Bundeskanzler Schröder erklärt uns die Zukunft
Düsteres Deutschland - durch die rosa-grüne Brille gesehen
"Es ist jetzt nicht die Zeit, immer nur neue Forderungen zu stellen, ohne zu neuen Leistungen bereit zu sein. Wer nur seine Ansprüche pflegt, der hat noch nicht verstanden. Wer soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und neue Gerechtigkeit will, der wird Verständnis dafür aufbringen, dass man bei bestimmten staatlichen Leistungen auch einmal langsamer treten muss, dass auf das erreichte Leistungsniveau des Staates und der Sozialversicherungen nicht fortwährend draufgesattelt werden kann."
Meint Bundeskanzler Schröder, unbekümmert über das Double-bind von Wohlstand und Leistungsverzicht.
Von einer Regierung, die die Arbeitslosigkeit bisher nicht in den Griff bekommen hat, mag man solche Sätze eigentlich nicht mehr hören. Von einem Kanzler, der lange vor der Wiederwahl zur hochoriginellen Auffassung kam, dass die Faulheit im Lande ein Erzübel sei (Vom Menschenrecht auf Faulheit), mag man noch weniger hören, dass der immer enger werdende Gürtel nun noch ein wenig enger geschnallt werden soll. Lasst den Sozialstaat in Ruhe, der Moribunde hat schon genug mit sich selbst zu tun. Das ist die Leere des Kanzlers. Wie viel Zeit ist eigentlich noch bis zum Staatsbankrott?
Der Kanzler redet vom "Wählerauftrag" zur weiteren sozialen und ökologischen Erneuerung Deutschlands. Im gleichen Atemzuge nennt er aber die Gründe, warum die Regierung eigentlich wenig tun kann. Die Entwicklung der internationalen Finanz- und Aktienmärkte, die Zurückhaltung von Konsumenten und Investoren in allen großen Volkswirtschaften, eine anhaltende Unsicherheit auf den Rohstoff- und Energiemärkten durch die explosive Lage im Nahen und Mittleren Osten präsentieren eine hoffnungstrübe Weltwirtschaftslage. Alles das kann der Kanzler freilich nicht richten, so viel Richtlinienkompetenz ihm die Verfassung auch immer einräumen mag. Rezept Schröder:
"Deshalb kommt es umso mehr darauf an, im Inland die Kräfte für Wachstum und Erneuerung zu stärken."
Klingt gut, sagt aber gar nichts. Denn wenn doch jeder weiß, dass die nationalen Wirtschaften längst am Tropf des internationalen Wirtschaftschaos hängen, dürften die nationalen Selbstheilungskräfte nicht einmal als Placebo munden.
Dass Politiker ihre Reden später dementieren, ihre Wahlversprechen nicht mehr kennen oder, wie Frau Merkel nun behauptet, den Wähler betrügen, das alles ist nicht neu. Eine Regierungserklärung, die aber die globalen Hindernisse einer sozialen, humanen, gerechten Gesellschaft bezeichnet und im gleichen Atemzuge die Machbarkeit der hiesigen Verhältnisse beschwört, das ist relativ neu. Der Kanzler ergeht sich in einer Widersprüche nicht scheuenden Rhetorik, weil außer Rhetorik diesem Staat alles viel zu teuer wird. Schröders Regierungserklärung ist nicht enttäuschend, wie es einige Kritiker meinen. Es ist überhaupt keine Erklärung. Es ist vielmehr der durchsichtige Formelkompromiss zwischen einer sich anbahnenden Katastrophe, gemessen an den Prämissen eines sozial gerechten Staates, und dem Zwangsoptimismus, dass alles doch noch gut gehen könne, wenn nur der Bürger begreift.
Was soll der Bürger denn eigentlich begreifen? Dass er besser auf seinen Leistungsstaat, seine Arbeitslosen- wie Sozialhilfe und andere Standards des Sozialstaates verzichtet, weil anderenfalls Staatsverschuldung und lecke Rentenkassen ohnehin den Kollaps des gesamten Systems verursachen. Soll er begreifen, dass er mit der trügerischen Sicherheit eines hysterischen Antiterrorkampfes unter anderem den Preis eines siechen Leistungsstaates zahlen soll? Nach dem Bundeskanzler wissen die Bürger das:
"Sie wissen, dass der veränderte Altersaufbau unserer Bevölkerung und der Wandel im Erwerbsleben uns zu weit reichenden Veränderungen bei den Systemen der sozialen Sicherung zwingen: zu Sparsamkeit, höherer Effizienz und größerer Gerechtigkeit."
