Chomsky: Wir müssen insistieren, dass ein Atomkrieg eine undenkbare Politik ist
Es müssen friedliche Wege der Konfliktlösung im Ukrainekrieg gesucht werden. Doch die USA setzen auf militärischen Sieg. Europa macht mit. Ein gefährliches Spiel mit dem Atomkriegsfeuer, sagt Noam Chomsky (Teil 1)
Der Krieg in der Ukraine geht nun schon in den vierten Monat, aber eine Waffenruhe oder eine Lösung ist nicht in Sicht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat einen Waffenstillstand oder Zugeständnisse ausgeschlossen, behauptet aber, dass nur Diplomatie den Krieg beenden kann.
In der Zwischenzeit versuchen die russischen Streitkräfte, die Ostukraine zu erobern, während die Vereinigten Staaten die Regierung Selenskyj so lange militärisch unterstützen, wie es nötig ist, um Russland zu schwächen, in der Hoffnung, dass es zu einem Regimewechsel in Moskau kommt.
Diese Entwicklungen verheißen nichts Gutes, weder für die Ukraine noch für die Welt insgesamt, meint Noam Chomsky. In diesem neuen und exklusiven Interview fordert Chomsky die Kräfte, die in der Lage sind, den Krieg zu beenden, auf, ihre Energie darauf zu verwenden, konstruktive Wege zu finden, um den sich entfaltenden Tragödien Einhalt zu gebieten.
Chomsky ist Institutsprofessor, Professor für Linguistik am MIT und derzeit Professor an der Universität von Arizona. Er hat rund 150 Bücher in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und internationale Angelegenheiten veröffentlicht.
Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou.
Der zweite Teil des Interviews erscheint in wenigen Tagen. Darin geht Chomsky auf die neue und extrem gefährliche globale Ordnung ein. Das Interview erschien zuerst auf der Nachrichtenseite Truthout.
Nach monatelangen Kämpfen gibt es immer noch wenig Hoffnung auf Frieden in der Ukraine. Russland konzentriert seine Bemühungen nun darauf, die Kontrolle über den Osten und den Süden des Landes zu übernehmen, um sie wahrscheinlich in die Russische Föderation einzugliedern, während der Westen signalisiert hat, dass er die militärische Unterstützung für die Ukraine verstärken wird. Angesichts dieser Entwicklungen haben ukrainische Beamte einen Waffenstillstand oder Zugeständnisse an Moskau ausgeschlossen, obwohl Präsident Wolodymyr Selenskyj ebenfalls zu Protokoll gab, dass nur die Diplomatie den Krieg beenden kann. Heben sich diese beiden Positionen nicht gegenseitig auf? Beinhaltet ein für beide Seiten akzeptables Abkommen zur Beendigung eines Krieges nicht immer auch Zugeständnisse? Bereits im März hatte die ukrainische Regierung signalisiert, dass sie zu großen Zugeständnissen bereit sei, um den Krieg zu beenden. Was also ist hier los? Könnte es sein, dass keine der beiden Seiten wirklich an einem Frieden interessiert ist?
Noam Chomsky: Ich werde auf die Fragen zurückkommen, aber wir sollten uns genau überlegen, was auf dem Spiel steht. Der Preis dafür ist sehr hoch. Er geht weit über die Ukraine hinaus, so verzweifelt und tragisch die Situation dort auch ist. Jeder, der auch nur einen Funken Moral in sich trägt, wird die Fragen sorgfältig durchdenken wollen, ohne heldenhaftes Getue.
Lassen Sie uns überlegen, was auf dem Spiel steht.
An erster Stelle steht natürlich Putins Einmarsch in die Ukraine, ein Verbrechen (um es noch einmal zu wiederholen), das mit dem Einmarsch der USA in den Irak oder dem Einmarsch Hitlers und Stalins in Polen verglichen werden kann. Eine Art von Verbrechen gegen den Frieden, für die Nazi-Kriegsverbrecher gehängt wurden – obwohl in dem, was wir "Zivilisation" nennen, nur die Besiegten bestraft werden. In der Ukraine selbst wird es einen schrecklichen Tribut geben, solange der Krieg andauert.
Die Folgen sind weitreichend und wirklich erschreckend. Das ist keine Übertreibung.
Eine davon ist, dass zig Millionen Menschen in Asien, Afrika und dem Nahen Osten buchstäblich vor dem Verhungern stehen, während der Krieg weitergeht und die dringend benötigten landwirtschaftlichen Lieferungen aus der Schwarzmeerregion versiegen.
