Chomsky: "Wird Putin einfach die Koffer packen und sich davonschleichen?"
- Chomsky: "Wird Putin einfach die Koffer packen und sich davonschleichen?"
- Wenn Verhandlungen nicht eingeleitet werden: Was dann?
- Gefährliche Annahme: Putin wird bei Niederlage nicht militärischen Trumpf ziehen
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Noam Chomsky sagt: Noch hat Moskau nicht das gemacht, was die USA in Kriegen unternehmen: Infrastrukturen zerstören. Wird Putin bei einer Niederlage einfach verschwinden? Warum Diplomatie weiter möglich ist. (Teil 1)
Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Das Interview erscheint in Kooperation mit der US-Nachrichtenseite Truthout. Es ist der erste Teil, der zweite erscheint am Dienstag auf Telepolis. Übersetzung: David Goeßmann.
Russland hofft, vier besetzte Regionen der Ukraine mit inszenierten Referenden annektieren zu können. Russland hat diese Taktik bereits 2014 beim Referendum über den Status der Krim angewandt, auch wenn die beiden Situationen recht unterschiedlich sein dürften. Die Abstimmung in den von Russland besetzten Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson in der Ukraine ist eindeutig völkerrechtswidrig, aber ich nehme an, dass das für einen Staat, der eine kriminelle Invasion gegen ein unabhängiges Land gestartet hat, kaum eine Rolle spielt. Was hofft Russland mit den "Volksabstimmungen" zu erreichen? Und wie geht es weiter, zumal es Russland bisher schwer gefallen ist, in den besetzten Gebieten Ordnung zu schaffen?
Noam Chomsky: Den Referenden fehlt in diesem Fall jegliche Glaubwürdigkeit. Beim Krim-Referendum im Jahr 2014 war das anders. Zum einen geschah die russische Übernahme der Krim nicht in einem Vakuum. Zum anderen gibt es Grund zu der Annahme, dass die Krimbewohner mehr auf Russland als auf die Ukraine blickten. Obwohl die Referenden international nicht anerkannt waren, wurde von vielen gesehen, dass die Ergebnisse nicht sehr überraschend gewesen sind. Das ist bei den aktuellen Referenden nicht der Fall.
Wie die Mobilisierung deuten auch die inszenierten Referenden auf russische Pläne für eine langfristige Besetzung und einen Zermürbungskrieg hin. Obwohl sie eindeutig ein weiteres Hindernis für die Verhandlungen über das Schicksal der Regionen, in denen sie stattfinden, darstellen, können sie das Fenster nicht vollständig schließen, wie Anatol Lieven erörtert.
Es stimmt, dass das Völkerrecht für Russland ebenso wenig gilt wie für die anderen Großmächte, die verbrecherische Invasionen gegen unabhängige Länder durchführen, allen voran die USA. Und zwar ungestraft, dank ihrer Machtfülle.
Was hofft Russland zu erreichen? Es gibt es zwei Möglichkeiten, sich dieser Frage zu nähern.
Eine Möglichkeit ist, die Tiefen von Putins Geist zu erforschen, wie es George W. Bush tat, als er Putin in die Augen schaute, seine "Seele" sah und sie für gut erklärte. Viele Amateur-Psychologen tun ähnliches heute.
Eine zweite Möglichkeit besteht darin, sich anzuschauen, was Putin und seine Mitarbeiter sagen. Wie bei anderen Staatsoberhäuptern mag das ihre verborgenen Absichten widerspiegeln oder auch nicht. Wichtig ist jedoch, dass das, was sie sagen, als Grundlage für Verhandlungen dienen kann, wenn ein Interesse daran besteht, den Schrecken ein Ende zu setzen, bevor er noch schlimmer wird. So funktioniert Diplomatie.
Der zweite Weg legt nahe, dass das, was Russland zu erreichen hofft, in erster Linie die Neutralisierung der Ukraine und die "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" ist. Ersteres bedeutet die Annullierung der Programme der letzten Jahre zur faktischen Integration der Ukraine in die Nato. Das kommt den Vorschlägen von Präsident Selenskyj vom März dieses Jahres über eine Neutralisierung mit Sicherheitsgarantien sehr nahe.
Letzteres wäre ein Thema, das in ernsthaften Verhandlungen zu diskutieren wäre. Es könnte in Form einer Vereinbarung über den Verzicht auf die Stationierung schwerer, gegen Russland gerichteter Waffen in der Ukraine, auf weitere gemeinsame Militärmanöver usw. formuliert werden. Kurzum, ein Status wie in Mexiko.
Das sind Themen für Verhandlungen – natürlich nur, wenn ein ernsthaftes Interesse an der Beendigung des Konflikts besteht.
Wir sollten uns daran erinnern, dass der größte Teil der Welt, einschließlich einer großen Mehrheit der Deutschen und eines Großteils des übrigen Europas, jetzt Verhandlungen fordert, während die USA darauf bestehen, dass die Priorität darin bestehen muss, Russland ernsthaft zu schwächen, also keine Verhandlungen.
Es gibt noch andere Fragen zu klären, vor allem die Krim und die Donbass-Region. Eine optimale Lösung wäre ein international unterstütztes Referendum über die verschiedenen vorgeschlagenen Optionen. Das ist jetzt vermutlich nicht möglich, aber ein ernsthaftes Bemühen um Verhandlungen könnte die Aussichten verbessern. Es gibt gute Hinweise darauf, dass erst im April letzten Jahres ernsthafte Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unter türkischer Schirmherrschaft stattfanden, die von den USA und Großbritannien abgelehnt wurden.
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