Chomsky: Warum China, nicht Russland die US-dominierte Weltordnung bedroht

US-Flottenverbände patroullieren regelmäßig im Südchinesischen Meer. Dazu kommen zahlreiche Militärbasen der USA wie die auf der vor der chinesischen Küste gelegenen japanischen Insel Okinawa. Die USA wollen China "einkreisen". Bild: U.S. Navy, Jason Tarleton / CC BY-NC 2.0

Eine neue Weltordnung nimmt Gestalt an, aber die Konfrontation zwischen den USA und Russland ist nicht ihr zentrales Element, sagt Chomsky. Die "chinesische Bedrohung" steht im Mittelpunkt der US-Strategie. Wird Russland Juniorpartner Chinas?

Noam Chomsky analysiert die neue und höchst gefährliche globale Ordnung, die sich herausbildet. Vielleicht zur Überraschung vieler, vor allem in Anbetracht des andauernden Krieges in der Ukraine, beschreibt er nicht die Konfrontation zwischen den USA und Russland als zentrales Element der neuen, im Entstehen begriffenen Weltordnung.

Chomsky ist Institutsprofessor, Professor für Linguistik am MIT und derzeit Professor an der Universität von Arizona. Er hat rund 150 Bücher in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und internationale Angelegenheiten veröffentlicht.

Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou.

Der erste Teil des Interviews zum Ukraine-Krieg und einer friedlichen Lösung des Konflikts ist gestern auf Telepolis erschienen. Das Interview erschien zuerst auf der Nachrichtenseite Truthout. Übersetzung: David Goeßmann.

Wenn der Krieg in der Ukraine auf diplomatischem Wege beendet werden kann, könnte ein Friedensabkommen viele Formen annehmen. Die von vielen Experten vorgeschlagene diplomatische Lösung basiert auf einem ukrainischen Neutralitätsvertrag, während Russland seine Einwände gegen die Mitgliedschaft der Ukraine in der EU fallen lässt, auch wenn der Weg dorthin unweigerlich sehr lang sein wird. Es gibt jedoch ein Szenario, das nur selten diskutiert wird, obwohl es die Richtung vorgeben könnte. Dabei handelt es sich um das "koreanische Szenario" von Graham Allison, bei dem die Ukraine ohne einen formellen Vertrag in zwei Teile geteilt wird. Halten Sie dies für ein wahrscheinliches oder mögliches Szenario?

Noam Chomsky: Es ist eines von mehreren möglichen, sehr hässlichen Szenarien. Spekulationen erscheinen mir eher müßig. Ich denke, es ist besser, unsere Energie darauf zu verwenden, konstruktive Wege zur Überwindung der sich abzeichnenden Tragödien zu finden – die wiederum weit über die Ukraine hinausgehen.

Wir könnten uns sogar einen breiteren Rahmen vorstellen, so etwas wie das "gemeinsame europäische Haus" ohne Militärbündnisse, das Michail Gorbatschow nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als geeigneten Rahmen für die Weltordnung vorgeschlagen hat. Oder wir könnten einige der frühen Formulierungen der Partnerschaft für den Frieden aufgreifen, die in denselben Jahren von Washington initiiert wurde, als Präsident Bill Clinton 1994 Boris Jelzin versicherte, dass "das umfassendere, höhere Ziel [die] europäische Sicherheit, Einheit und Integration [ist] – ein Ziel, von dem ich weiß, dass Sie es teilen".

Diese vielversprechenden Aussichten auf eine friedliche Integration wurden jedoch bald durch Clintons Pläne für eine Nato-Erweiterung zunichte gemacht, die gegen den entschiedenen Widerstand Russlands lange vor Putin beschlossen wurde.

Diese Hoffnungen können wiederbelebt werden, zum großen Nutzen Europas, Russlands und des Weltfriedens im Allgemeinen. Sie hätten von Putin wiederbelebt werden können, wenn er Emmanuel Macrons zaghafte Initiativen zur Annäherung verfolgt hätte, anstatt sich törichterweise für eine kriminelle Aggression zu entscheiden. Aber sie sind nicht unbedingt tot.