Diese Region bildet den Hauptlieferanten für viele Länder, einschließlich einiger, die bereits vor einer völligen Katastrophe stehen, wie Jemen. Wir werden darauf zurückkommen, wie das gehandhabt wird.
Die wachsende Bedrohung durch einen finalen Atomkrieg
Ein zweiter Punkt ist die wachsende Bedrohung durch einen finalen Atomkrieg. Es ist nur allzu leicht, plausible Szenarien zu entwerfen, die zu einem schnellen Aufstieg auf der Eskalationsleiter führen. Um ein Beispiel zu nennen: Die USA schicken gerade moderne Anti-Schiff-Raketen in die Ukraine. Das Flaggschiff der russischen Flotte ist bereits versenkt worden. Nehmen wir an, ein größerer Teil der Flotte wird angegriffen. Wie wird Russland dann reagieren? Und was folgt dann?
Noch ein weiteres Szenario: Bisher hat Russland davon abgesehen, die Versorgungslinien anzugreifen, über die schwere Rüstungsgüter in die Ukraine geliefert werden. Nehmen wir an, die Regierung tut dies und gerät damit in eine direkte Konfrontation mit der Nato – also den USA.
Es kursieren noch andere Vorschläge, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Atomkrieg führen würden – was für uns alle das Ende bedeutet. Aber dem wird nicht wirklich Beachtung geschenkt.
Einer der Vorschläge beinhaltet die weit verbreitete Forderung nach einer Flugverbotszone, was bedeuten würde, dass Flugabwehranlagen innerhalb Russlands angegriffen werden sollen. Das extreme Risiko derartiger Vorschläge wird von einigen erkannt, vor allem vom Pentagon, das bisher in der Lage gewesen ist, gegen die gefährlichsten von ihnen ein Veto einzulegen. Wie lange wird das noch der Fall sein vor dem Hintergrund der herrschenden Stimmung?
Das sind erschreckende Aussichten. Aussichten auf das, was passieren könnte. Wenn wir uns ansehen, was tatsächlich geschieht, wird es noch schlimmer. Die Invasion in der Ukraine hat die viel zu begrenzten Bemühungen zur Bekämpfung der globalen Erwärmung – die bald zu einem globalen Verheizen wird – zunichte gemacht. Vor der Invasion wurden einige Schritte unternommen, um die Katastrophe abzuwenden. Jetzt ist das alles ins Gegenteil verkehrt worden. Wenn das so weitergeht, sind wir erledigt.
Da gibt der Weltklimarat IPCC die nächste eindringliche Warnung heraus, dass wir, wenn wir überleben wollen, jetzt sofort damit beginnen müssen, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu reduzieren. Jetzt sofort, ohne Aufschub.
Am nächsten Tag kündigt Präsident Joe Biden eine neue Ausweitung der Produktion fossiler Brennstoffe enormen Ausmaßes an. Bidens Aufforderung, die Produktion fossiler Brennstoffe zu erhöhen, ist reines politisches Theater. Sie hat nichts mit den heutigen Kraftstoffpreisen und der Inflation zu tun, wie behauptet wird.
Denn es wird Jahre dauern, bis die fossilen Gifte auf den Markt kommen – Jahre, die genutzt werden könnten, die Welt schnell auf erneuerbare Energien umzustellen. Das ist durchaus machbar, wird aber im Mainstream kaum diskutiert.
Man muss das nicht im Einzelnen kommentieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Pollin hat das Thema kürzlich in einem weiteren seiner so wichtigen Beiträge analysiert, wie dringlich diese überlebenswichtigen Frage ist und was, aus fachlicher Sicht, getan werden muss.
Es ist völlig klar, dass die Befriedung der Ukrainekrise von außerordentlicher Bedeutung ist, nicht nur für die Ukraine selbst, sondern auch in Hinsicht auf die katastrophalen Folgen, die sich ergeben, wenn der Krieg weitergeht.
Was können wir also tun, um die Beendigung der Tragödie zu befördern? Beginnen wir mit einer Beinahe-Binsenweisheit. Der Krieg kann auf eine von zwei Arten enden: Entweder es kommt zu einer diplomatischen Einigung, oder eine Seite kapituliert. Der Horror wird weitergehen, wenn er nicht mit einer diplomatischen Lösung oder einer Kapitulation endet.
Zumindest das sollte allgemein geteilt werden.
