Chomsky: Warum Rufe nach einer stärkeren Nato falsch und verlogen sind

Eine 155-mm-Haubitze des Typs M-198 der US-Marine im Einsatz während der zweiten Schlacht um Fallujah im Irak 2004. Bild: Samantha L. Jones / Public Domain

Das US-geführte Nato-Bündnis steht nicht für Frieden und Sicherheit. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt das. Jetzt droht sogar ein Showdown mit China. (Interview Teil 2, Schluss)

Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Es erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Truthout. Den ersten Teil des Interviews auf Telepolis finden Sie hier.

Im russisch-ukrainischen Konflikt bringen viele Kommentatoren und politische Entscheidungsträger in der westlichen Welt eine offen rassistische Haltung zum Ausdruck. Glücklicherweise wurden die aus ihrem Land fliehenden Ukrainer von den europäischen Ländern mit offenen Armen empfangen. Diejenigen aber, die aufgrund von Verfolgung, politischer Instabilität und Konflikten sowie dem Wunsch, der Armut zu entkommen, aus Teilen Afrikas und Asiens (oder im Falle der Vereinigten Staaten aus Mittelamerika) fliehen, erhalten eine sehr andere Behandlung. In der Tat ist es schwer, den Rassismus zu übersehen, der sich hinter dem Denken vieler verbirgt, die behaupten, man dürfe die Invasion der USA im Irak nicht mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine vergleichen, weil die beiden Ereignisse auf einer anderen Ebene liegen. Diese Position vertritt beispielsweise der neoliberale polnische Intellektuelle Adam Michnik, der übrigens auch Sie als einen derjenigen zitiert, die die Kardinalsünde begehen, zwischen den beiden Invasionen nicht zu unterscheiden. Ihre Reaktion auf diese Art von intellektueller Analyse?

Noam Chomsky: Außerhalb der gut geschützten westlichen Blase wird der Rassismus noch krasser wahrgenommen, zum Beispiel von der angesehenen indischen Schriftstellerin, politischen Aktivistin und Essayistin Arundhati Roy:

Die Ukraine wird hier sicherlich nicht als eine Geschichte angesehen, die eine eindeutige moralische Lehre enthält. Wenn braune oder schwarze Menschen bombardiert oder in Angst und Schrecken versetzt werden, spielt das keine Rolle, aber bei weißen Menschen soll es anders sein.

Das Vergehen der "Kardinalsünde" stellt eine höchst aufschlussreiche Seite unserer westlichen Hochkultur dar, die von uns treu ergebenen Freunden nachgeahmt wird.

Osteuropa ist jedoch ein Sonderfall. Aus bekannten und offensichtlichen Gründen neigen die osteuropäischen Eliten dazu, für die US-Propaganda empfänglicher zu sein als andere. Auf dieser Grundlage unterschied Donald Rumsfelds zwischen dem alten und dem neuen Europa.

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Die alten Europäer sind die Bösen, die sich weigerten, die US-Invasion im Irak mitzumachen, weil sie antiquierten Vorstellungen von internationalem Recht und elementarer Moral anhängen. Das neue Europa, vor allem die ehemaligen Satellitenstaaten Russlands, sind die Guten, die frei von solchem Ballast sind.

Schließlich gibt es sogar einige "linke" Intellektuelle, die den Standpunkt vertreten, dass die Welt angesichts des russischen Einmarsches in der Ukraine jetzt eine stärkere Nato braucht und es keine Verhandlungslösung für den Konflikt geben sollte. Es fällt mir schwer, die Vorstellung zu verdauen, dass jemand, der behauptet, zur linken Tradition zu gehören, die Ausweitung der Nato und eine Fortsetzung des Krieges befürwortet. Was halten Sie von dieser Position?

Noam Chomsky: Irgendwie habe ich die Rufe der Linken nach einer Wiederbelebung des Warschauer Pakts wohl übersehen, als die USA in den Irak und nach Afghanistan einmarschierten und auch Serbien und Libyen angriffen – natürlich immer mit einem Vorwand.

Diejenigen, die eine stärkere Nato fordern, sollten vielleicht darüber nachdenken, was die Nato im Moment tut und wie sie sich selbst darstellt. Auf dem letzten Nato-Gipfel wurde der nordatlantische Raum auf den indopazifischen Raum, d. h. auf die ganze Welt, ausgedehnt.