Es ist nützlich, sich ein wenig an die Geschichte zu erinnern. Jahrhunderte lang war Europa der brutalste Ort der Welt. Für Franzosen und Deutsche bestand das höchste Ziel im Leben darin, sich gegenseitig abzuschlachten. Noch in meiner Kindheit schien es unvorstellbar, dass dies jemals ein Ende haben könnte. Wenige Jahre später war es soweit, und seitdem sind sie enge Verbündete, die in einer radikalen Umkehrung einer langen Geschichte brutaler Konflikte gemeinsame Ziele verfolgen. Diplomatische Erfolge müssen nicht unmöglich zu erreichen sein.

Konfrontation mit Russland nur Nebenschauplatz neu entstehender Weltordnung

Es ist heute ein Gemeinplatz, dass die Welt in einen neuen Kalten Krieg eingetreten ist. Sogar das einst undenkbare Szenario, Atomwaffen im Krieg einzusetzen, ist kein Tabuthema mehr. Sind wir in eine Ära der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen eingetreten, in eine geostrategische und politische Rivalität, die an den Kalten Krieg erinnert?

Noam Chomsky: Es wäre besser, wenn atomare Kriegsführung zum Tabuthema und zur undenkbaren Politik erklärt würde. Wir sollten mit allen Mitteln daran arbeiten, das Rüstungskontrollregime wiederherzustellen, das von Bush II und Trump, der nicht genug Zeit hatte, um die Arbeit zu vollenden, aber nahe dran war, praktisch demontiert wurde. Biden gelang es, das letzte große Relikt, New Start, nur wenige Tage vor seinem Auslaufen zu retten.

Das Rüstungskontrollregime sollte zudem erweitert werden, bis zu dem Tag, an dem die Atommächte dem in Kraft getretenen UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen beitreten.

Es könnten weitere Maßnahmen ergriffen werden, um die Bedrohung zu verringern, darunter die Einrichtung atomwaffenfreier Zonen (NWFZ). Sie existieren in vielen Teilen der Welt, werden aber durch das Beharren der USA auf der Beibehaltung von Kernwaffenanlagen in diesen Zonen blockiert. Die wichtigste wäre eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten. Das würde die angebliche nukleare Bedrohung durch den Iran beenden und jeden fadenscheinigen Vorwand für die kriminellen US-israelischen Bombenangriffe, Attentate und Sabotageakte im Iran beseitigen. Dieser entscheidende Fortschritt für den Weltfrieden wird jedoch einzig von den USA blockiert.

Der Grund dafür ist keineswegs ein Geheimnis: Es würde Washingtons schützende Hand über Israels riesigem Atomwaffenarsenal offenbaren. Das darf aber nicht geschehen. Würde es aufgedeckt, käme US-Recht ins Spiel, was wiederum Washingtons beispiellose Unterstützung für Israels illegale Besatzung und ständige Verbrechen gefährden könnte – ein weiteres Thema, über das aus Höflichkeitsgründen nicht gesprochen werden darf.

Es sollten alle möglichen Schritte unternommen werden, um die Geißel der Atomwaffen von der Erde zu bannen, bevor sie uns alle vernichtet.

In dem sich herausbildenden Weltsystem ist die Konfrontation mit Russland jedoch so etwas wie ein Nebenschauplatz. Putin hat Washington ein wunderbares Geschenk gemacht, indem er Europa praktisch zu einem Vasallen der USA gemacht und damit die Aussichten auf eine unabhängige "dritte Kraft" in internationalen Angelegenheiten zunichte gemacht hat.

Eine Folge davon ist, dass die dahin siechende russische Kleptokratie mit ihren riesigen Rohstoffvorkommen in die von China dominierte Zone integriert wird. Dieses wachsende Entwicklungsbanken- und Kreditsystem erstreckt sich über Zentralasien und reicht über die Vereinigten Arabischen Emirate und die maritime Seidenstraße bis in den Nahen Osten, mit Tentakeln, die sich bis nach Afrika und sogar in Washingtons "kleine Region hier drüben" erstrecken, wie der Kriegsminister von US-Präsident F. D. Roosevelt, Henry Stimson, Lateinamerika einmal beschrieb, während er die Auflösung aller regionalen Zusammenschlüsse mit Ausnahme der USA forderte.