Eine diplomatische Einigung unterscheidet sich von einer Kapitulation in einem entscheidenden Punkt: Jede Seite akzeptiert sie als tolerierbar. Das ist per definitionem richtig, braucht also keiner weiteren Diskussion.
Eine diplomatische Einigung muss Putin eine Art Fluchtmöglichkeit bieten – was von denjenigen, die den Krieg lieber verlängern wollen, verächtlich als "Ausweg" oder "Appeasement", also "Beschwichtigung" bezeichnet wird.
Diese Logiken sind selbst den größten Russlandhassern klar, zumindest jenen, die Ideen, die über die Bestrafung des geschmähten Feindes hinausgehen, nicht ganz eliminiert haben.
Ein prominentes Beispiel dafür ist der angesehene Außenpolitikwissenschaftler Graham Allison von der Kennedy School of Government der Harvard University, der auch über langjährige direkte Erfahrung in militärischen Angelegenheiten verfügt. Vor fünf Jahren teilte er uns mit, dass feststehe, dass Russland als Ganzes eine "dämonische" Gesellschaft ist und "es verdient, stranguliert zu werden".
Heute fügt er hinzu, dass kaum jemand daran zweifeln kann, dass Putin ein "Dämon" ist, der sich radikal von allen US-Präsidenten unterscheidet, die seiner Meinung nach im schlimmsten Fall Fehler begangen haben.
Doch selbst Allison argumentiert, dass wir unseren gerechten Zorn zügeln und den Krieg mit diplomatischen Mitteln möglichst schnell beenden müssen. Denn wenn der verrückte Dämon
gezwungen ist, zwischen einer Niederlage und einer Eskalation von Gewalt und Zerstörung zu wählen, dann wird er sich, wenn er ein rationaler Akteur ist, für Letzteres entscheiden
– und wir könnten alle tot sein, nicht nur die Ukrainer.
Putin ist ein rationaler Akteur, argumentiert Allison. Und wenn er das nicht ist, ist jede Diskussion sinnlos, denn er kann dann jederzeit die Ukraine zerstören und vielleicht sogar die Welt in die Luft jagen – eine Eventualität, die wir mit keinem Mittel, das uns nicht gleichzeitig mit vernichtet, verhindern könnten.
Zynismus: Mal schauen, ob Putin sich leise davonschleichen wird
Sich einer diplomatischen Lösung zu widersetzen oder gar darauf hinzuwirken, sie zu verzögern, bedeutet, zur Verlängerung des Krieges mit seinen düsteren Folgen für die Ukraine und darüber hinaus aufzurufen.
Diese Haltung enthält ein schreckliches Experiment: Mal sehen, ob Putin sich in seiner totalen Niederlage still und leise davonschleichen wird, oder ob er den Krieg mit all seinen Schrecken verlängern oder sogar die Waffen einsetzen wird, über die er zweifellos verfügt, um die Ukraine zu verwüsten und die Bühne zu bereiten für einen endzeitlichen Atomkrieg.
All das scheint offensichtlich zu sein, sollte es zumindest. Aber das ist es nicht im gegenwärtigen Klima der Hysterie, in dem diese Beinahe-Binsenweisheiten eine Flut völlig irrationaler Reaktionen hervorrufen: Das Monster Putin wird nicht zustimmen, das ist Appeasement, was ist mit München (Münchner Abkommen von 1938, womit Nazi-Deutschland befriedet werden sollte, Telepolis), wir müssen unsere eigenen roten Linien festlegen und uns daran halten, egal, was das Monster sagt, usw.
Derartige Äußerungen sollte man nicht noch mit einer Antwort aufwerten. Sie laufen alle darauf hinaus zu sagen: Lasst uns erst gar nicht versuchen, den Konflikt zu deeskalieren. Lasst uns stattdessen das grausame Experiment wagen.
Das Experiment ist operative US-Politik und wird von einem breiten Meinungsspektrum unterstützt, immer von der heldenhaften Rhetorik begleitet, dass wir für Prinzipien eintreten müssen und nicht zulassen dürfen, dass Verbrechen ungestraft bleiben.
Wenn wir so etwas von überzeugten Befürwortern von US-Verbrechen hören, was häufig der Fall ist, können wir es als reinen Zynismus abtun. Es ist das westliche Gegenstück zu den Apparatschiks der Sowjetzeit, die wortgewandt die westlichen Verbrechen anprangerten und die ihrer eigenen Regierung inbrünstig unterstützten.
Irrational: Warum Gegner von US-Verbrechen das Experiment befürworten
Wir hören solche Äußerungen aber auch von Gegnern der US-Verbrechen, von Leuten, die das grausame Experiment, das sie befürworten, sicherlich nicht durchführen wollen.
