Corona 2022: Wird die Debatte rationaler?
Die regionale Vervierfachung der Inzidenzen zum Ende des Oktoberfests wird erstaunlich gelassen aufgenommen. Deutsche Gerichte erklären im Nachhinein Covid-19-Maßnahmen für rechtswidrig. Das bedeutet nicht zwangsläufig, das Virus nicht mehr ernst zu nehmen.
"Oktoberfest endet – Vervierfachung der Corona-Insidenz. Sogar die Zahl der belegten Betten in Münchner Krankenhäusern steigt. Diese Meldungen hätte vor einigen Monaten noch zu einer großen medialen Debatte geführt.
Den Organisatoren des Bier-Events in der bayerischen Landeshauptstadt wäre vorgeworfen worden, die Gesundheit vieler Menschen zu gefährden und möglicherweise auch für deren Tod verantwortlich zu sein. Selbst die Kritik des Gesundheitsministers Karl Lauterbach war aber in diesem Fall sehr moderat: "Das wäre nicht nötig gewesen wenn vor dem Einlass Selbsttests gemacht worden wären. Auf zwei bis drei Euro wäre es bei den Preisen pro Maß nicht angekommen", befand Lauterbach auf Twitter.
Schon vor Beginn der "Wiesn" hatte er sich für freiwillige Selbsttests ausgesprochen, aber auch betont, dass er kein Spielverderber sei und allen Besuchern eine gute Zeit wünsche. Es ist schon erstaunlich, wie sich die Debatte um Corona und die Folgen in den letzten Monaten gewandelt hat. Klar war, dass man im Sommer, wo die Inzidenzen massiv zurückgegangen waren, nicht viel von Ansteckungen und Viren hören wollte. Das war bereits in den letzten beiden Jahren so. Doch auffällig ist eben der moderate Ton nach Ende des Sommers, wo die Inzidenzen wieder steigen.
Pandemie zu Ende?
Hatte also US-Präsident Biden recht, als er vor einigen Wochen in einem Interview die Pandemie für beendet erklärte? Das hatte sofort ökonomische Folgen: Die Aktienkurse der Impfstoffhersteller brachen sofort ein. Das ist besonders verwunderlich, wo doch Mediziner Biden eilig widersprochen hatten und betonten, dass diese Einschätzung voreilig sei. Auch hier blieben die Reaktionen allerdings moderat.
Man stelle sich vor, Bidens Amtsvorgänger Donald Trump wäre an seiner Stelle gewesen und hätte die Pandemie für beendet erklärt. Einige Tage Empörung über die wissenschaftsfeindliche Haltung des Präsidenten wären hierzulande sicher gewesen.
Allerdings könnte Biden recht haben – und seine ärztlichen Kritikerinnen und Kritiker auch. Denn Biden hat ja nicht gesagt, dass niemand mehr an Covid-19 erkranken werde. Er hat nur geäußert, dass diese Krankheitsfälle nicht mehr als Pandemie anzusehen seien. Das bedeutet in logischer Konsequenz den Wegfall zahlreicher Einschränkungen, die mit einer Pandemie verbunden sind.
Auch Grippewellen wurden nicht ignoriert
Das bedeutet aber auch, dass die Erzählung über die Krankheit sich ändert. Die Covid-19-Erkrankungen werden in etwa so behandelt, wie die Grippefälle der letzten Jahre. Sie wurden nicht ignoriert. Es wurde auch dazu aufgerufen, dass sich vulnerable Gruppen schützen. Aber es wurde nicht die gesamte Gesellschaft unter Quarantäne gestellt.
Das macht einen großen Unterschied, auch in Bezug auf die gesellschaftliche Debatte. Rechte und irrationalistische Strömungen, die in den Pandemie-Maßnahmen einen großen Plan irgendwelcher Machtgruppen sehen, haben kaum die Möglichkeit, sich zu inszenieren, wenn die Debatte rationaler wird.
Dafür könnten jetzt jene Menschen gehört werden, die in den letzten beiden Jahren die Gefährlichkeit des Virus nie leugneten, die aber die staatlichen Maßnahmen sowie die geringe Kritik daran in liberalen und linken Kreisen moniert haben.