Die chinesische Bedrohung im Mittelpunkt der US-Strategie

Noam Chomsky: Die "chinesische Bedrohung" steht im Mittelpunkt der US-Strategie. Die Bedrohung wird noch verstärkt, wenn das ressourcenreiche Russland als Juniorpartner einbezogen wird.

Die USA reagieren nun energisch auf das, was sie als "chinesische Aggression" bezeichnen, z. B. die Verwendung staatlicher Ressourcen für die Entwicklung von Spitzentechnologie und interne Repression. Die von Trump eingeleitete Strategie wird durch Bidens Politik der "Einkreisung" fortgesetzt, die auf einem Ring von "Wächter-Staaten" vor der chinesischen Küste basiert.

Diese sind mit fortschrittlichen Waffen ausgestattet, die vor kurzem zu Hochpräzisionswaffen aufgerüstet wurden und auf China gerichtet sind. Unterstützt wird diese "Verteidigung" durch eine Flotte unverwundbarer Atom-U-Boote, die nicht nur China, sondern die ganze Welt vernichten können. Da die scheinbar immer noch nicht gut genug sind, werden sie nun im Rahmen der beispiellosen Trump-Biden-Militärexpansion durch bessere ersetzt.

Die heftige Reaktion der USA ist verständlich. "China ist im Gegensatz zu Russland das einzige Land, das mächtig genug ist, um die Dominanz der USA auf der Weltbühne herauszufordern", erklärte Außenminister Antony Blinken bei der Beschreibung dieser unerträglichen Bedrohung der Weltordnung (im Klartext: der Dominanz der USA).

Während wir davon sprechen, Russland zu "isolieren", wenn nicht gleich die "dämonische" Gesellschaft zu "strangulieren", hält der größte Teil der Welt seine Beziehungen zu Russland und zum von China dominierten globalen System aufrecht. Die Länder schauen auch verwundert zu, wie die USA sich selbst von innen zerstören.

In der Zwischenzeit bauen die USA neue Allianzen auf, die sich vermutlich im November noch verstärken werden, wenn die republikanische Führung den Kongress übernimmt und es ihr gelingt, durch ihre ganz unverhohlenen Bemühungen, die politische Demokratie zu untergraben, langfristig die Kontrolle über das politische System zu gewinnen.

Eine dieser Allianzen wird gerade mit der rassistischen, selbst ernannten "illiberalen Demokratie" Ungarns gefestigt, die die Meinungsfreiheit und unabhängige kulturelle und politische Institutionen unterdrückt hat und von führenden Vertretern der Republikaner von Trump bis zum Medienstar Tucker Carlson verehrt wird.

Schritte in diese Richtung wurden vor einigen Tagen auf der Konferenz der Rechtsextremen in Europa unternommen, die in Budapest stattfand und deren Hauptattraktion die Conservative Political Action Conference war, ein Kernelement der Republikanischen Partei.

Das Bündnis zwischen den USA und der europäischen extremen Rechten hat einen natürlichen Verbündeten in der von Trump und Jared Kushner geschmiedeten Abraham-Allianz. Dieses vielbeachtete Bündnis institutionalisiert die untergründigen Beziehungen zwischen Israel und den reaktionärsten Staaten der MENA-Region (Nahost-Nordafrika).

Israel und Ungarn unterhalten bereits enge Beziehungen, die auf gemeinsamen rassistischen Werten und einem Gefühl der Kränkung darüber beruhen, dass sie von liberaleren Elementen in Europa gemieden werden. Ein weiterer natürlicher Partner ist das heutige Indien, wo Premierminister Narendra Modi die säkulare indische Demokratie zerschlägt und eine hinduistische Ethnokratie errichtet, die muslimische Bevölkerung erbittert unterdrückt und mit der brutalen Besetzung von Kaschmir Indiens Machtbereich ausweitet.