Hier stellen sich andere Fragen: die zunehmende Flut von Irrationalität, die jede Hoffnung auf einen ernsthaften Diskurs untergräbt. Dieser Diskurs ist aber notwendig, um der Ukraine eine unbeschreibliche Tragödie zu ersparen, und darüber hinaus, um die menschliche Spezies vor dem Untergang zu bewahren.
Wenn wir Zynismus und Irrationalität jedoch einmal bei Seite lassen, ist die einzig humane und akzeptable Entscheidung für die USA und den Westen, eine diplomatische Lösung anzustreben oder zumindest diese Option nicht zu untergraben.
In dieser Frage ist die offizielle westliche Meinung geteilt. Frankreich, Deutschland und Italien fordern Verhandlungen, um einen Waffenstillstand zu erreichen und eine diplomatische Lösung anzustreben. Die USA und Großbritannien, die beiden kriegerisch ausgerichteten Staaten des Westens, sind dagegen. Sie sind der Meinung, dass der Krieg fortgesetzt werden muss. Sie sind für das düstere Experiment.
Die langjährige US-Politik, Diplomatie zu schwächen, über die wir schon öfter gesprochen haben, wurde vor einigen Wochen auf einem von Washington organisierten Treffen der Nato-Mächte und anderer Staaten auf dem US-Luftwaffenstützpunkt im deutschen Ramstein noch schärfer formuliert. Die USA gaben die Marschroute vor: Der Krieg muss fortgesetzt werden, um Russland zu schaden.
Das ist das weithin befürwortete "afghanische Modell" in den 1990er Jahren, das wir bereits diskutiert haben. In den Worten einer führenden wissenschaftlichen Studie zu diesem Thema ist es die Politik, "Russland bis zum letzten Afghanen zu bekämpfen" und gleichzeitig zu versuchen, den russischen Abzug zu verzögern und die diplomatischen Bemühungen der Uno zu untergraben, die schließlich zur Beendigung der Tragödie führten.
Bei der Erläuterung der US-Nato-Ziele in Ramstein sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin:
Wir wollen Russland so weit schwächen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann.
Lassen Sie uns darüber nachdenken. Wie können wir sicherstellen, dass Russland nie wieder in ein anderes Land einmarschieren kann? Wir lassen hier die mit absoluten Denkverboten tabuisierte Frage beiseite, ob eine Umgestaltung der US-Politik zu diesem Ziel beitragen könnte, indem wir zum Beispiel Washingtons offen erklärte Weigerung in Frage stellen, irgendwelche russischen Sicherheitsbedenken in Betracht zu ziehen, und viele andere Maßnahmen, die wir diskutiert haben.
Nach dem Sieg über Russland: Neuer Versailler Vertrag oder Morgenthau-Plan?
Um das angekündigte Ziel zu erreichen, müssten wir zumindest so etwas wie den Versailler Vertrag wieder in Kraft setzen, der damals sicherstellen sollte, dass Deutschland nicht wieder in einen Krieg ziehen kann.
Aber Versailles ging nicht weit genug, wie sich bald herausstellte. Daraus folgt, dass die neue Version für den jetzt geplanten Fall den "Dämon" auf eine Art und Weise "strangulieren" muss, die über die Versailler Bemühungen zur Kontrolle der deutschen "Hunnen" hinausgeht. Vielleicht so etwas wie der Morgenthau-Plan (der Plan sah 1944 vor, Deutschland zum Agrarstaat zurück zu entwickeln, Telepolis).
Das ist die Logik der derzeitigen Verlautbarungen. Selbst wenn wir die Worte nicht ernst nehmen und sie nur begrenzt auslegen, bedeutet die Politik eine Verlängerung des Krieges, was auch immer die Folgen für die Ukrainer und die "Kollateralschäden" darüber hinaus sind: Massenhunger, möglicher finaler Atomkrieg, fortgesetzte Zerstörung der Umwelt, die Leben überhaupt ermöglicht.
Enger gefasste Fragen stellen sich im Hinblick auf die Blockade mit ihren tödlichen Auswirkungen im globalen Süden. Zurzeit werden die ukrainischen Häfen von der russischen Marine blockiert, was dringend benötigte Exporte verhindert. Was kann dagegen unternommen werden?
Wie immer gibt es zwei Möglichkeiten: militärische oder diplomatische. "Krieg/Krieg oder Reden/Reden" ist eine Formulierung, die Churchill zugeschrieben wird, der letzterem den Vorrang gab.
