Ciuadad Juárez wie Kabul oder Bagdad
Der "Krieg gegen die Drogen" forderte im Jahr 2010 in Mexiko 12.456 Tote. Doch die Regierung hält auch in diesem Jahr an ihrer Militärstrategie fest
Anfang Januar kamen aus Mexiko wieder einmal Zahlen über Rekorde in den Gewaltstatistiken. 12.456 Morde seien von Anfang Januar bis Ende Dezember im Zusammenhang mit dem sogenannten Krieg gegen die Drogenkartelle zu verzeichnen gewesen, berichtete die Tageszeitung El Universal unter Berufung auf Zahlen der Strafverfolgungsbehörden. Vor allem im Norden des Landes, an der Grenze zu den USA, hat sich die Lage verheerend entwickelt. Auch im Laufe der ersten Wochen 2011 kamen immer neue Berichte über erschreckende Gewaltverbrechen.
Für internationale Medien bietet die Gewalteskalation in Mexiko immer wieder schaurige Nachrichten. Im Januar wechselten sich Meldungen über Enthauptungen mit Nachrichten über verbrannte Leichen ab. "Die Opfer seien offensichtlich erst gefoltert und dann bei lebendigem Leibe verbrannt worden", hieß es vor kurzem etwa in einer Agenturmeldung. Über die Hintergründe ist bei solchem effekthascherischen Breaking-News-Journalismus wenig zu erfahren. Dabei ist die Sache recht einfach: Die Drogenkartelle liefern sich einen erbitterten Krieg. Die nahen USA sind für die gut organisierten Banden auf der einen Seite einer ihrer größten Absatzmärkte. Zum anderen beziehen die Kartelle aus den Vereinigten Staaten nach Ansicht von Experten den Großteil ihrer Waffen.
Die Konsequenz lässt sich in den Statistiken erkennen. Seit Mexikos Präsident Felipe Calderón vor vier Jahren - auch auf Druck der USA - den "Drogenkrieg" deklariert und damit eine militärische Strategie gewählt hat, versinkt das Land in enthemmter Gewalt. Immer neue Nachrichten von immer größeren Massakern dominieren die Medien, die Hemmschwelle wird zunehmend niedriger. "Wir alle sind Zeugen von Exekutionen geworden, haben einen Familienangehörigen verloren oder einen Bekannten, der entführt wurde", sagte Isabel Vázquez, eine Einwohnerin der Grenzstadt Ciudad Juárez.
Laut Präsident Calderón wird sich daran vorerst nichts ändern. Seine Neujahrsansprache bestand zum großen Teil aus Durchhalteparolen. "Wir wissen alle, dass Mexiko vom Verbrechen gesäubert werden muss", sagte er. Nur durch diesen Konflikt könne man dem Land mehr Sicherheit verschaffen. Zugleich gaben die Behörden bekannt, dass seit Beginn der militärischen Mission gegen die Drogenbanden vor vier Jahren 30.196 Menschen getötet wurden.
Neujahrgrüße von Drogenkartell
Mitunter treibt der Krieg gegen die Drogenbanden absurde Blüten. Nach mehreren schweren Rückschlägen hat Kartell "La familia michoacana" (Die Michoacan-Familie) zum Jahresbeginn eine Waffenruhe verkündet. In einer per Email und Flugblättern verbreiteten Nachricht wünschten die Drogenhändler "der gesamten Gesellschaft ein frohes neues Jahr 2011". Zugleich wiesen die Drogenhändler jegliche Verantwortung für die Gewalteskalation von sich. Allein Polizei und Armee seien für tote Zivilisten verantwortlich, um die Verantwortung dem Kartell zuzuschieben, hieß es in der Nachricht.
Der Absender ist widersinniger als die These an sich: Menschenrechtsorganisationen weisen seit Beginn des "Drogenkrieges" auf zunehmende Gewalttaten durch die Armee hin. Die PR-Offensive des Kartells und die "Waffenruhe" dürfte andere Gründe haben: Seit Beginn einer Großoffensive von Polizei und Armee gegen die Bande im Dezember wurden die beiden Anführer, Nazario Moreno González und Fransisco López Villanueva, festgesetzt.
Schlimmer als im Bundesstaat Michoacán im Westen Zentralmexikos ist die Lage im Norden des Landes. In Ciudad Juárez waren im vergangenen Jahr 2010 im Vergleich zum Vorjahr knapp 400 Morde mehr zu verzeichnen. Nach Angaben mexikanischer Medien betrug die Zahl der Todesopfer im "Drogenkrieg" bis zum Jahreswechsel 3.039. Der Grenzort glich damit quasi einem Kriegsgebiet - mit allem damit einhergehenden Folgen für die Gesellschaft. So wurden seit Anfang 2008 rund 9000 Kinder zu Voll- oder Halbwaisen.
In die Medien schaffen es nur noch die Fälle krasser Gewalt. So etwa vor einem Jahr, als Ende Januar private Milizen einer Drogenbande eine Geburtstagsfeier in Ciudad Juarez überfielen. Professionell riegelten die Angreifer das Gebiet ab, trieben die Partygäste zusammen und eröffneten das Feuer. Im Kugelhagel starben 15 Jugendliche. Die Hintergründe der Tat sind bis heute ungeklärt, obwohl die Regierung des Bundesstaates und die Führung in Mexiko-Stadt dem Fall Priorität einräumten.
Vergleich mit Situation in Kabul
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der "Drogenkrieg" keine leere Metapher ist. Der US-General a. D. und ehemalige Kommandeur des Südkommandos der USA, Barry McCaffrey, verglich die Lage in Ciudad Juárez unlängst mit der Situation in der afghanischen Hauptstadt Kabul oder der irakischen Kapitale Bagdad. Zwar könne man die Länder nicht direkt miteinander vergleichen, sagte der ehemalige Anti-Drogen-Beauftragte der USA.
"Natürlich sehen wir auch die Unterschiede zwischen Afghanistan und Mexiko, aber eine schlimmere Lage als in (Ciudad) Juárez ist kaum vorstellbar", sagte der ehemalige Militär. Für die Regierung von Präsident Calderón sei nun die vorrangige Aufgabe, einen Polizeiapparat aufzubauen, der die Stabilität des Rechtsstaates sichern kann. Auf jeden Fall würden die kommenden beiden Jahre für das Nachbarland der USA "äußerst schwer" werden, so McCaffrey, der eine stärkere Unstützung für die mexikanische Regierung forderte.
Kurz- und mittelfristig wird die Gewalt in Mexiko also andauern. Zumal das System, auf das sich die Kartelle stützen, kaum angetastet wird. Der Waffenhandel aus den USA nach Mexiko konnte in den vergangenen Jahren ebenso wenig unterbunden werden wie der Verkauf von Rauschgift in die USA und nach Europa. So blieb Calderón zum Jahreswechsel eben nicht viel mehr, als Durchhalteparolen auszugeben.