Chinas dunkles Kino: "Only the River flows"

Bild: © KXKH Films

Schmuggelware aus dem Reich der Mitte: Wei Shujun‘s doppelbödiger Film zeigt verbotene Wahrheiten und ungewöhnliche Bilder – Kino als Ort von Aufklärung und Erkennungsdienst.

Der Regen. Gleichmäßig und andauernd prasselt er in diesem Film vom grauen Himmel. Er verwandelt den Boden in Matsch, und die Kleidung in feuchtes, übelriechendes Tuch, er setzt nasse Schlieren in die Gesichter der Menschen und verwischt wichtige Spuren.

Er wird langsam unerträglich - und weil der Film auch am Ufer eines Flusses spielt, der oft genug in Nebelschwaden getaucht ist, meint man die permanente Feuchte in der Luft und auf Menschen wie Dingen regelrecht körperlich zu spüren.

Verwerfungen der Gegenwart

Gerade in autoritär regierten Ländern wie China ist das Genrekino oft die perfekte Verpackung, um unter der Maske unschuldiger Unterhaltung verbotene Waren und Botschaften aus dem Land zu schmuggeln; Verbotenes und Ausgegrenztes vor die Augen des Publikums zu bringen.

Überdies sind Genre-Geschichten aus Chinas noch zeitversetzt: Gerade die 1990er-Jahre, für China eine Ära des extremen Wandels aus Wirtschaftsboom, politischer Befreiung und kultureller Öffnung, sind Folie und Tarnkappe zugleich, um von den Verwerfungen der Gegenwart zu erzählen.

So auch in diesem Fall.

Acht Indizien suchen eine Lösung

Angesiedelt in einer kleineren Stadt an einem Fluss in Süd-China im Jahr 1995 dreht sich die Handlung um eine Serie mysteriöser Morde, die mit dem Fund der Leiche einer alten Frau beginnt. Die eigentliche Figur im Zentrum ist der ermittelnde Polizist. Detective Ma Zhe (ein exzellenter Zhu Yilong) soll den Killer jagen.

Only The River Flows (11 Bilder)

Bild: © KXKH Films

Anfangs hat Ma kaum Hinweise. Es gibt nur Indizien. Der Hauptverdächtige ist zunächst ein geistig behinderter junger Mann, den das Opfer adoptiert hatte, als es zur Witwe wurde, und den alle Nachbarn als eine Art harmlosen "Dorftrottel" ansahen. Ein leichtes Opfer von Gruppenhass. Es scheint ein einfacher Fall zu werden.

Doch dann geschehen weitere Morde, und Ma Zhe's Fokus muss sich nicht nur einmal verlagern.

Eine unterdrückte Gesellschaft

Bei den Ermittlungen tauchen mit der Zeit immer neue Zeugen auf, die am ersten Tatort, nahe dem Flussufer gewesen waren, aber die Behörden nicht informiert hatten. Die meisten von ihnen haben ihre guten Gründe, sich von den Vertretern des Gesetzes fernzuhalten: ein Paar, das eine geheime Beziehung führt, der Friseur, der bereits früher wegen "unanständigen Verhaltens" verhaftet wurde.

Die Untersuchungen enthüllen eine unterdrückte Gesellschaft, die sich durch das polizeiliche Eingreifen nicht befreit, sondern im Gegenteil, eingeengt fühlt. Jeder hat etwas zu verbergen.

Realismus und Überhöhung

Regisseur Wei Shujun ist Teil einer regelrechten neuen Welle des Autoren-Thrillers, die in den letzten Jahren aus China zu uns nach Europa kommt, wo die Filme zurzeit meistens beim Festival von Cannes gezeigt werden. Spielfilme, die stark beeinflusst sind vom dokumentarischen Realismus der "Sechsten Generation", von Regisseuren wie Jia Zhang-ke

Wei und der Co-Autor Chunlei Kang adaptierten ihr Drehbuch aus einem Roman von Yu Hua. Der anfängliche Tonfall ist trotz der gruseligen Morde eher leicht, im Einklang mit der Vorlage.

Ma Zhes Polizeikollegen bevorzugen es zu flirten oder Tischtennis zu spielen, anstatt wie echte Profis zu arbeiten, obwohl bereits die frühen Szenen voller sozialer Dramen sind. Wei interessiert sich für beides: Alltag und Überhöhung, Komik und Schwere.

Bild: © KXKH Films

Mit fortschreitenden Ermittlungen intensiviert sich aber die Besessenheit Ma Zhes mit dem Fall. Parallel dazu tritt sein Privatleben in den Fokus. Als sich herausstellt, dass sein ungeborenes Kind vermutlich geistig behindert sein wird, erwägen die Eltern die Möglichkeit einer Abtreibung – vor dem, Hintergrund des behinderten Verdächtigen und möglichen Mörders verwandelt sich dies in eine Debatte über den Wert des Lebens.

Kino als Metapher

Wei Shujun setzt vor allem auf präzis gewählte Schauplätze: So beschließt die Polizei, deren Räume gerade umgebaut werden, zu Beginn des Films, ihre Büros in ein altes Kino zu verlegen, das gerade geschlossen wurde, weil "die Leute keine Filme mehr sehen wollen".

Diese Kulisse ermöglicht eine doppelte Metapher: das Kino als Ort von Aufklärung und Erkennungsdienst, sowie als Beispiel für den Ausdehnungsdrang der Sicherheits- und Polizeikräfte. Vor allem aber bietet sie Möglichkeiten für ungewöhnliche Bilder.

Bei den Ermittlungen diskutieren die Beamten den Fall mehrmals vor einer alten Leinwand; ein andermal sucht die Hauptfigur Hinweise zwischen alten 35mm-Projektoren.

Der Regisseur bemüht sich, einen atmosphärischen Film mit einer sorgfältigen Darstellung Chinas zu verbinden, vor allem jenes ländlichen, klassisch-modernen Chinas, das, wie seine Kinos, ebenfalls auf dem Weg zum Verschwinden ist: Eine staatliche Fabrik, in der viele Figuren beschäftigt sind; alte Restaurants, denen man ihre Jahrzehnte ansieht; Tischtennis als Freizeitunterhaltung für die Polizisten; die halbverfallenen Häuser, die sich am Flussufer drängen ...

So bietet der Film aufregende Einblicke in die Verfasstheit des "Reich der Mitte" abseits der politischen Schlagzeilen: Die Mordermittlung treibt den Film voran. Der Clou des Ganzen liegt aber darin, dass die aus Perspektive des Ermittlers anfangs scheinbar klaren Fakten immer mehr zwischen seinen Händen zerrinnen.

Ma wird von dem Bösen verschlungen, gegen das er vorgehen wollte. Alles scheint möglich; die Wahrheit aber scheint ungreifbar. Solche Unsicherheiten sind im China von heute schon hochpolitisch.