Krieg/Krieg ist die offizielle Politik der Vereinigten Staaten: Wir schicken moderne Anti-Schiffs-Raketen, um Russland zu zwingen, die Blockade der Häfen zu beenden. Über das russische Flaggschiff hinaus können weitere Schiffe versenkt werden. Werden die Russen das stillschweigend hinnehmen? Vielleicht. Wie würden die Vereinigten Staaten unter ähnlichen Umständen reagieren? Das beantwortet sich von selbst.
Eine andere Möglichkeit, die von den Redakteuren des Wall Street Journal vorgeschlagen wird, besteht darin, "Kriegsschiffe einzusetzen, um Handelsschiffe aus dem Schwarzen Meer zu eskortieren". Die Redakteure versichern uns, dass das im Einklang mit dem Völkerrecht stehe, aber die Russen vor nichts zurückschrecken würden. Wenn sie also reagieren, können wir mit Stolz verkünden, dass wir das Völkerrecht eingehalten haben, während alles in Flammen aufgeht.
Die Redakteure weisen darauf hin, dass es Präzedenzfälle gibt:
Die USA haben in den letzten Jahrzehnten zweimal Verbündete für eine solche Mission mobilisiert. In den späten 1980er Jahren haben die USA während des iranisch-irakischen Tankerkriegs kuwaitische Öltanker, die aus dem Persischen Golf ausliefen, umgeflaggt und geschützt.
Das ist richtig, allerdings gibt es dabei eine kleine Auslassung. Die USA haben tatsächlich direkt eingegriffen, um Reagans guten Freund Saddam Hussein bei seiner Invasion des Irans zu unterstützen. Das war, nachdem die US-Regierung bei Saddams chemischer Kriegsführung half, die Hunderttausende von Iranern tötete. Dann machte man sogar noch den Iran für Saddams Chemiewaffen-Massaker an den Kurden verantwortlich. Damals war der Iran der Dämon. Ein schöner Präzedenzfall.
Das sind die diskutierten Optionen für die Beendigung der Blockade, die sich an die übliche Richtlinie halten, indem die Aufmerksamkeit nicht auf mögliche friedliche Schritte, sondern auf Gewalt beschränkt wird.
Gibt es friedliche Wege zur Konfliktentschärfung?
Gibt es friedliche Wege? Das kann man nicht wissen, wenn man nicht darüber nachdenkt, sich ansieht, was passiert und dann Schritte in diese Richtung unternimmt. Hier könnte man anknüpfen an das, was Russland vorgeschlagen hat, auch wenn in unserer zunehmend totalitären Kultur nur am äußersten Rande darüber berichtet wird. Ich zitiere von einer libertären Internetseite:
Der stellvertretende russische Außenminister Andrej Rudenko ... [argumentierte], dass sein Land nicht allein für die sich ausbreitende Nahrungsmittelkrise verantwortlich sei, und verwies auf die westlichen Sanktionen, die den Export von Getreide und Düngemitteln blockieren. "Man darf nicht nur an die Russische Föderation appellieren, sondern muss den gesamten Ursachenkomplex, der die derzeitige Nahrungsmittelkrise verursacht hat, in den Blick nehmen. [Die Sanktionen] beeinträchtigen den normalen freien Handel mit Lebensmitteln, einschließlich Weizen, Düngemitteln und anderen Produkten", sagte der stellvertretende russische Außenminister Andrej Rudenko.
Sollte man darüber nachdenken? Nicht in unserer Kultur, die automatisch zum Revolver greift.
Die reflexartige Vorliebe für Gewalt und ihre düsteren Folgen sind im Ausland nicht zu übersehen. Das gilt für den globalen Süden, der reichlich Erfahrung mit der westlichen Praxis gemacht hat, aber auch für die Verbündeten.
Der Herausgeber der australischen Zeitschrift für internationale Angelegenheiten, Arena, beklagt die rigide Zensur und die Intoleranz gegenüber jeder noch so kleinen Meinungsabweichung in den US-Medien und kommt zu folgendem Schluss:
Das bedeutet, dass es innerhalb der Mainstream-Meinung fast unmöglich ist, gleichzeitig Putins unerträgliche Taten zu verurteilen, und einen Weg aus dem Krieg zu suchen, der keine Eskalation und die weitere Zerstörung der Ukraine beinhaltet.