Die Rolle der Nato besteht darin, sich an den Planungen der USA für einen Krieg mit China zu beteiligen, der bereits ein Wirtschaftskrieg ist, da die USA (und zwangsweise auch ihre Verbündeten) versuchen, Chinas wirtschaftliche Entwicklung zu blockieren, wobei Schritte in Richtung einer möglichen militärischen Konfrontation in nicht allzu weiter Ferne gemacht werden könnten. Nochmals: Das wäre ein finaler Krieg.

Jetzt denken Europa, Südkorea und Japan darüber nach, wie sie einen schweren wirtschaftlichen Niedergang vermeiden könnten, der droht, wenn man Washingtons Anweisung befolgt, China, ihrem wichtigsten Markt, Technologie vorzuenthalten.

Es ist auch nicht uninteressant zu sehen, welches Bild die Nato von sich stolz entwirft. Ein lehrreiches Beispiel ist die jüngste Anschaffung der US-Navy, das amphibische Angriffsschiff USS Fallujah, dessen Name an die beiden Angriffe der Marineinfanteristen auf Fallujah im Jahr 2004 erinnern soll, die zu den grausamsten Verbrechen der US-Invasion im Irak gehören.

Es ist normal, dass imperiale Staaten ihre Verbrechen ignorieren oder versuchen, sie durch Erklärungen zu rechtfertigen. Es ist eher ungewöhnlich, dass sie gefeiert werden.

Außenstehende finden das nicht immer amüsant, auch nicht die Iraker. So berichtet der irakische Journalist Nabil Salih über die Indienstnahme der USS Fallujah, indem er ein Fußballfeld beschreibt, das als "Friedhof der Märtyrer" bekannt geworden ist.

Dort haben die Einwohner der einst belagerten Stadt Falludscha (engl.: Fallujah) die Frauen und Kinder begraben, die bei den wiederkehrenden Angriffen der Vereinigten Staaten massakriert wurden, um einen Aufstand in den ersten Jahren der Besatzung niederzuschlagen. Im Irak sind jetzt sogar Spielplätze Orte der Trauer. Der Krieg hatte zur Folge, dass Falludscha mit abgereichertem Uran und weißem Phosphor überzogen wurde.

"Aber die Grausamkeit der USA endete nicht dort", so Salih weiter:

Nach zwanzig Jahren und nicht bezifferbaren Geburtsfehlern aufgrund der Verstrahlungen tauft die US-Marine eines ihrer Kriegsschiffe auf den Namen USS Fallujah .... So setzt das US-Imperium seinen Krieg gegen die Iraker fort. Der Name Falludscha, der mit weißem Phosphor in die Gebärmütter vieler Frauengenerationen eingepflanzt worden ist, soll als Kriegserfolg gepriesen werden.

"Unter außergewöhnlichen Umständen", heißt es in einer Erklärung des US-Imperiums, in der die Entscheidung, das Kriegsschiff nach Falludscha zu benennen, begründet wird, "haben sich die Marinesoldaten gegen einen entschlossenen Feind durchgesetzt, der alle Vorteile der Verteidigung in einem städtischen Gebiet genoss" ... Was zurückbleibt, ist die quälende Abwesenheit von Familienmitgliedern, Häusern, die zu Staub bombardiert, und Fotos mit lächelnden Gesichtern, die verbrannt wurden.

Uns wurde etwas anderes überlassen: ein tödlich-korruptes System des Diebstahls, über ethnisch-religiöse Grenzen hinweg. Es ist das Erbe der nicht zur Rechenschaft gezogenen Kriegsverbrecher von Downing Street und Washington D.C.

Salih zitiert Walter Benjamin und seine Geschichtsphilosophischen Thesen:

Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen.

"Mit diesem Geschichtsrevisionismus", so Salih abschließend, "haben die USA einen weiteren Angriff auf unsere Toten gestartet. Benjamin hatte uns gewarnt – ‚auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.' Der Feind hat gewonnen."

Das ist das wahre Gesicht der Nato, was viele ihrer Opfer bezeugen können.

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