Corona-Berichterstattung: Woran man sich erinnern sollte
Die Parteilichkeit der westlichen Journalisten offenbart sich in den Berichten über Maßnahmen zur Bekämpfung der Epidemie in Asien
Anfang 2003 ging ein Coronavirus namens SARS 1 umher und machte Singapur zu einem seiner Hauptbetroffenen. Zu dieser Zeit war der Stadtstaat seitens der westlichen Völkerfamilie wegen seiner Brauchbarkeit für anlagesuchendes Geld und seiner darauf begründeten Erfolgsgeschichte schon etwas besser gelitten als noch zehn oder 20 Jahre zuvor, als zum Beispiel ein führendes Nachrichtenmagazin mitzuteilen wusste, dass der Staatsgründer
Lee Kuan Yew Singapur wie ein aufgeklärter Despot regierte und das Leben seiner Untertanen bis ins Kleinste reglementierte. […] Lees Singapur ist die wohl sauberste, grünste und intakteste Großstadt der Welt. Aber die Ordnung ist teuer erkauft. Kritik in Zeitungen gilt als Beleidigung; auch ausländische Blätter werden zum Kotau gezwungen. Kaugummi, Vögelfüttern, Spucken in der Öffentlichkeit sind streng verboten.
Spiegel, 26.9.1994
Diese Tonart klang der Südostasien-Korrespondentin einer süddeutschen Zeitung offenbar noch im Ohr, als sie unter dem Titel "Singapur und die Seuche: Eine Stadt trägt Mundschutz" Folgendes zu berichten hatte:
Der Stadtstaat […] überlässt nichts dem Zufall, schon gar nicht, wenn etwas die Leistungsbilanz zu trüben droht. […] Die rätselhafte Epidemie [… droht] auf das Handelsvolumen, das Investitionsklima und die Zahl der Touristen zu drücken. Da schaut die Regierung natürlich nicht tatenlos zu, sondern bekämpft den Virus mit rigiden Maßnahmen wie andere Sicherheitsrisiken auch. […] Sie verfügte am Mittwochabend, dass sämtliche Schulen für zwei Wochen geschlossen bleiben […] Am Tag danach schienen die 600.000 zwangsbeurlaubten Schüler wie vom Erdboden verschluckt.
SZ, 28.3.2003
Eigenartig ist der hörbar kritische Unterton solcher Sätze dahingehend, dass er sich keineswegs dafür aussprechen will, "Leistungsbilanz" und "Investitionsklima" dem "Zufall" oder die Schulen der "Seuche" zu überlassen. Das Gemäkel der SZ-Korrespondentin von 2003 verließ sich vielmehr - wie schon der Spiegel-Autor zehn Jahre davor, der auch nicht für freies Spucken plädieren wollte -, instinktsicher darauf, dass die geneigte Leserschaft solche Andeutungen und Bilder schon irgendwie richtig versteht bzw. dass die aufgezählten oder vermuteten Abweichungen vom Prozedere westlicher Demokratien allemal eine Skepsis rechtfertigen, die nicht weiter ausgeführt werden muss.
Diesem Maßstab der Abweichung, den man noch aus den Systemvergleichen zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes kennt, gilt das Gleiche nicht als dasselbe, und wenn etwas anders ist, liefert es damit schon ein Verdachtsmoment. Die Parteilichkeit mit der staatlichen und nationalen Sache und ihren vorherrschenden Interpretationen liefert die hinreichende Sicherheit in diesem Verfahren. Dessen intellektueller Nachteil besteht freilich darin, dass man die Beurteilung eines politischen Gegenstandes mit seiner interessierten Deutung verwechselt, also zielsicher verfehlt. In diesem Sinne hätte die zitierte Journalistin wenigstens im Nachhinein und zu ihrer Beschämung bemerken können, wie schief sie mit ihrer Betrachtung der Singapurer Gesundheitspolitik gelegen hat, die heute als weltweites Vorbild gilt.
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Anfang 2020 wütet ein zweiter Coronavirus, der zuerst die VR China heimsucht und die dortige SZ-Korrespondentin am 27. Januar zu folgender Stellungnahme veranlasst:
China hat im Kampf gegen das Coronavirus mehr als 50 Millionen Menschen unter Quarantäne gestellt. Dass die Weltgesundheitsorganisation diesen schweren Eingriff in die Freiheitsrechte von Millionen ohne Weiteres unterstützt, ist eine Schande. Niemand will gerne krank werden. Aber China ist in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen, weil die Menschen kein Mitspracherecht haben. […] Kaum ein Experte hält die Isolation einer Stadt für hilfreich. Bei einer Quarantäne isoliert man Kranke, um gesunde Menschen zu schützen. Nun leben die Menschen eingepfercht in einer Stadt, in der die Lebensmittel knapp werden. Sie wissen nicht, wann ihre missliche Situation endet. Die Quarantäne war zudem nicht der letzte Ausweg. Peking hat die Abschottung genutzt, um Handlungsfähigkeit zu beweisen; als sie verhängt wurde, war der Ausbruch drei Wochen her. Es gab in Asien bereits zahlreiche Fälle. Die Quarantäne über Wuhan kam viel zu spät. Die Entscheidung hat zu Panik geführt. Sinnvoll wäre es gewesen, die Menschen aufzufordern, zu Hause zu bleiben. Nun stürmen sie die Krankenhäuser, weil sie nicht mehr einschätzen können, wie gefährlich das Virus wirklich ist. Die Isolation hat die Menschen nicht geschützt. Sie hat sie in Gefahr gebracht.