Das ist völlig richtig. Und wenn wir uns nicht aus dieser von uns selbst gestellten Falle befreien können, werden wir wahrscheinlich weiter Richtung Vernichtung marschieren. Das alles erinnert an die Anfänge des Ersten Weltkriegs, als die Großmächte mit Begeisterung einen selbstzerstörerischen Krieg führten, nur dass dieses Mal unvergleichlich schwerwiegendere Folgen in nicht allzu weiter Ferne lauern.
Ich habe mich nicht dazu geäußert, was die Ukrainer tun sollten, und zwar aus dem einfachen Grund, dass uns das nichts angeht. Wenn sie sich für das grausame Experiment entscheiden, ist das ihr gutes Recht. Es ist auch ihr Recht, Waffen zu verlangen, um sich gegen eine mörderische Aggression zu verteidigen.
Hier kommen wir wieder auf das zurück, was uns etwas angeht: wir selbst. Wie sollten wir auf diese Bitten reagieren?
Waffen ja, wenn sie nicht alles schlimmer machen
Ich werde gleich meine persönliche Überzeugung wiederholen, aber auch hier würde ein wenig Ehrlichkeit nicht schaden. Es gibt viele wohlklingende Erklärungen, die den heiligen Grundsatz hochhalten, dass die Opfer krimineller Übergriffe in ihrem berechtigten Verlangen nach Waffen zur Selbstverteidigung unterstützt werden müssen.
Es ist leicht nachzuweisen, dass diejenigen, die diese Erklärungen abgeben, kein Wort von dem glauben, was sie sagen, und in Wirklichkeit fast immer die Bereitstellung von Waffen und diplomatische Unterstützung für den Angreifer nachdrücklich unterstützen.
Um nur den offensichtlichsten Fall zu nennen: Wo sind die Aufrufe, die Palästinenser mit Waffen zu versorgen, damit sie sich gegen ein halbes Jahrhundert brutaler, verbrecherischer Besatzung, die gegen die Anordnungen des UN-Sicherheitsrates und das Völkerrecht verstößt, verteidigen können? Wo sind die Aufrufe, dass die USA zumindest die Unterstützung für diese Verbrechen einstellen sollten?
Man kann natürlich die Berichte über die von den USA unterstützten Gräueltaten der jüdischen Siedler und des israelischen Militärs in der israelischen Presse lesen, in den täglichen Kolumnen des großen Journalisten Gideon Levy.
Und wir können die vernichtenden Berichte einer anderen israelischen Journalistin, Amira Hass lesen. Sie lässt die scharfen Verurteilungen der von den "dämonischen" Russen in der Ukraine verursachten Umweltschäden Revue passieren. Dabei sei der israelische Angriff auf den Gazastreifen im vergangenen Mai irgendwie übersehen worden, als "israelische Granaten Hunderte von Tonnen Pestizide, Saatgut, Düngemittel, andere Chemikalien, Nylon- und Plastikfolien und Plastikrohre in einem Lagerhaus in der nördlichen Gazastadt Beit Lahia entzündeten."
Der Beschuss setzte 50 Tonnen gefährlicher Substanzen in Flammen, mit tödlichen Auswirkungen auf eine Bevölkerung, die nach Jahrzehnten des von den USA unterstützten israelischen Sadismus unter Bedingungen nackten Überlebens dahin vegetiert, wie internationale Organisationen berichten.
Es handelt sich um "chemische Kriegsführung mit indirekten Mitteln", berichtet die angesehene palästinensische Agentur für Rechtsforschung und -aktivismus al-Haq nach umfangreichen Untersuchungen.
Nichts von alledem und vieles mehr veranlasst den Mainstream zu einem Wort darüber, dass die US-Unterstützung für die mörderische Besatzungspolitik enden müsse, oder dass den Opfern Mittel zur Verteidigung bereitgestellt werden sollten.
Aber ich höre auf mit dem unverschämten "Whataboutism", besser bekannt als Ehrlichkeit, aber außerhalb unseres streng dogmatischen Systems. Wie sollte nun das Prinzip im Einzelfall der Ukraine angewendet werden, wo sich die USA ausnahmsweise gegen die Aggression stellen?
Ich wiederhole meine Ansicht, dass der Bitte der Ukraine nach Waffen stattgegeben werden sollte, wobei darauf zu achten ist, dass die Lieferungen nicht zu einer Eskalation des kriminellen Angriffs führen und die Ukrainer noch mehr bestrafen sollten, was katastrophale Auswirkungen haben könnte.
Noam Chomsky ist Professor emeritus für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).
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