In der aufgeheizten Debatte der letzten beiden Jahre wurden oft solche Kritikerinnen und Kritiker mit den irrationalen Strömungen in einen Topf geworfen. Eine rationalere Debatte könnte dazu führen, dass sich das ändert.
Drohen jetzt Schadenersatzforderungen wegen Corona-Schließungen?
Zumal auch die Justiz mittlerweile einige Corona-Maßnahen nachträglich für rechtswidrig erklärt hat. Erst vor wenigen Tagen entschied das Oberverwaltungsgericht Saarlouis, dass die Schließung eines Möbelhauses in der Corona-Pandemie grundgesetzwidrig gewesen sei. "Die Regelung verstieß gegen höherrangiges Recht", heißt es dazu in der Begründung. So habe die Rechtsverordnung zur Seuchenbekämpfung von der Verfassung geschützte Grundrechte wie Berufsausübungsfreiheit sowie den Schutz von Eigentum und Gewerbe verletzt.
Nun gibt es keinen Grund, das Urteil unkritisch zu loben. Schließlich wird da vor allem wirtschaftsliberal auf das Recht auf Eigentum rekurriert. Es wäre vielmehr interessant, zu erfahren, was die Beschäftigten dieses Möbelhauses dazu sagen.
Es wäre auch interessant, zu erfahren, ob Gerichte Grundrechte wie Streik und Demonstrationsfreiheit mindestens als ebenso wichtig wie das Recht auf Eigentum einstufen. Doch das Urteil zeigt auch, dass die Kritiker an den Corona-Maßnahmen in den letzten zwei Jahren eben nicht so falsch lagen, auch wenn sie gerne in die Ecke der "Corona-Leugner" abgeschoben wurden.
Gegen die Rückzahlung von Corona-Beihilfen
Doch nicht nur die Einschränkungen wegen des Coronavirus, auch die Corona-Beihllfen beschäftigen die Justiz. Mittlerweile hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf in mehreren Fällen entschieden, dass in Nordrhein-Westfalen die Corona-Soforthilfen nicht zurückgezahlt werden müssen. Das Gericht argumentierte mit handwerklichen Fehlern bei der Verabschiedung des Gesetzes:
Während des Bewilligungsverfahrens konnten die Hilfeempfänger aufgrund der online vom Land bereitgestellten Hinweise, der Antragsvordrucke und der Zuwendungsbescheide eher davon ausgehen, dass pandemiebedingte Umsatzausfälle ausschlaggebend sein sollten, um die Geldleistungen zu erhalten – und dann auch behalten zu dürfen.
Allerdings habe das Land dann bei Erlass der Schlussbescheide auf das Vorliegen eines Liquiditätsengpasses abgezielt, der einen Verlust oder eine Differenz zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Geschäftsbetriebes voraussetze.
Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat ebenso einen Aufruf gegen die Rückzahlungsforderungen initiiert wie die Kampagnenplattform Campact. Denn bisher profitieren nur diejenigen von dem Urteil, die rechtzeitig geklagt hatten. Das hat zur Folge, dass die meisten Betroffenen eine rechtswidrige Maßnahme befolgen müssen.
Hier wäre wie so oft die gesellschaftliche Linke gefragt. Sie müsste gemeinsam mit den Betroffenen Protest organisieren – mit dem auch von ver.di und Campact erklärten Ziel, dass die Rückzahlungsforderung für alle gekippt und schon zurückgezahlte Beträge zurückerstattet werden. Das könnte dazu beitragen, dass die gesellschaftliche Linke auch wieder ein Faktor in der sozialen Bewegung und ein Gegengewicht gegen die rechten und irrationalen Gruppen wird.
Der Autor hat gemeinsam mit Anne Seeck und Gerhard Hanloser in den letzten beiden Jahren Onlinedebatten unter dem Motto "Corona und die linke Kritik(un)fähigkeit" organisiert und im Verlag AG Spak ein Buch mit diesem Titel herausgegeben.
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