SZ vom 27. Januar 2020
Der Zeitraffer, der mit der exponentiellen Ausbreitung von SARS 2 in den acht Wochen seit dieser journalistischen Interpretation des Vorgangs einherging, macht es nicht mehr nötig, sie im Einzelnen durchzugehen. Offenbar hat sich die SZ-Autorin nach Art ihrer Vorgängerin in Singapur dazu entschieden, ihren der Sache nach disparaten Gesichtspunkten zu folgen.
Das heute europa- und weltweit praktizierte Social Distancing deutete sie also im Falle Chinas erstens als "schweren Eingriff in die Freiheitsrechte von Millionen", den zweitens "kaum ein Experte für hilfreich hält", der offenbar unnötig war, aber drittens zugleich "viel zu spät" kam bzw. "nicht der letzte Ausweg" war, daher "die Menschen in Gefahr gebracht" hat. Viertens sollte er bloß "Pekings Handlungsfähigkeit beweisen" - ein Vorwurf, den auch die Ostasien-Korrespondentin der FAZ schon erhoben hatte:
In Zeiten des Coronavirus treten der Kontrollwahn, die Paranoia und die politischen Mechanismen des Apparats noch deutlicher zutage als sonst. Wegen der Epidemie müssten jetzt die Personalien aller Auswärtigen erfasst werden, erklärt der [chinesische] Polizist.
Faz vom 17.2.20
Der Frankfurter Kollege des chinesischen Polizisten hält in völligem Unterschied zu so einer paranoiden Tat die Namen und Vorhaben der Flugreisenden fest, die noch ins Land kommen. Würde die freie Journalistin der bayerischen Staatsregierung eine ähnliche Absicht unterstellen, die gerade über Zwangsrekrutierungen nachdenkt?
Die Frage, was solche - durch die Corona-Krise nun offenbar werdende - Fehlurteile hervorbringt, ist mit dem Stichwort der ideologischen Parteilichkeit schon beantwortet. Zu dieser gehört natürlich ihre öffentliche Anleitung durch die politischen Entscheidungsträger, die mit ihrer anfänglichen Haltung, sich von einem "Infektionsgeschehen nach Art der üblichen Influenza" weder das Wachstum noch die Freiheit verhageln zu lassen, die nötige "Sicherheit" dafür stifteten, das Geschehen in China journalistisch als ein für Diktaturen typisches einzuordnen. In den Worten einer slowenischen Zeitung:
Die drastischen Maßnahmen […] zeigen, dass der Ausbruch des Coronavirus ein perfektes Alibi für Peking ist, die Loyalität der Bürger und die Effizienz der Medienkontrolle über die Bevölkerung zu testen.
Portal Plus 29.1.20
Im Umkehrschluss titeln zwei skandinavische Blätter allen Ernstes "Auch bei Viren hat die Demokratie Vorteile" bzw. "Demokratien sind resistenter", weil "die Offenheit der demokratischen Gesellschaft mit Entscheidungsträgern, die auf freie Medien und Bürger reagieren, unschlagbar" sei (Expressen 6.2.20 bzw. Helsingin Sanomat 8.2.20). Und ein französischer Leitartikel denkt schon erwartungsvoll weiter:
Die Angelegenheit könnte das Aus für das "chinesische Modell" bedeuten, das sich dank seines unverschämten Wirtschaftswachstums als Alternative zum US-Einfluss exportieren wollte. Wer möchte sich nunmehr ein Beispiel am Fiasko um das Coronavirus nehmen?
Le Figaro 7.2.20
Nicht alle Journalisten schreiben so und ihre Freiheit lässt oder ließe ihnen andere Möglichkeiten. Was die zitierten Meinungsbildner angesichts der tödlichen "Fiaskos" in den Muster-Demokratien Italiens, Spaniens, Deutschlands oder der USA an ihren vollmundigen Worte von vor sechs Wochen zurücknehmen, wird man sehen. Dass nach der Corona-Krise vieles nichts mehr so sei wie davor, hört man allerorten, was immer das heißen mag. Wenn wenigsten bemerkt und erinnert würde, dass - und noch besser - warum den professionellen Interpreten derselben derartige Vor-Urteile unterlaufen sind, wäre schon etwas gewonnen.