Wie kann der Bürger dies wissen, wenn doch die Regierung selbst nicht zu wissen scheint, wie Sparsamkeit und höhere Effizienz eine Zweckehe eingehen sollen. Richtig ist allein, dass die schön geredete Sparsamkeit, die ohnehin zuvörderst die trifft, die längst nichts mehr zu sparen haben, die Gerechtigkeit noch weiter demontieren dürfte.
"Aber sie haben sich ausdrücklich nicht dafür entschieden, den Sozialstaat abzuschaffen, wahllos Leistungen zu kürzen und die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zurückzudrehen."
Bundeskanzler Schröder hat Recht. Entschieden hat sich niemand dafür, dass der Sozialstaat im Schuldenloch versickert, aber von nun an entscheiden die Verhältnisse selbst darüber. Niemand hat sich dafür entschieden, die Rechte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmer zurückzudrehen. Wer aber dann wie Schröder von unpopulären Maßnahmen, neudeutsch: Flexibilität, redet, der will doch offensichtlich genau an dieser Stelle drehen.
"Sie haben der neuen Regierung keinen Auftrag erteilt, blindlings weitere Schulden zu machen oder die Interessen von Gruppen und Verbänden über das Gemeinwohl zu stellen. Wir wissen um den Wählerauftrag: Wir übernehmen Verantwortung für das Ganze."
Das Ganze? Ein großes Wort! Das Ganze, wenn es überhaupt politisch fassbar wäre, wäre doch die Weltwirtschaft. Doch dafür will und kann Schröder, der Kenner der "internationalen Verwerfungen" doch gerade keine Verantwortung übernehmen. Niemand kann Verantwortung für das Ganze übernehmen. Schon gar nicht eine Politik, der längst die Mittel fehlen, gesellschaftlichen Kräfte in wirksame Beugehaft zu nehmen, wenn es das Gemeinwohl erfordert.
Schröders selbstbewusstes "Primat der Politik" widerspricht seinen kommunitaristischen Appellen an die Gesellschaft ebenso wie der Schrumpfgröße des Politischen in Zeiten globaler Unordnung. Solidarität und Gemeinsinn sind in Jahren der Knappheit nicht weniger knapp als die privaten und öffentlichen Kassen selbst. Und wenn doch Schröder nach seinen eigenen Worten keinen Auftrag hat, weitere Schulden zu machen, warum macht er sie dann? Sollte auch dieser Teil der Regierungserklärung sich unbekümmert über Selbstwidersprüche hinwegsetzen, wenn es nur der Fiktion der Machbarkeit dient?
"Was die Menschen wollen und zu Recht erwarten, ist eine Politik, die den Mut zur politischen Gestaltung der Zukunft hat. Die die Kraft zur Veränderung hat. Diese Politik werden wir in den nächsten vier Jahren weiter entwickeln und umsetzen."
Auch "Mut" ist eine politische Kategorienverfehlung, generös betrachtet zumindest eine Selbsttäuschung des Kanzlers. Denn es geht nicht um den Mut der Politik, sondern um die aus dem Lot geratenen Verhältnisse, in die sich der Bürger hineinzufinden hat - ob der Bürger und sein Kanzler wollen oder nicht. Aber Schröder hat zugleich dekretiert, dass diese Kritik an den Verhältnissen ein Ende haben muss:
"Hören wir auf, immer nur zu fragen, was nicht geht. Fragen wir uns, was jede und jeder Einzelne von uns dazu beitragen kann, dass es geht!"
Dieser neoliberalistisch dröhnende Satz ist nicht bei Kennedy ausgeborgt, sondern nach aktuellerer Einschätzung wohl eher bei Guido Westerwelle. Klar, alle Deutschen - von der Rentnerin bis zur allein erziehenden Mutter - verwandeln sich in Ich-AG'ler, in freie Unternehmer mit dem Glauben an die gerecht verteilende Hand des Marktes und einer kräftigen Prise Gemeinsinn, allerdings immer nur so weit das Portefeuille reicht. Aber wenn doch die Initiative des Einzelnen die deutsche Boje im stürmischen Meer der Weltwirtschaft ist, wenn doch das ins Extrem getriebene Subsidiaritätsprinzip den Sozialstaat blank scheuert, wozu braucht es dann eigentlich noch Regierungen?
Frau Merkel meint: "Rot-Grün macht arm." Schröders populistisch unpopulistische Optimismus-Mannschaft sei "keine Regierung der Erneuerung", sondern "eine Regierung der Verteuerung". Die Zeiten stehen schlecht, wenn konservative Politiker beginnen, den Sozialstaat anzumahnen und Sozis "Flexibilität" beschwören. Noch etwas mehr "Flexibilität" und die Verhältnisse beginnen vollends zu rotieren. Kohl, der Kanzler der deutschen Einheit, Schröder, der Kanzler der neuen deutschen Armut?