Chomsky: Warum Rufe nach einer stärkeren Nato falsch und verlogen sind
Seite 2: Aber was wissen schon braune und schwarze Menschen von der Nato?
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Aber was wissen die Iraker oder andere braune und schwarze Menschen schon? Für die "Wahrheit" kann man sich an einen polnischen Schriftsteller wenden, der gehorsamst die vulgärste amerikanische Propaganda wiederholt, womit er die Einstellung vieler seiner Kollegen zu Hause wiedergibt, die sich in den Dienst der Mächtigen gestellt haben.
Seien wir jedoch fair. Zum Zeitpunkt des Massakers berichteten US-Medien sehr wohl über die Geschehnisse. Der australische Journalist John Menadue hat 2018 einen Großteil der Berichterstattung zusammengestellt und veröffentlicht. Hier ein Auszug:
- Am 16. Oktober 2004 berichtete die Washington Post, dass "Strom und Wasser in der Stadt abgestellt wurden, gerade als eine neue Welle von [Bomben-]Angriffen am Donnerstagabend begann, eine Maßnahme, die die US-Streitkräfte auch zu Beginn der Angriffe auf Nadschaf und Samarra ergriffen". Auch dem Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen wurde der Zugang verwehrt, um die grundlegendste humanitäre Hilfe – Wasser, Lebensmittel und medizinische Notversorgung – an die Zivilbevölkerung zu liefern.
- Am 7. November berichtete die New York Times auf der Titelseite, wie die Bodenoffensive der Koalitionstruppen mit der Einnahme des einzigen Krankenhauses in Falludscha begann: "Patienten und Krankenhausangestellte wurden von bewaffneten Soldaten aus den Zimmern gedrängt und aufgefordert, sich auf den Boden zu setzen oder zu legen, während die Soldaten ihnen die Hände auf dem Rücken fesselten". Der Bericht verweist auch auf das Motiv für den Angriff auf das Krankenhaus: "Die Offensive sollte abstellen, was nach Angaben der Offiziere eine Propagandawaffe der Militanten ist: Das Allgemeinkrankenhaus von Fallujah und seinen nicht enden wollenden Berichten über zivile Opfer." Auch die beiden medizinischen Kliniken der Stadt wurden bombardiert und zerstört.
- In einem Leitartikel vom November 2005, in dem die New York Times den Einsatz von weißem Phosphor anprangerte, hieß es: "In eine Artilleriegranate gepackt, explodiert er über einem Schlachtfeld in weißem Licht, womit die Stellungen des Feindes erhellt werden können. Zugleich regneten damit Kugeln aus brennenden Chemikalien nieder, die an allem haften bleiben, womit sie in Kontakt kommen. Sie brennen so lange weiter, bis ihre Sauerstoffzufuhr unterbrochen wird. Sie können stundenlang im Inneren eines menschlichen Körpers brennen".
- Anfang November 2004 berichtete die New York Times, dass das Hauptkrankenhaus von Falludscha angegriffen worden sei, und die Zeitschrift The Nation verwies auf "Berichte, wonach US-Streitkräfte bei einem Angriff auf ein Gesundheitszentrum in Falludscha Dutzende von Patienten getötet und der Zivilbevölkerung medizinische Versorgung, Lebensmittel und Wassers entzogen habe."
- Die BBC berichtete am 11. November 2004: "Ohne Wasser und Strom fühlen wir uns völlig abgeschnitten von allem ... Auf den Straßen liegen tote Frauen und Kinder. Die Menschen werden vor Hunger immer schwächer. Viele sterben an ihren Verletzungen, weil es in der Stadt überhaupt keine medizinische Hilfe mehr gibt."
- Am 14. November 2004 berichtete der Guardian: "Die erschreckende Lage für diejenigen, die in der Stadt geblieben sind, haben sich in den letzten 24 Stunden bewahrheitet, als klar wurde, dass die Behauptungen des US-Militärs, die Stellungen der Aufständischen mit 'Präzision' angegriffen zu haben, falsch gewesen sind. .... Die Stadt ist seit Tagen ohne Strom und Wasser."
Das ist die Nato, für diejenigen, die bereit sind, etwas über die Welt zu lernen.
Aber genug von diesem erbärmlichen Whataboutism. Von ganz oben kommt die Anweisung, dass es empörend ist, den Angriff des neuen Hitler auf die Ukraine mit der fehlgeleiteten, aber gutartigen Hilfsmission der USA und Großbritanniens zu vergleichen, mit der den Irakern geholfen werden sollte, indem ein böser Diktator gestürzt wurde – den die USA bei seinen schlimmsten Verbrechen enthusiastisch unterstützt haben. Aber das ist keine angemessene Geistesnahrung für die intellektuelle Klasse.
Aber auch hier sollten wir fair sein. Nicht alle sind der Meinung, dass man keine Fragen zum US-Einsatz im Irak stellen sollte. Kürzlich gab es viel Aufhebens darum, dass der Direktor von Human Rights Watch, Kenneth Roth, von der Harvard Universität eine Stelle an der Kennedy School verweigert wurde. Das wurde nach Protesten schnell wieder zurückgenommen.
Roths Qualifikationen wurden gelobt. In einer von der bekannten Menschenrechtsverteidigerin Samantha Power moderierten Debatte über die Frage, ob die Irak-Invasion als humanitäre Intervention zu werten sei, nahm er sogar die Contra-Position ein. (Michael Ignatieff, Direktor des Carr Center for Human Rights, vertrat die Ansicht, dass es der Fall gewesen sei.)
Was für ein Glück haben wir doch, dass unsere Kultur auf seinem intellektuellen Gipfel derart frei und offen ist, dass wir sogar eine Debatte darüber führen können, ob die Invasion in den Irak ein Akt der Humanität war.
Intellektuell weniger disziplinierte Menschen könnten sich fragen, wie wir auf ein ähnliches Ereignis an der Moskauer Universität reagieren würden.
Übersetzung: David Goeßmann
Noam Chomsky (geb. 1928) ist emeritierter Professor für Linguistik und Philosophie am MIT, Lehrstuhlinhaber für Linguistik an der Universität von Arizona, wo er auch das Programm für Umwelt- und soziale Gerechtigkeit leitet. Chomsky ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der modernen Geschichte und kritischer Intellektueller, der von Millionen von Menschen weltweit rezipiert wird. Er hat mehr als 150 Bücher, wissenschaftliche Standardwerke und viele Bestseller in den Bereichen Linguistik, politisches und soziales Denken, politische Ökonomie, Medienwissenschaft, US-Außenpolitik und Weltpolitik sowie Klimawandel veröffentlicht. Zusammen mit Vijay Prashad ist von ihm gerade erschienen: "The Withdrawal. Iraq, Libya, Afghanistan, and the Fragility of U.S. Power".
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