Die USA stehen mit der Anerkennung der beiden bestehenden illegalen Besetzungen in Nordafrika und im Nahen Osten, die gegen die Anordnungen des Sicherheitsrats verstoßen, bereits faktisch allein da: Israels Annexion der syrischen Golanhöhen und des stark erweiterten Groß-Jerusalem sowie Marokkos Annexion der Westsahara, um ihr fast Monopol auf die nicht substituierbaren Phosphatreserven zu erweitern. Mit der republikanischen Partei an der Macht könnten die USA das Bild vervollständigen, indem sie die gewaltsame Übernahme von Kaschmir durch das hinduistische Indien anerkennen.

Eine neue Weltordnung nimmt Gestalt an, aber die Konfrontation zwischen den USA und Russland ist nicht ihr zentrales Element.

Konfrontation mit Russland: Hinweis auf Sicherheitsbedenken ist kein Handlanger-Dienst

Apropos neuer Kalter Krieg: Ich muss sagen, dass ich völlig fassungslos bin über die Reaktion so vieler Menschen in den USA auf Analysen, die versuchen, die Hintergründe des russischen Einmarsches in der Ukraine zu erklären, und das Gleiche gilt für Stimmen, die zur Beendigung des Krieges auf diplomatischem Wege aufrufen. Sie verwechseln Erklärung und Rechtfertigung und ignorieren vorsätzlich historische Fakten, wie die Entscheidung der USA, die Nato nach Osten zu erweitern, ohne Rücksicht auf die Sicherheitsbedenken Russlands. Und es ist nicht so, dass diese Entscheidung seinerzeit von führenden Diplomaten und Außenpolitikern begrüßt wurde. Der ehemalige US-Gesandte in der Sowjetunion Jack F. Matlock Jr. und der ehemalige Außenminister Henry Kissinger warnten vor der Nato-Erweiterung und der Inklusion der Ukraine. George Kennans Reaktion auf die Ratifizierung der Nato-Osterweiterung durch den Senat im Jahr 1998, die bis an die Grenzen Russlands heranreichte, war sogar noch unverblümter: "Ich glaube, das ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges (...) Ich denke, die Russen werden allmählich ziemlich ablehnend reagieren (...) Ich denke, es ist ein tragischer Fehler. Es gab keinen Grund für diese (...) Natürlich wird es eine schädliche Reaktion aus Russland geben, und dann werden [die Nato-Erweiterer] sagen, wir haben euch immer gesagt, dass die Russen so sind – aber das ist einfach falsch." Sind diese hochrangigen US-Diplomaten russische Handlanger, wie es heute oft von jedem behauptet wird, der Hintergrundinformationen darüber liefert, warum Russland in die Ukraine einmarschiert ist?

Noam Chomsky: Man kann weitere Personen hinzufügen, die Washington eindringlich davor gewarnt haben, dass es leichtsinnig und unnötig provokativ sei, Russlands angekündigte Sicherheitsbedenken zu ignorieren, darunter der derzeitige CIA-Direktor William Burns und sein Vorgänger Stansfield Turner, sogar Falken wie Paul Nitze, eigentlich fast das gesamte diplomatische Korps, das sich mit Russland auskennt.

Diese Warnungen waren besonders nachdrücklich im Hinblick auf die Bedenken Russlands – lange vor Putin und geäußert von allen russischen Präsidenten – hinsichtlich der Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die Nato. Es sind Russlands geostrategische Kerngebiete, wie ein Blick auf eine topographische Karte und die jüngste Geschichte, das Unternehmen Barbarossa (Invasion der Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion vor allem über die Ukraine, Telepolis), zeigt.

Sind das alles russische Handlanger? Ich nehme an, dass man das in dem heutigen Klima der blinden Irrationalität behaupten kann – eine Gefahr für uns und die Welt.

Es ist sinnvoll, einen Blick auf Phasen der Geschichte zu werfen, die weit genug zurückliegen, um sie mit einem gewissen Abstand betrachten zu können. Eine nahliegende Wahl ist, wie bereits erwähnt, der Erste Weltkrieg. Heute ist man sich darüber im Klaren, dass es sich um einen schrecklichen Krieg der Sinnlosigkeit und Dummheit handelte, in dem keiner der Beteiligten einen vertretbaren Standpunkt hatte.

