor britischen Gerichten einklagen. Sollte dies ebenfalls scheitern, erwägt die SNP die Durchführung eines "legalen, beratenden Referendums" ohne Rechtsgültigkeit. Das von den britischen Konservativen angeführte unionistische Lager hat bereits angekündigt, ein solches Referendum zu boykottieren.
Unklar ist auch, mit welchen finanziellen Ressourcen eine nicht von London legitimierte Abstimmung durchgeführt werden soll. Hier bahnt sich ein Szenario an, wie man es bei der Durchführung des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums im Jahr 2017 beobachten konnte. Dem radikalisierten Flügel der Unabhängigkeitsbewegung geht das alles nicht weit genug. Längst wird hinterfragt, wie ernst es der SNP mit der Unabhängigkeit eigentlich ist.
Die Möglichkeit eines Zusammenbruchs des Vereinigten Königreichs entlang nationaler und regionaler Linien wird längst nicht mehr nur in Schottland diskutiert. Auch in Nordirland wachsen die Spannungen. Dafür sorgt einerseits die immer noch ungelöste irische Frage. Hinzu kommen politische Interventionen Londons und der Europäischen Union. Sinnbildlich dafür steht der jüngste Vorstoß der Europäischen Union, an der inner-irischen Grenze Kontrollen durchführen zu wollen, um den Transport von Impfstoffen nach Nordirland zu verhindern.
Hinzu kommt, dass seit der Ratifizierung des Handelsvertrages zwischen der EU und Großbritannien eine de facto Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland eingeführt wurde, auch wenn die britische Regierung diesen Fakt herunterspielt. Sowohl das unionistisch-loyalistische Lager als auch die nach Anschluss an den irischen Staat strebenden Republikaner kommen durch diese Entwicklungen in Bewegung.
Die nordirische Polizei ist jedenfalls alarmiert. Am 27. Januar sagte Mark McEwan, der stellvertretende Polizeichef Nordirlands, auf einer Pressekonferenz, es gebe in den unionistischen Bevölkerungsgruppen wachsende Unruhe in Bezug auf das zwischen EU und Großbritannien beschlossene Nordirlandprotokoll. Befände man sich nicht mitten in einer Pandemie, hätte es schon längst Straßenproteste gegeben. Auch so müsse man in der näheren Zukunft mit Protesten rechnen. Bereits jetzt gebe es eine Zunahme entsprechender Graffiti an Hauswänden sowie "Stimmungslagen" in den sozialen Medien.
Rückkoppelungseffekte möglich
Im republikanischen Lager werden jene Stimmen lauter, die nach einem so genannten "Border Poll", eine Volksbefragung über den Beitritt Nordirlands zur Republik Irland verlangen. Jüngste Umfragen ergaben eine Mehrheit von 51 Prozent für diese Forderung. Im von Großbritannien mitunterzeichneten Karfreitagsabkommen ist die Möglichkeit einer solchen Volksbefragung ausdrücklich gegeben, sollte eine Wahrscheinlichkeit für den Erfolg eines derartigen Referendums bestehen. Während die nach der Loslösung Nordirlands vom Vereinigten Königreich strebende Partei "Sinn Féin" immer stärker auf die Durchführung eines solchen Referendums pocht, stemmt sich die unionistische DUP dagegen. Keine der beiden Seiten wird nachgeben.
Sollten die Spannungen in Nordirland weiter ansteigen, wird das Rückkopplungseffekte auf Schottland sowie die irischen Communities in den englischen Großstädten haben. Vor allem in Schottland existieren Ableger loyalistischer und republikanischer Gruppierungen Nordirlands. Am Rande von Großkundgebungen in der Nacht des schottischen Unabhängigkeitsreferendums am 18. September 2014 machten loyalistische Gruppierungen mit Provokationen und Gewalt gegen Unabhängigkeitsbefürworter auf sich aufmerksam. Ähnliches ist auch in Zukunft denkbar.
Die Sorgen britischer unionistischer Politiker wachsen nicht nur aufgrund der Entwicklungen in Nordirland und Schottland. Auch in Wales nimmt die über lange Jahre befriedete und eingedämmte Unabhängigkeitsbewegung Fahrt auf. Mitte Januar vermeldete die Unabhängigkeitskampagne "Yes Cymru" ein rasantes Wachstum von 2000 Mitgliedern Anfang 2020 auf über 17.000 Mitglieder Anfang 2021. Neueste Umfragewerte ergeben eine stärkere Zustimmung für die Unabhängigkeit als jemals zuvor, vor allem unter Wählern der traditionell unionistisch ausgerichteten sozialdemokratischen Labour-Partei. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, steht selbst die Existenz eines gemeinsamen Rumpfkönigreichs aus Wales und England zur Debatte.