China lernt schnell und radikal
Seite 2: China hat Marktwirtschaft, ist aber keine
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Der WTO-Beitritt Chinas war ja keineswegs ein Etikettenschwindel, wie man heute seinen Frust im Westen gerne sprachregelt: China hat Marktwirtschaft, und was für eine (!), aber ist als System keine Marktwirtschaft (was immer das auch sein sollte, kein Ökonom weiß ja den Begriff wirklich zu operationalisieren. Sind Oligopole etwa "effiziente Märkte"?).
Diese KP Chinas hat die Produktivkräfte mit ihren realen Märkten mehr entfesselt als jeder neoliberale Kapitalismus, einem simplen mathematischen Ideal von "Märkten" folgend, es je konnte, weil dessen deregulierte Märkte stets schneller zu oligopolistischen Machtstrukturen degenerierten als man gucken konnte. Dass China mit regulierten Märkten die jungen Entrepreneure gegen Konzerne schützt, wozu seine Banken verpflichtet sind, dass die Konzerne auch zur Infrastrukturentwicklung beitragen müssen, was ihre Renditen reduziert hält, dass mal eben Alibaba ("Amazon plus PayPal plus Google plus...") und seine Ant Group wettbewerblich und anti-monopolistisch neu aufgestellt werden, dass die Regierung sie und fast 40 weitere Top-Plattform-Unternehmen zwingt, ihre Plattformen wettbewerblich zu öffnen, die Vermarktungsverträge für KMU und die Kreditverträge für Haushalte wettbewerblich zu gestalten - all das hat China im Herbst 2020 und Frühjahr 2021 mal eben gezeigt. Hier aber war die alberne "Nachricht" wichtig: "Jack Ma ist verschwunden!" Dabei hatte der Alibaba-Gründer und Technologie-Unternehmer nur unter hohem Zeitdruck Hausaufgaben zu machen.
Wundert sich da noch jemand, dass das soziale Vertrauen - auch in die Regierung - und das Glücksgefühl der Chines:innen in den letzten Jahren auf internationale Spitzenniveaus geklettert sind - wohlgemerkt nach Harvard- und Ipsos-Studien, die solche internationalen Untersuchungen seit Jahrzehnten auch in China durchführen.
Und war es dieses Beispiel in China, dass es jetzt auch im Westen in Sachen IT-Monopole etwas ruckt? Aber noch hat der Westen nicht bewiesen, dass er diese Monopole regulieren und besteuern kann. Vielmehr erleben wir im Westen, projiziert auf die Lichtgestalt Biden, soeben ein Potpourri von Plänen, Absichten, Hoffnungen, Versprechen…
Das alles übrigens bedeutet in China bekanntlich nicht, dass man nicht sehr reich werden kann. Aber wer auf der chinesischen Forbes-Liste der Reichsten (der Hurun-Liste) steht, hat sich zu rechtfertigen, woher er seine Milliarden hat. Und der chinesische Gini-Koeffizient der Einkommens-(Un-)Gleichheit ist in den letzten Jahren bereits deutlich reduziert worden, runter von ungleichen 0,49 auf jetzt etwa 0,42 mit der Zielmarke von rund 0,32 - das wäre alter sozialdemokratischer skandinavischer Standard.
Mehr Freiheiten als im deregulierten Westen
Dass Unternehmen in den Märkten Chinas meist mehr Freiheiten haben als im deregulierten verbürokratisierten und finanzialisierten Oligarchenkapitalismus des Westens, bestätigen mehr oder weniger verschämt auch westliche Industrieverbände und Handelskammern. Dass die Märkte zwischen Freiheit, parallelem Lernen Aller (einschließlich der öffentlichen Agenturen), punktueller Standardisierung und erneutem freien "Letting-Go" viel dynamischer sind als im Westen, dass US-Unternehmen auf Befragung der US-Handelskammer in China zu fast 80 Prozent sagen, dass ihre Investitionsbedingungen sich verbessert haben, dass nach Trumpschen Zollorgien (die US-Verbraucher:innen zu zahlen hatte) nur drei Prozent der US-Unternehmen überhaupt erwägen, in die USA zurück zu verlagern, sollte zu einer Revolution in unserem Hingucken und Denken führen. Allzu viele "letzte Aufrufe" dieser Art wird es nicht mehr geben…
Die Behandlung des Investitionsabkommens CAI durch die neue Bundesregierung und die EU Ende dieses Jahres und Anfang 2022 wird ein Lackmustest dafür sein, ob und wie stark wir uns überschätzen und uns gegebenenfalls auch von der Weltgeschichte verabschieden wollen. Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser sagte schon vor längerer Zeit richtig: China kann ohne uns, wir aber nicht ohne China. Bleibt zu hoffen, dass die Wirtschaft in den kommenden harten Auseinandersetzungen auch Farbe bekennt. Denn die "Gürtel-enger-schnallen"-Hardliner, die jetzt von der Bevölkerung (natürlich nicht von sich selbst) "Opfer" verlangen, dafür, dass wir (uns von) China abkoppeln, trommeln bereits fleißig.