Heute sieht man das so. Damals nicht. Als die Großmächte damals in den Krieg stolperten, verkündeten die intellektuelle Klasse in ihren Ländern die ehrenwerten Ziele des eigenen Staates. Ein berühmtes Manifest prominenter deutscher Intellektueller appellierte an den Westen, das Land von Kant, Goethe, Beethoven und anderen führenden Persönlichkeiten der Zivilisation zu unterstützen.

Ihre Kollegen in Frankreich und Großbritannien taten dasselbe, ebenso wie die bedeutendsten amerikanischen Intellektuellen, als US-Präsident Woodrow Wilson in den Krieg eintrat, kurz nachdem er die Wahlen von 1916 auf der Grundlage eines Programms für "Frieden ohne Sieg" gewonnen hatte.

Nicht alle feierten die Größe ihres Staates. In England wagte es Bertrand Russell, die Parteilinie zu hinterfragen; in Deutschland schlossen sich ihm Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an; in den USA Eugene Debs. Alle wurden inhaftiert. Einige, wie Randolph Bourne in den USA, entgingen diesem Schicksal. Bourne wurde lediglich aus allen liberalen Zeitschriften verbannt.

Dieses Muster stellt keine Abweichung von der historischen Norm dar. Es ist bedauerlicherweise so ziemlich die Norm.

Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs stellten wichtige Lehren bereit. Das Potential wurde schnell erkannt. Zwei sehr einflussreiche Intellektuelle damals waren Walter Lippmann und Edward Bernays.

Lippmann wurde zu einem der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts in den USA. Bernays ist Begründer und intellektueller Kopf der riesigen Public-Relations-Industrie, der größten Propaganda-Agentur der Welt, die sich der Untergrabung der Märkte widmet, indem sie uninformierte Verbraucher schafft, die irrationale Entscheidungen treffen, und einen ungezügelten Konsumismus fördert, der neben der fossilen Brennstoffindustrie eine Bedrohung für das Überleben darstellt.

Lippmann und Bernays waren Wilson-Roosevelt-Kennedy-Liberale. Sie waren auch Mitglieder der Propaganda-Agentur, die Präsident Wilson eingerichtet hatte, um die pazifistische US-Bevölkerung zu wütenden antideutschen Fanatikern zu bekehren: das Creel Committee on Public Information, ein passender Titel im Sinne Orwells.

Beide waren sehr beeindruckt vom Erfolg der Agentur bei der "Herstellung von Zustimmung" (Lippmann), der "technischen Fabrikation von Zustimmung" (Bernays). Sie erkannten darin eine "neue Kunst demokratischer Praxis", ein Mittel, um sicherzustellen, dass die "verwirrte Herde" – die allgemeine Bevölkerung – als bloße "Zuschauer" in ihre Schranken gewiesen werden kann und sich nicht in Bereiche einmischt, in die sie nicht gehört: den Bereich politischer Entscheidungen. Dieser müsse der "intelligenten Minderheit" vorbehalten sein, "den technokratischen und politikorientierten Intellektuellen".

Das ist so ziemlich die herrschende liberale Demokratietheorie, die von Lippmann und Bernays entworfen wurde. Die Konzepte sind keineswegs neu. Sie gehen zurück auf die frühen demokratischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts in England und ihrer damaligen US-Kolonie. Sie wurden durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gestärkt.

Aber während die Massen mit "notwendigen Illusionen" und "emotional starken Vereinfachungen" (in den Worten von Reinhold Niebuhr, der als "Theologe des liberalen Establishments" verehrt wird) kontrolliert werden können, gibt es ein anderes Problem: die "wertorientierten Intellektuellen", die es wagen, Fragen zur US-Politik zu stellen, die über taktische Entscheidungen hinausgehen. Sie können nicht mehr wie während des Ersten Weltkriegs inhaftiert werden, so dass die Machthaber nun versuchen, sie auf andere Weise aus der Öffentlichkeit zu vertreiben.

Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

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