Nahezu dauerhaften Bedrohungen getrotzt
Die in 100 Jahren nationaler Emanzipation, nahezu dauerhafter existenzieller Bedrohungen, zahlreicher Rückschläge, in Bürgerkriegskämpfen, in zahllosen strategischen Diskussionen, etlichen schmerzhaften Lern- und Strategieanpassungen und mehrfachem "Sich-selbst-neu-Erfinden" gewachsene KP Chinas hat also nicht nur die europäischen, US-amerikanischen und japanischen Kolonialismen, Invasionen und Imperialismen sowie die Kuomintang-Soldateska überwunden. Sie hat nicht nur Hungersnöte, feindliche Interventionen, japanischen Rassismus, Faschismus und Vernichtungsamok sowie Isolations- und Sanktionsregimes des Westens (die CoCom-Liste gab es von Anfang an) überstanden.
Sie hat die Entwicklung Chinas in schwierigen Phasen auch mehrfach grundlegend angepasst und neu ausgerichtet und ein Land geschaffen, das seit Längerem völlig neue Wege geht, die die Menschheit so noch nie gegangen ist. Und das noch für viele überraschende Problemlösungen gut ist - für die, die sich trauen hinzusehen.
Einer solchen politischen Kraft darf man - und dürfen auch Kulturlinke - getrost zutrauen und zumuten, selbst definieren zu können, was für ihr Land der "richtige Weg zum Sozialismus" ist. Die KP Chinas scheint immer offen gewesen zu sein für Ratschläge, aber altkoloniales oder neoimperiales Besserwessitum, "Werte"-Absolutismus oder fake-basiertes Einmischen hat sie sicher nicht nötig. Seien es Einmischungen von den imperialen Zentren der "Five-Eyes", vom Kongress der Millionäre in Washington und seinem hochqualifizierten "Zeugen", dem extremistischen Evangelikalen A. Zenz, der nie in China war, dafür aber seine (leider auch noch falschen) Bilder aus Xinjiang von "Gott" persönlich erhält, oder auch durch Gutmenschen, die sich als links verstehen und beim dritten Rotwein am Samstagabend von Sozialismus schwärmen, aber am Montagmorgen keine Idee mehr davon haben, was das denn sein könnte.
Im frühen Stadium von etwas anderem als Kapitalismus
Wer sich Sozialist schimpft, muss sagen, was er meint und warum Chinas Weg nicht einer zu einem Sozialismus sein sollte, oder gar ein "Faschismus" sein soll, wie mir ein junger gefühlter Sozialist in einer Diskussion sagte. Ohne ein Partei- oder Sozialismusexperte zu sein, habe ich aus eigenem Erkenntnisinteresse eine längere pragmatische Liste von Kriterien zu Fakten, Prozessen und Erklärungsfaktoren veröffentlicht, die verdeutlicht, dass die KP Chinas ein Land baut, das in einem frühen Stadium von etwas ganz anderem als Kapitalismus ist - von etwas "mit chinesischen Charakteristika" bekanntlich.
Es handelt sich also nicht um ein chinesisches Exportprodukt, die ein kleineuropäischer Sozialist für sich zu übernehmen hätte, aber der hätte umgekehrt diesem Land seinen Weg zunächst mal gefälligst zuzugestehen. An der kleinen peripheren Halbinsel Eurasiens, genannt Europa, jedenfalls wird die Welt kein weiteres Mal genesen.